Von Orhan Akman und Frédéric Fritz Schmalzbauer
Die Gewerkschaften befinden sich in einer tiefgreifenden Legitimationskrise. Mitgliederverluste, mangelnde Tarifbindung, die Unfähigkeit, deregulierte Arbeitsformen in einen solidarischen Zusammenhang einzubinden, gehen mit einem politischen Bedeutungsverlust einher. Zur Krise der Strukturen gesellt sich die Krise des Bewusstseins in der arbeitenden Bevölkerung. Damit stellt sich unter anderem die grundsätzliche Frage nach Aufgabe und Ziel der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit.
Am Anfang war der Streik
Gewerkschaften sind als »ökonomischer Hebel« neben Parteien, Genossenschaften und Selbsthilfeorganisationen (Krankheit, Invalidität) eine organisierte Antwort auf die Ausbeutung unter kapitalistischen Bedingungen. Aus der Notwendigkeit, das verelendete Leben trotzdem menschenwürdig zu gestalten, entstehen radikale Gesellschaftsentwürfe einer »gerechten« Welt, die Kämpfe ums Dasein erzwingen organisierte Strukturen. Die »Tat« (Goethe) ist zwar entscheidend, kommt aber ohne »Wort, Sinn und Kraft« nicht aus. Bildung als Voraussetzung und Ergebnis der Tat: Worte, geeignet, die Tat zu befeuern, der Sinn, die Orientierung im Handeln und schließlich die Kraft, in der Konsequenz der Streik, um den Lohn und die Arbeitsbedingungen vertraglich zu sichern. Zigarrenmacher und Drucker, eine besser gebildete Schicht der neuen Klasse, erringt kollektive Tarifverträge, zeitlich begrenzte Friedensverträge mit den Kapitaleignern. Notwendige Bedingung für Erfolge: die durchsetzungsfähige Zahl bewusst Handelnder, im Notfall durch eine »Kriegskasse« abgesichert und die Fähigkeit ihrer Beauftragten, mit den Betroffenen erfolgversprechende Schritte zu beraten und zu gehen. Frei nach Antonio Machado: »Wanderer, es gibt keinen Weg, der Weg entsteht im Gehen …«
Von Anfang an wurde von den Herrschenden und dienstfertigen Staatsorganen die »Koalition« der Arbeitenden bekämpft oder eingeschränkt. Ob Otto von Bismarck (»Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie«), der Sozialdemokrat Friedrich Ebert (Entmachtung der Betriebsräte durch das »Betriebsrätegesetz« von 1920), die Vernichtungsstrategie des Naziregimes oder die in dieser Ideologie wurzelnde »höchstrichterliche« Rechtsprechung gegen den politischen Streik (1952, Zeitungsstreik gegen die von der Adenauer-Regierung beabsichtigte Rolle der Betriebsräte als Bittsteller): Bis heute dauert in Deutschland der Widerspruch zwischen grundgesetzlich verbürgtem Recht und dessen Einschränkung (Streikverbot für Beamte, politischer Streik) an.
In der Summe gibt es keinen Zweifel: Gewerkschaften, die eigenständig und selbstbewusst die Interessen der Arbeitenden bündeln und darüber hinaus politische Ansprüche anmelden (Demokratisierung der Wirtschaft, soziale Mindestsicherungen, gesunde Arbeits- und Lebensbedingungen, Mitsprache und Mitgestaltung bei den Zukunftsthemen der Arbeit wie »künstliche Intelligenz«, Digitalisierung und Automatisierung, Fragen von Krieg und Frieden), sind den politischen Parteien, die sich längst als Interessenvertreter der Arbeitenden abgemeldet haben, ein Dorn im Auge, für die arbeitende Bevölkerung aber unverzichtbar.
Um auch im täglichen Kampf gerüstet zu sein, braucht es in den Gewerkschaften geeignetes Wissen, gepaart mit der Überzeugung, dass die herrschenden Verhältnisse »nach wie vor« (DGB) überwunden werden müssen. Wissen und Überzeugung sind in der Summe: notwendige politische Bildung.
Tarifverträge und Krise
In Tarifverträgen drückt sich zweierlei aus: Die Kampffähigkeit und Konfliktbereitschaft im Betrieb und in der Branche sowie die Fähigkeit derer, denen Führungsaufgaben übertragen wurden. In jedem Fall spielt das Bewusstsein (sich seiner Lage bewusst zu sein) eine entscheidende Rolle, um mit Tarifverträgen die Lohnkonkurrenz zwischen abhängig Beschäftigten abzuschaffen. »Einschätzungen« müssen »stimmen«, und zwar kurz- und längerfristig. (Freut sich beispielsweise der Verdi-Vorsitzende Frank Werneke über, erfreulichen Mitgliederzuwachs, ist es nur legitim, wenn gleichzeitig das Gesamtbild in Betracht gezogen und die Krise der Gewerkschaften nicht ignoriert wird.) Andernfalls wird die Organisation, werden »die Mitglieder« desorientiert, wird der strukturelle Machtverlust der Gewerkschaft ignoriert. Diese Ignoranz vertieft die vorhandene Vertrauenskrise, die es bereits seit längerem zwischen den abhängig Beschäftigten und den Gewerkschaftsapparaten gibt.
Das gilt in gleicher Weise für alle Gewerkschaften, wenn auch in branchenmäßig unterschiedlicher Ausprägung. Voraussetzung ist Analyse- und Bildungsbereitschaft – insbesondere im Führungspersonal. Wesentlicher Ausgangspunkt jeder längerfristigen Einschätzung ist die Ein- und Voraussicht in die »Lage der arbeitenden Klassen« (Friedrich Engels über die englische Arbeiterschaft seiner Zeit): Reichen die Löhne aus, um ein menschenwürdiges Leben als einzelner oder in der Familie zu gestalten? Sind die Arbeits- und Lebensbedingungen »erträglich«, machen sie krank oder erschweren sie das Leben »über Gebühr« (Vollzeit, Teilzeit, Minijob, Beginn und Ende der Arbeitszeit, Arbeitsinhalt, veränderte Formen der Arbeit …)? Wie verteilt sich der »Mehrwert«?
Die Gewerkschaften befinden in der Krise, stehen vor einem Mitglieder- und Bedeutungsverlust (nicht einmal 13 Prozent der in Deutschland vom Arbeitslohn Abhängigen sind Mitglied einer Gewerkschaft). Die Tarifbindung der Unternehmen umfasst in Westdeutschland nur rund 53 Prozent, in Ostdeutschland gerade einmal 43 Prozent. Zum Vergleich: 2001 waren es in Westdeutschland noch 71 Prozent, in Ostdeutschland 56 Prozent. In diese Statistiken geht die verelendende Selbständigkeit (Lieferdienste etc.) nicht ein.
Im Mai 2023 waren 45,7 Millionen Menschen erwerbstätig. Das entspricht einer Quote von 76,9 Prozent und ist damit historisch hoch. Historisch niedrig ist hingegen die Anzahl der Gewerkschaftsmitglieder. Während sich 11,8 Millionen Arbeitende im Jahr 1991 in den DGB-Gewerkschaften organisierten, waren es Ende 2022 nur noch rund 5,6 Millionen. Damit ist die Krise der Gewerkschaften in Deutschland keineswegs mit konjunkturellen Entwicklungen zu erklären.
Die unterschiedlichen Bereiche der Bildungsarbeit (Funktionärsbildung, Mitgliederbildung, Betriebs- und Personalrätebildung, Bildung der Jugendvertretungen in den Betrieben und Dienststellen, Bildung der Schwerbehindertenvertretungen) sind ein Spiegel der Gesamtsituation. Seit der Reform der Betriebsverfassung 1972 hat sich die Gewichtung von der Funktionärs- und Mitgliederbildung mit stärkerem politischem Akzent auf die »Fortbildung« von Betriebsräten – in Konkurrenz zu beliebigen Bildungsunternehmern – und deren »verrechtlichte« Sicht der betrieblichen Handlungsmöglichkeiten verlagert. Das »Bewusstsein« endet in dieser Logik leicht in der Einigungsstelle samt Sozialplan und lässt sich vom gewerkschaftlichen Handeln, also der Streikfähigkeit und den politischen Handlungsfeldern, isolieren.
Dass der desolate Zustand der Bildungsarbeit auch zur Salonfähigkeit extrem rechter Auffassungen unter Teilen der Gewerkschaftsmitglieder beiträgt, ist zu vermuten, weil es nicht auf die Schriftform, sondern die Orientierung und Präsenz durch »Meinungsführerschaft« im Betriebsalltag ankommt. Je weniger geschulte Vertrauensleute und aktive Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter, desto geringer die »Aufklärung« im Betrieb. Ein 20 Jahre alter Studienabschlussbericht der FU-Sozialwissenschaftler Richard Stöss, Michael Fichter, Joachim Kreis und Bodo Zeuner notiert: »Auffällig ist der starke Ost-West-Unterschied bei nahezu allen soziopolitischen Orientierungen: Die Orientierungen, die den Nährboden für Rechtsextremismus bilden, sind in Ostdeutschland wesentlich häufiger anzutreffen als in Westdeutschland.« Gleichzeitig beweisen die Studienergebnisse die Immunität gewerkschaftlich geschulter Funktionsträger für rechtsextreme Parolen.¹ Deregulierung (keine Tarifbindung) und mangelnde Präsenz aufklärender Funktionsträger erklären also zum Teil eine Neigung von Gewerkschaftsmitgliedern und generell abhängig Beschäftigten zu Positionen der extremen Rechten.
Unverzichtbare Organisation
Solange Menschen gezwungen sind, ihre Arbeitskraft »zu verkaufen« – ob an den privaten Besitzer der Produktionsmittel oder den Staat –, brauchen sie eine organisierte Kraft, brauchen sie ihre grundgesetzlich verbürgte »Koalition« zur Durchsetzung der Interessen. Weder Metternich noch Bismarck noch den Nazis ist es gelungen, Gewerkschaften auf Dauer zu vernichten. Das gilt weltweit: In Großbritannien zum Beispiel haben die Gewerkschaften Margaret Thatcher überlebt. Doch keine Generation kann sich auf einen Geschichtsmechanismus verlassen, jede benötigt Menschen, die zur bewussten Tat bereit sind: »aktive Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter«, die im Betrieb, am Arbeitsplatz klug und konsequent für die nur gemeinsam mögliche Sache werben, Leute, die Fragen »konkret stellen« (Brecht). Dem ersten Schritt, dem Beitritt zu einer »Koalition«, muss ein Angebot entsprechen, das den zweiten Schritt, das bewusste Mitwirken im Betrieb und in der Organisation, möglich macht.
Zu Recht weist ein Sprecher der DGB-Verkehrsgewerkschaft EVG auf den Zusammenhang von Mitgliedergewinnung und gewerkschaftlicher Aktion hin: »In der Regel sorgen Tarifauseinandersetzungen immer für Mitgliederzuwächse.« Umgekehrt kann gefragt werden: Wie viele Chancen sind von den aktuellen Führungen der Gewerkschaften vertan worden, um den Menschen Mut zur Mitgliedschaft zu machen? Welche »Strukturen« hinderten die Gewerkschaftsführungen daran? Fallen »veränderte Strukturen« – Deregulierung der Arbeitsverhältnisse, Tarifflucht, Orientierungsmangel etc. – vom Himmel oder sind sie politisch gewollt?
Wo war die von den Führungen initiierte Gegenwehr gegen den bedingungslosen Ausverkauf der DDR (Tarifflucht, Privatisierung gesellschaftlichen Eigentums), gegen die neoliberale Rückwärtswende unter der »rot-grünen« Regierung von Gerhard Schröder und Joseph Fischer, gegen den Raub an Rentenbeziehern, wo der Widerstand gegen die Aufgabe des gesellschaftlichen Vorranges vor dem Privateigentum, wie im Vertrag von Lissabon zwischen den EU-Mitgliedstaaten festgehalten?
Warum haben wesentliche Führungsfunktionäre der Gewerkschaften bei der Erhöhung des Renteneintrittsalters, bei der »Agenda 2010«, bei der Einführung von »Ein-Euro-Jobs« und vielem mehr nicht dagegen mobilisiert, sondern zugunsten dieser arbeiterfeindlichen Politik geschwiegen?
Kurz: Politische Entscheidungen, in denen gewerkschaftliches Führungspersonal eingebunden war, haben maßgeblich zu Strukturen beigetragen, die den Gewerkschaften »das Leben schwer machen«. Sind darüber hinaus die inneren Strukturen der Gewerkschaften den herrschenden Verhältnissen (national, international) überhaupt noch gewachsen? Wo ist die Mobilisierung zum Widerstand gegen die allgemeine Verteuerung des Lebens, der kriegerischen Außenpolitik, der Aufrüstung – so wie in den Satzungszielen der Gewerkschaften verankert? Wo ist die allgemeine Debatte zum politischen Streik heute? Zur Erinnerung: 1920 hatte ein Generalstreik die Weimarer Republik gerettet! Was wird durch diese Sprach- und Tatenlosigkeit rechtsextremen Deutungen überlassen?
Gewerkschaften, die sich weder der gesellschaftlichen Krise noch der internen Schwerfälligkeit stellen, bewirken Desorientierung und schwächen die abhängig Beschäftigten. »Das Mitglied« muss in einer demokratischen Organisation in der Lage sein, auf die Führung Einfluss zu nehmen. Dazu muss man »wissen, um zu handeln« (Titel gewerkschaftlicher Bildungsarbeit): Bildung – lies: Aufklärung! – bewirkt die Bereitschaft zur gezielten Tat.
Ein Hebel zur Veränderung?
Kritische Bildungsarbeit ist notwendig, muss schonungslos formulieren können und von den Führungen ernst genommen werden. Sie stößt »naturgemäß« auf massiven Widerstand aller, die sich in den Verhältnissen »eingerichtet« haben. Eigenständiges Denken und selbstständige Schlussfolgerungen kann man nicht »outsourcen«. Wer Ursachen und Zusammenhänge außer acht lässt, das Ganze ignoriert, kann auch im einzelnen nicht orientieren. Das aber ist vom Betrieb bis zu den »Spitzen« die unabdingbare Voraussetzung für notwendige Änderungen, um die eigene Kraft zu stärken, die ureigensten Aufgaben (Schutz und Gestaltung) wahrzunehmen und Krisen zu verstehen und diese erfolgreich zu überwinden.
Eine von den Organisationen isolierte Bildungsarbeit ist ebenso wirkungslos wie die Reduzierung der Welt auf Paragraphen. Steckt der Teufel im Detail, dann scheint er sich vor allem im Paragraphenwald wohlzufühlen. Seine unmittelbaren Ministranten – von löblichen Ausnahmen abgesehen – sind die Juristen. Ihnen ist nicht nur der Kapitalismus, sondern sind auch die möglichen Konflikte in der Arbeitswelt ein Geschäftsmodell, nötigenfalls ein klug durchgerechneter »Interessenausgleich« samt »Sozialplan«. Weitergehende Aktionen, etwa Betriebsübernahmen von denen, die durch ihre Arbeitskraft den Betrieb erst ermöglichen, werden dadurch »illusorisch«. »Strukturen«, »Verhältnisse« sind nicht naturwüchsig, dienen aber den »Eingerichteten« als Vorwand, die eigenen Schwächen zu kaschieren. Man kann sich dahinter bequem verstecken: Man wolle »ja gerne, aber … und … im übrigen … – nun ›zur Sache‹«.
Gewerkschaftliche Bildungsarbeit, die politische, ökonomische, soziale, und historische Einsichten vermitteln hilft und vorausschauend orientiert, hat nur eine Chance in einem allgemeinen, notwendigen, gewollten Veränderungsprozess zur Überwindung der Krise in der Organisation und der Gesellschaft. Sie ist das »Salz in der Suppe«. »Bilden« aber kann nur, wer selbst gebildet ist; erschüttern nur, wer erschüttert ist – und überzeugen nur, wer überzeugt ist. Das führt zu der Frage nach der »Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte« (Georgi Plechanow). Auf die Funktionsfähigkeit einer Gewerkschaft angewendet (allein Verdi beschäftigt mehr als 3.800 Menschen) gelangt man zur Frage handelnder, beauftragter Personen und ihrer Wirksamkeit, zum Beispiel einer Bildungsarbeiterin, eines Gewerkschaftssekretärs oder beides in einer Person. Die menschliche Eigenschaft, Geist und Tat zueinander zu bringen, setzt sowohl Geist (Bildung, Wissen, Standpunkt) voraus als auch den Willen, auf die Verhältnisse einzuwirken. Das macht niemand, ohne eine »gesellschaftliche Persönlichkeit« zu sein, von ihrer Zeit und ihren Bedingungen geformt, aber bereit, sie zu beeinflussen, zu verändern. Es beinhaltet zugleich eine wichtige Option: aus der Kritik heraus Lösungsoptionen, Vorschläge zu erarbeiten – und setzt die Erkenntnis voraus, dass sich in der Betriebs- und Bildungsarbeit gesellschaftlich bestimmte Menschen mit konkreten Interessen wiederfinden und die »geistreiche« Tat allein zunächst darin besteht, deren Anliegen »zur Sprache« zu bringen und dann Handlungsoptionen aufzuzeigen.
Bildung bewahrt darüber hinaus vor »Enttäuschungen«. Nur wer sich zum Beispiel vom derzeitigen Zustand der Sozialdemokratie oder der Bündnisgrünen täuschen lässt, riskiert ein Gefühl der Ohnmacht oder sucht obskure Erklärungen, die sowohl die Herrschenden als auch das Dickicht der »sozialen« Medien bereithalten. Begreift man Gewerkschaften dagegen als die einzige »Klassenorganisation« der Menschen, die aus Lohnarbeit ihr Leben bestreiten, entsteht ein Bewusstsein von Veränderbarkeit, einer solidarischen Perspektive, und damit ein Anspruch, dem Gewerkschaften in Form und Inhalt entsprechen müssen.
Trotz alledem
1989 »implodierte« die DDR, bald darauf alle an die Sowjetunion gebundenen Staaten. Der US-Politologe Francis Fukuyama glaubte damals, das »Ende der Geschichte« erblickt zu haben. Die (westdeutschen) Gewerkschaften erlebten einen enormen Zuwachs von den organisationsgewohnten Bürgerinnen und Bürgern der DDR. Doch die »Feier« war bald beendet, und Brecht ist mit seiner Warnung zeitgemäß: »Zieht nun in neue Kriege nicht … / Als ob die alten nicht gelanget hätten«.
Das Staatsgebiet der DDR wurde weniger zu »blühenden Landschaften« als vielmehr zum Exerzierplatz neoliberalen Wildwuchses. Nicht nur Lenin wurde, auch Marx und Engels und selbst der an allem unschuldige Keynes (und mit ihm die regulierende Rolle der Gewerkschaften) wurden, so gut es geht, vergessen und verdrängt. Die Wirkung auf das gesellschaftliche Bewusstsein war »nachhaltig«. Die demokratische Weiterentwicklung »in Wirtschaft und Gesellschaft« wurde (und wird) als »unrealistische Utopie« diffamiert, deren Vertreter in der Bildungsarbeit von denen in die Ecke gedrängt, die den Tunnelblick auf Paragraphen bevorzugen.
In diesem Umfeld richteten sich 2001 fünf Gewerkschaften unter einem Dach ein, es entstand Verdi als mitgliederstärkste Gewerkschaft. Mitgliederverlust bis heute: rund eine Million Menschen. Der damalige Vorsitzende Frank Bsirske vermutete als Startkapital rund 300.000 Karteileichen. Die Besitzstandswahrung der einzelnen Organisationen (Posten, »Ebenen«) führte zu einer schwer durchschaubaren Organisation, und Bildungsarbeit wurde zunächst den Funktionären der ehemaligen Deutschen Angestelltengewerkschaft (DAG) übertragen. Ein Urteil des Verbots der »Gegnerfinanzierung« legitimierte darüber hinaus das Abtrennen der Betriebsrätebildung von der Willensbildung in den Gremien der Organisation. In dem Top-down-Prozess der Verdi-Gründung gerieten ehrenamtliche Gremien überwiegend zu Legitimationsstaffagen, innergewerkschaftliche Demokratie und Beteiligung wurden erschwert und instrumentalisiert. Vor diesem Hintergrund wäre der Vermutung nachzugehen, dass die Vernachlässigung und Entpolitisierung der Bildungsarbeit ihren Teil zum Rückgang der Mitgliederbindung beigetragen hat.
»Trotz alledem« waren und sind punktuelle Erfolge, auch in der Bildungsarbeit »über den Tellerrand hinaus«, möglich, wie Einzelbeispiele belegen, aber eben nicht hinreichend, um der Krise der Gewerkschaften entgegenzuwirken. Aus der objektiven Interessenlage der Menschen, die aus dem Verkauf ihrer Arbeitskraft ihren Lebensunterhalt bestreiten, sind Gewerkschaften heute ebenso nötig wie in ihren Anfängen. Dabei kommt es entscheidend darauf an, was in Gewerkschaften »gedacht und getan« wird.
Gelingt ein geeigneter Reformprozess, der, je nach Branche, mehr Menschen ein attraktives Angebot machen kann oder reduziert man sich auf die (durchaus komfortable) Verwaltung des Mangels bestehender Strukturen und auf ein Personal, das überwiegend legitimiert, aber nicht kritisiert? Werden Gewerkschaften ihrem Anspruch gerecht, entwickeln sie Kampfformen, die den Gegner zu Zugeständnissen zwingen, statt Ausbeutung mit dem Angebot der »Sozialpartnerschaft« zu beschwichtigen? Ist die kleinteilige Zersplitterung von Tarifverträgen in vielen Branchen noch zeitgemäß oder müssen größere Räume – auch über die Grenzen von Nationalstaaten hinweg – der Auseinandersetzung, muss solidarische Einheitlichkeit geschaffen werden? Wie nahe müssen hauptamtliche, »politische« Sekretärinnen und Sekretäre am Mitglied, im Betrieb sein und in der Bildungsarbeit eine gemeinsame Verständigung zwischen gewerkschaftlichem Handeln und subjektiven Auffassungen herbeiführen? Wie muss das Profil derer beschaffen sein, die solche Aufgaben zu erfüllen verpflichtet sind, wie steht es um deren Lernbereitschaft? Nehmen Gewerkschaften ihr politisches Mandat konsequent in Anspruch, auch wenn »nahestehende« Parteien regieren und für die große Bevölkerungsmehrheit unerträgliche Belastungen beschließen? An der Lösung dieser und weiterer Fragen wird sich zwar nicht die Notwendigkeit, aber die Wirksamkeit der Gewerkschaften und ihrer Bildungsarbeit entscheiden.
Anmerkung
1 Richard Stöss, Michael Fichter, Joachim Kreis, Bodo Zeuner: Abschlussbericht des Forschungsprojekts »Gewerkschaften und Rechtsextremismus«. Kapitel D: »Soziopolitische Orientierungen und Rechtsextremismus«, Berlin 2004, S. 195–263
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Die Autoren sind Mitglieder der Gewerkschaft ver.di und seit vielen Jahren im gewerkschaftlichen Bildungsbereich tätig.
Der Beitrag erschien in der Tageszeitung junge Welt und wird hier mit freundlicher Genehmigung der Autoren gespiegelt. Bild: