Knapp zwanzig Jahre nach Einführung von Hartz IV wird der deutsche Sozialstaat reformiert. Und zwar nicht nur ein bisschen. Darauf legt die SPD jedenfalls großen Wert. Wie gut, dass manche daran denken, was das für sie bedeutet: „Süddeutsche Zeitung: Herr Heil, kaum eine Reform wurde im Land so kontrovers diskutiert wie Hartz IV, kaum eine hat der SPD so geschadet. Viele Sozialdemokraten hatten das Gefühl, der Neoliberalismus sei in ihre Partei und in ihr Land eingefallen… Die SPD hat dadurch den Ruf verloren, die Partei der kleinen Leute zu sein. Die Hartz-Gesetze haben viele Genossen wütend gemacht, so entstand überhaupt erst die Linke… Offensichtlich konnte sich die SPD vom Hartz-IV-Fluch nur lösen, indem sie etwas Neues erfand.“ (SZ-Interview mit Bundesminister für Arbeit und Soziales Hubertus Heil, 24.11.22)
Ja, was hat die SPD sich da angetan – die Partei, die über Deutschlands Arbeitslose das berühmt-berüchtigte soziale Betreuungsregime verhängt hat? Und was gesteht diese Partei eigentlich über ihr damaliges Werk ein, wenn sie sich nun nach eigener Auskunft daranmacht, es im großen Stil umzukrempeln? Bei der zweiten Frage denkt ein verantwortungsbewusster Journalist auch im größeren Rahmen: „Nun ist Hartz IV bald Geschichte. War es letztlich denn gut für Deutschland?“ (Ebd.)
Ja, wie verfährt die Nation mit der Betreuung ihrer unteren Schichten? Hat es wenigstens ihr was gebracht? Eine dankbare Vorlage für den Minister, eine kompetente Einordnung des Geschehens zu bieten: „Heil: Wir hatten damals fünf Millionen Arbeitslose, die Lage war dramatisch. Es war richtig, damals eine große Reform anzugehen, die den Abbau der Arbeitslosigkeit zum Ziel hatte, und den damaligen Zustand nicht so zu lassen. Heute passt das System nicht mehr in die Zeit. Wir haben eine ganz andere Lage am Arbeitsmarkt – wir haben deutlich weniger Arbeitslose, dafür einen chronischen Mangel an Arbeits- und Fachkräften –, sodass wir andere Instrumente benötigen. Zudem war es Zeit, das System zu modernisieren und eine neue Tonalität einzuführen.“ (Ebd.)
Eine dankbare Vorlage für den Minister, eine kompetente Einordnung des Geschehens zu bieten: „Heil: Wir hatten damals fünf Millionen Arbeitslose, die Lage war dramatisch. Es war richtig, damals eine große Reform anzugehen, die den Abbau der Arbeitslosigkeit zum Ziel hatte, und den damaligen Zustand nicht so zu lassen. Heute passt das System nicht mehr in die Zeit. Wir haben eine ganz andere Lage am Arbeitsmarkt – wir haben deutlich weniger Arbeitslose, dafür einen chronischen Mangel an Arbeits- und Fachkräften –, sodass wir andere Instrumente benötigen. Zudem war es Zeit, das System zu modernisieren und eine neue Tonalität einzuführen.“ (Ebd.)
Das Eingeständnis eines großen Fehlers lässt sich Heil nicht so leicht entlocken. Warum auch? Sein Ziel wurde ja erreicht: Der deutsche Arbeitsmarkt ist entkrustet. Er hat beeindruckend kleine Arbeitslosenzahlen vorzuweisen, nicht zuletzt dank eines stolzen und weiter wachsenden Niedriglohnsektors: ein breites Spektrum von flexiblen Beschäftigungsformen, die in früheren Zeiten in die Schmuddelecke des Hotel-, Gaststätten- und Baugewerbes verbannt waren, wo Tagelöhnerei schon immer Usus war. Die vielen Arbeitslosen, vormals für die kapitalistische Bereicherung auf dem deutschen Standort für nachhaltig überflüssig erklärt, sind nach und nach in den Genuss von Arbeitsverhältnissen gekommen, die heute ganz normal „Beschäftigung“ heißen. Die Leute selbst nennt man zwar „Prekariat“; sie mögen sich mit Billiglöhnen und sehr dynamischen Arbeitszeiten abmühen, um die sie keiner beneidet; sie mögen sich in der Kunst üben, von einem Lohn zu leben, von dem es heißt, man dürfe gar nicht erst den Maßstab anlegen, ob er das auch hergibt. Aber sie versuchen es.
Sodass auf jeden Fall feststeht, dass sie nun in allen Sektoren des Arbeitsmarkts, auch in den feineren Wachstums- und Zukunftsbranchen, ihren Beitrag zum deutschen Wachstum leisten: „Gut jede und jeder fünfte abhängig Beschäftigte (21 %) in Deutschland arbeitet im April 2021 im Niedriglohnsektor. Damit wurden rund 7,8 Millionen Jobs unterhalb der Niedriglohnschwelle von 12,27 Euro brutto je Stunde entlohnt.“ (Statistisches Bundesamt)
Auf so etwas kann eine selbstbewusste Reformpartei also stolz sein: den Pauperismus für die Bedürfnisse des nationalen Wachstums funktional gemacht zu haben. [1] Ausruhen kann sie sich darauf offenbar nicht. Die Zeiten ändern sich eben; der Betreuungsbedarf des Staates ist darüber nicht kleiner geworden. Der deutsche Sozialstaat muss seine Klientel jedenfalls besser als bisher zurechtmachen, offenbar sogar besser behandeln. Wie – das kommt darauf an.
I. Die Reform
Wo die Regierung dem bisherigen Regime kontraproduktive Wirkungen attestiert, greift sie korrigierend in die Elendsbetreuung ein. Das ist vor allem in Bezug auf verbleibenden Langzeitarbeitslosen der Fall: „Der Arbeitsmarkt ist insgesamt in einer guten Verfassung. Die Zahlen zeigen aber auch, dass Langzeitarbeitslose von dieser positiven Entwicklung oft nicht profitieren können.“ (Gesetzentwurf) „Ja, wir haben immer noch einen verfestigten Sockel von Langzeitarbeitslosigkeit. Aber wenn man sich anschaut, woran das liegt, sieht man, dass zwei Drittel der langzeitarbeitslosen Menschen keine abgeschlossene Berufsausbildung haben. Das bisherige System führt dazu, dass diese Menschen dann hin und wieder mal in Hilfstätigkeiten vermittelt werden, das Jobcenter sie aber oft nach einigen Monaten oder Jahren wiedersieht.“ (H. Heil im Bundestag, 13.10.22) „Das Bürgergeld schafft seit 1. Januar 2023 eine entscheidende Verbesserung: Der sogenannte Vermittlungsvorrang ist abgeschafft. Das bedeutet, dass Weiterbildung und Ausbildung nunmehr gegenüber einem Jobangebot wichtiger sind. Ziel ist, mit dann besserer Qualifizierung in eine dauerhafte und dann ggf. auch besser bezahlte Arbeit vermittelt zu werden. Somit kann Hilfebedürftigkeit und damit ein Bezug von Bürgergeld nachhaltiger überwunden und der sogenannte ‚Drehtüreffekt‘ vermieden werden.“ (bmas.de, FAQ zum Bürgergeld)
Etliche Langzeitarbeitslose können zwar arbeiten und dürfen das auch hin und wieder. So, wie sie beisammen sind, passen sie aber nicht – zu den modernen Jobs und ihren Anforderungen, in denen so etwas wie ein langfristiges Auskommen überhaupt vom Kapital zu haben ist. Am sich dadurch einstellenden „Drehtüreffekt“, so die Selbstkritik, trägt das überkommene Sozialstaatsregime eine Mitschuld: Das ehemalige Leitprinzip, Hartz-IV-Empfängern jeden zumutbaren, also so gut wie jeden Job zuzumuten, sie in schlecht bezahlte, befristete Stellen ohne Qualifikationsanforderungen zu vermitteln, sie dafür oftmals sogar aus ihren laufenden Aus- und Weiterbildungen herauszuholen, hat im Rückblick leider auch dazu beigetragen, dass ihr Erwerbsleben dann genau so aussieht. Das strenge Zwangsprinzip, das im Hartz-IV-System heilsame Kräfte zur Verringerung der Massenarbeitslosigkeit entfaltet hat, kommt den Reformern hier überaus höflich als „Vermittlungsvorrang“ in Erinnerung, der jetzt zugunsten eines anderen, viel zeitgemäßeren Vorrangs, dem Bildungsvorrang, abzuschaffen ist. Denn wer sich fleißig bildet, passt schließlich besser zu den Erfordernissen, die auf dem Arbeitsmarkt herrschen und kann – so die Hoffnung – gezielter seine Hilfebedürftigkeit „dauerhaft“ überwinden, die die Arbeitgeberseite, die mit ihren beständig neuen Anforderungen den Arbeitsmarkt überhaupt erst definiert, ihm ebenso dauerhaft beschert.
Die generöse Sozialpolitik unterstreicht noch einmal eigens, wie wichtig ihr das ist, und bietet Prämien für Durchhaltevermögen und gute Leistungen beim Lernen auf: „Wer eine Weiterbildung mit Abschluss in Angriff nimmt, bekommt für erfolgreiche Zwischen- und Abschlussprüfungen eine Weiterbildungsprämie. Zusätzlich gibt es ein monatliches Weiterbildungsgeld in Höhe von 150 Euro. Für andere Maßnahmen, die für eine nachhaltige Integration besonders wichtig sind, gibt es einen monatlichen Bürgergeldbonus von 75 Euro. Das fördert das Durchhalten dieser wichtigen Qualifizierungswege, die auf der Strecke erstmal kurzfristig weniger Geld als etwa ein Aushilfsjob bringen, langfristig aber gegen Arbeitslosigkeit absichern und den Arbeitskräfte- und Fachkräftebedarf sichern.“ (Ebd.)
Die Sozialpolitik weiß über die herrschenden Zustände eben gut Bescheid; nicht nur über den Fachkräftebedarf der Unternehmer, die stets nach fähigen Leuten suchen, und darüber, wie schlecht sie die Ausbildungsplätze, in denen die gefragten Fähigkeiten vermittelt werden, in aller Regel vergüten, sondern auch darüber, wie groß und dringlich die Notwendigkeit ist, auch die Grundsicherungsempfänger, die unterste Schublade der sozialstaatlichen Kundschaft, mit Bildung als Mittel einer vorausschauenden Anpassung an die Bedürfnisse des Kapitals zu beglücken und das ins Zentrum ihrer sozialen Gunst zu rücken.
Das gilt auch und insbesondere für den Unterfall einer Jugend, bei deren verfestigter Tendenz zur Jugendarbeitslosigkeit es der Minister mit einer besonders hartnäckigen Ausprägung seines Problems zu tun hat: „Das Beste ist, wenn man der Langzeitarbeitslosigkeit den Nachwuchs abgräbt. Wir haben 50 000 Schülerinnen und Schüler, die jedes Jahr die Schule verlassen ohne Abschluss. Und wir haben 1,3 Millionen Menschen im Alter zwischen 20 und 30 Jahren ohne Ausbildung. Deshalb müssen wir möglichst viele in Ausbildung bringen von Anfang an.“ (H. Heil im SZ-Interview, 24.11.22)
Der Mann geht glasklar davon aus, dass Langzeitarbeitslosigkeit sich fortpflanzt und schon die Jugend trifft, die noch gar keine lange Zeit nach der Schule hinter sich hat. Nach ihren Lebensperspektiven gefragt, geben viele Schüler gleich den Berufswunsch „Hartz IV“ an. Dass sich das soziale Elend einfach von Generation zu Generation weitervererbt, ist ein empirisch gut belegter, harter Brocken für die Sozialpolitik und natürlich ganz und gar nicht in deren Sinne. Der Minister macht sich nichts darüber vor, dass er es hierbei mit einer Sorte Verwahrlosung zu tun hat, an der das bisherige politische System der Elendsverwaltung aktiv mitgewirkt hat. Jedenfalls, wenn er an jene denkt, „die als junge Menschen in Familien groß geworden sind, die nie Arbeit erlebt haben, die sich aufgerappelt haben, eine Ausbildung zu machen, die im alten Hartz-IV-System erlebt haben, dass ihre Ausbildungsvergütung noch gekürzt wurde. Das macht das Bürgergeld besser.“ (H. Heil im Bundestag, 24.11.22)
Wenn der Minister über die schlechte Erfahrung mancher Jugendlicher aus dem deutschen Subproletariat redet, denen das erste selbstverdiente Geld am Ausbildungsplatz gleich vom Staat wieder abgenommen wurde, weil sie als Kundschaft seiner Grundsicherung eine familiäre Bedarfsgemeinschaft bilden, bei der quasi sämtliche Zuverdienste gegen den Hartz-IV-Satz aufgerechnet werden, legt er sich die Jugendarmut als ein politisch gut handhabbares und korrigierbares Problem zurecht.
An der Stellschraube der Freibeträge, auf die die Reformer sich an dieser Stelle verlegt haben, lässt sich immerhin glatt etwas tun und der politisch mitverursachte Teufelskreis durchbrechen: „Für Auszubildende, Schülerinnen und Schüler, Studierende und Bundesfreiwilligendienstleistende … gilt ab dem 1. Juli 2023 ein Freibetrag von 520 Euro, das heißt bis zu dieser Grenze wird das Einkommen nicht angerechnet.“ (bmas.de, FAQ zum Bürgergeld)
An anderer Stelle, mit Blick auf eine andere Klientel, sieht der Sozialstaat sich dazu veranlasst, anpassend an neue Realitäten in sein System einzugreifen: „Wir haben in der Corona-Zeit erlebt, dass Menschen auf Grundsicherung angewiesen waren, die nie gedacht hätten, dass sie diese einmal brauchen. Viele Soloselbstständige zum Beispiel – die dachten immer: das ist was für andere Menschen, die in zweiter, dritter Generation in Sozialhilfe oder in Grundsicherung sind – haben erlebt: Wenn es darauf ankommt, muss der Staat ihnen zur Seite stehen. Sie haben ein System erlebt, das in vielen Bereichen sehr bürokratisch ist. Wir haben Gott sei Dank entschieden, dass sie nicht ihr ganzes Erspartes und ihre Altersvorsorge auflösen müssen. Denn für Soloselbstständige ist es beispielsweise so, dass nicht ganz zu unterscheiden ist, was Betriebsmittel sind und was Erspartes ist und zur persönlichen Lebensführung dient.“ (H. Heil im Bundesrat, 14.11.22)
Wer hätte das gedacht! Die Betroffenen selbst angeblich nicht, aber die kriegen es ja jetzt freundlich von ihrem Minister mitgeteilt: Auch Akademiker und andere Mittelschichtler brauchen sozialstaatliche Armutsbetreuung. Ihre Abhängigkeit von staatlichen Überlebenshilfen ist die Kehrseite ihrer modernen Eigenständigkeit. Sie mögen früher in üblicherweise festen Jobs ihr festes Einkommen bezogen haben, sind inzwischen aber zunehmend in moderne Tagelöhner mit eigens dafür geschaffener Rechtsform verwandelt worden. Als solche sind sie früher oder später, bei kleineren Störungen im Solo-Betriebsablauf, ein Fall für die Grundsicherung. Dieser neuen Normalität deutscher Beschäftigungsverhältnisse will der progressive Sozialstaat sich anpassen, also dieser neuen Klientel in ihrer besonderen Problemlage gerecht werden. Bei ihnen kommt er zu einer großartigen Einsicht: Es ist unter Umständen glatt kontraproduktiv, ihnen ihre kompletten Ersparnisse erst einmal wegzunehmen bzw. sie sie erst komplett aufbrauchen zu lassen, ehe sie finanzielle Unterstützung bekommen – weil er damit nicht bloß sie ruiniert, sondern ihre Einkommensquelle.
Alle anderen Grundsicherungsbezieher kann man nur zu der guten Nachricht beglückwünschen, dass dieses neue Schonvermögen in Höhe von 15 000 Euro dann nach der neuen Beschlusslage gleich für sie alle gleichermaßen gilt: [2] Sie dürfen künftig einen Spargroschen behalten und sich ihre nötigsten Anschaffungen frei aus eigener Tasche finanzieren, ohne gleich jedes Mal mit einer kleinlichen und obendrein aufwändigen Bewilligungsbürokratie für einen neuen Computer, Kühlschrank oder Wintermäntel für die Kinder in Kontakt zu kommen. Die ersten zwölf Monate, in denen sie bedürftig sind, bilden zudem künftig eine überaus großzügige Karenzzeit, in der die Freibeträge fürs eigene Vermögen höher sind und sie auch nicht gleich aus ihrer Wohnung fliegen, nur weil das Amt feststellt, dass die gemessen an deren Armut und Erwerbslosigkeit eigentlich zu groß für sie ist. Auch das passt als Zugeständnis an die neuen Realitäten ins Bild, denn in den deutschen Ballungszentren sind kleine Wohnungen bekanntlich kaum zu bekommen oder auch nicht billiger, als die „unangemessen“ großen mit bereits länger bestehenden Mietverträgen.
Zeitgemäß angepasst werden zudem die Regelsätze der Grundsicherung. Mit dem Stichtag des Übergangs von Hartz IV auf das Bürgergeld erhalten voll Anspruchsberechtigte auf einen Schlag ein Plus von mehr als 11 Prozent: Statt 449 Euro gibt es jetzt 502 Euro pro Monat, Tendenz steigend – denn auch der Mechanismus zum jährlichen Inflationsausgleich der Regelsätze ist von der Regierung verbessert worden.
Eine dritte Abteilung der Reform kümmert sich Fortschreibend um Erfolgsrezepte innerhalb des Hartz-Regimes, die einfach zu schön sind, um sie wegzuschmeißen. Zwar sind emphatische Einlassungen der Sozialdemokratie wie die folgende aus dem Jahre 2019 – „Niemand, der arbeitet – schon gar nicht jemand, der Vollzeit arbeitet – sollte sein Einkommen aufstocken müssen. Ausnahmslos jede von Menschen verrichtete Arbeit ist es wert, so bezahlt zu werden, dass man davon leben kann. Das gehört zu den sozialdemokratischen Grundwerten.“ (SPD-Konzeptpapier ‚Ein neuer Sozialstaat für eine neue Zeit‘) – auch heute noch in Mode. [3]
Ausweislich der mit dem Bürgergeld beschlossenen Modifikationen der Zuverdienstmöglichkeiten für Grundsicherungsempfänger sind die jedoch offenkundig nicht so gemeint, dass die Notwendigkeit, neben ihrem Lohn noch Stütze zu beziehen, um auf irgendein Existenzminimum zu kommen, durch das Bürgergeld überwunden werden soll. Im Gegenteil: „Wer … zwischen 520 und 1.000 Euro verdient, kann ab dem 1. Juli 2023 mehr von seinem Einkommen behalten: Die Freibeträge in diesem Bereich werden von 20 auf 30 Prozent angehoben, das bedeutet bis zu 48 Euro mehr im Geldbeutel als bisher.“ (bmas.de, FAQ zum Bürgergeld)
Das Aufstockertum steht in der Reform nicht länger für einen sozialen Skandal, sondern für einen millionenfach gewohnten und gewollten Typus von Mini-Jobs mit Mini-Bezahlung. Die sind nämlich einerseits prima: fürs deutsche Kapital mit seinen Bedürfnissen sowieso, aber auch für die Leute, die dann immerhin in Arbeit sind. Dass sie andererseits von der unterm Strich bislang so gut wie nichts hatten, war eine unnötige Kehrseite der bisherigen Politik, die sich zum Glück mit einer Anhebung um 10 Prozent beheben lässt. Eine überaus günstige Korrektur, mit der die Ansprüche des Ministers an den hohen Wert der Arbeit – „Arbeit muss den Unterschied machen!“ „Mit dem Bürgergeld lohnt sich Arbeit mehr.“ (H. Heil im Bundestag, 24.11.22) – befriedigt sind. Vielleicht dankt es auch das Kapital der Politik, indem es künftig noch mehr solcher Stellen schafft und die mit noch mehr frisch aufgewerteten Working Poor besetzt, die sich des Werts ihrer Arbeit wieder gewiss sein dürfen.
Der Soziale Arbeitsmarkt ist noch so ein Erfolgsfall. Auch dort wird gearbeitet, wenn auch zu Löhnen, die nicht die Arbeitgeber, sondern der Sozialstaat für mehrere Jahre gleich vollumfänglich selbst finanziert. Das bisherige Pilotprojekt hat der deutschen Politik so gut gefallen, dass sie es nun ausweiten will: „Der Soziale Arbeitsmarkt … wird dauerhaft etabliert: Jobcenter können sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse mit Menschen nach besonders langer Arbeitslosigkeit für bis zu fünf Jahre fördern, um ihnen damit soziale Teilhabe zu ermöglichen.“ (bmas.de, FAQ zum Bürgergeld)
Ein Sozialdemokrat verkündet im Bundestag, was damit erreicht ist: „Wir schreiben niemanden ab! Selbst nach vielen Jahren Langzeitarbeitslosigkeit werden wir den Menschen wieder eine Perspektive geben.“ (Jens Peick im Bundestag, 24.11.22) Sehr fürsorglich. Selbst notorische Langzeitarbeitslose, die fast keinerlei Aussicht auf einen normalen Job haben, bekommen von der sozialdemokratischen Regierung in ihrer Armut „soziale Teilhabe“ und eine „Perspektive“ geboten. Deutlicher kann man nicht sagen, wie sehr sie mit ihrem Schicksal zur deutschen Arbeitsgesellschaft dazugehören. Und sogar Figuren, die noch eine Stufe weiter unten stehen, bekommen vom Sozialstaat die Teilhabe angeboten, die ihre Würde gebietet: In sogenannten Ein-Euro-Jobs dürfen Langzeitarbeitslose, die zuvor „alle anderen Angebote des Jobcenters ausgeschöpft“ haben (arbeitsagentur.de, s.v. Arbeitsgelegenheit), sich freiwillig in ca. 100 000 „Arbeitsgelegenheiten“ in gemeinnützigen Organisationen, Vereinen oder in der Grünanlagenpflege betätigen. Damit tut das Amt ihnen einen Gefallen, denn „Arbeit“ ist für die politischen Sachwalter die entscheidende Bestimmung eines würdevollen Lebens, das sogar den für ihre kapitalistische Benutzung absolut Überflüssigen zusteht.
II. Der stolze Kulminationspunkt aller sachlichen Korrekturen: Ein neuer Geist
Wie groß der Wurf ist, den die SPD mit dem Beschluss ihrer Reform gelandet hat, kann sie nicht oft genug betonen: „Wir lösen ein System ab, das unter dem Namen Hartz IV zu einem Synonym für die Bedrohung der Menschen wurde, das die Menschen wahrgenommen haben als eins, das ihnen nicht half, sondern den gesellschaftlichen Abstieg organisiert hat. Ob das richtig ist oder nicht, ist an dieser Stelle mal egal. Fakt ist: Diese Wahrnehmung gab es, und sie hat gerade bei der arbeitenden Mittelschicht zu Verunsicherung geführt… Wenn die Menschen aber den Glauben an die Unterstützung durch den Sozialstaat verlieren, dann haben wir ein Problem. Deswegen werden wir das Vertrauen mit diesem Gesetz jetzt wiederherstellen. Wir schaffen einen Kulturwandel!“ (J. Peick im Bundestag, 13.10.22)
Wenn die Damen und Herren Elendsverwalter aus der sozialdemokratischen Regierungspartei als entscheidendes Problem konstatieren, dass ihre Hilfeangebote so wenig angenommen und ihren Institutionen nicht gedankt werden, dann gehen sie mit ihrem Reformbedarf über die Erkenntnis, dass manche der Maßnahmen sachlich nicht länger das leisten, was sie bezwecken, und sie deswegen nach knapp 20 Jahren mal wieder etwas grundsätzlicher zu reformieren sind, deutlich hinaus. Mit der frechen Rede von einer schlechten subjektiven „Wahrnehmung“ reflektieren Peick und Konsorten auf die sittlichen Resultate, die sie mit ihrem alten Geist mitproduziert haben: Sie haben es mit der fortgeschrittenen Verwahrlosung bedeutender Teile ihrer Armutsklientel zu tun, die in genügend Fällen negativ auf deren Willen zur Konkurrenz durchschlägt. Davon gehen die Reformer mit ihrer Problematisierung jedenfalls aus und hängen dieses Problem auch so hoch, dass sie bis zur Kategorie des gefährdeten „Zusammenhalts“ greifen: „Denn es geht nicht nur um die Menschen, die auf Hilfe angewiesen sind und denen wir damit das Leben ein Stück leichter machen, sondern es geht um den sozialen Zusammenhalt. Deshalb sage ich: Das Bürgergeld bedeutet Grundsicherheit für unser ganzes Land.“ (H. Heil im Bundestag, 13.10.22)
Die SPD besteht darauf, dass die Armut, die sie nicht beschönigt, kein Sprengstoff sein darf. Die Armen müssen es leichter haben, damit das Gemeinwesen es mit ihnen nicht so schwer haben muss. So selbstverständlich wird der herrschaftliche Sorgestandpunkt, ihre Armut könnte glatt dysfunktional werden, mit einem Sorgestandpunkt für sie gleichgesetzt.
Kein Wunder, dass die SPD auf die Lösung, die ihr dazu eingefallen ist, so stolz ist: „mehr Respekt und mehr Anerkennung“ (Heil) für die Betroffenen. Entsprechend wird die Reform beworben: „Ich möchte vorwegstellen, dass man, glaube ich, noch einmal verdeutlichen muss, was das Grundmotiv dieser Gesetzesvorlage ist: dass man zunächst einmal unterstellt, dass alle Arbeitslosen rückkehrwillig in den ersten Arbeitsmarkt sind. Das heißt, eine Vertrauenskultur muss dieses Gesetz als Grundlage wie ein roter Faden durchziehen.“ (Jörg Steinbach im Bundesrat, 14.11.22)
Die SPD spricht die Leute als fleißige und anständige an und gratuliert ihnen dazu, mit ihren prekären Lebensumständen nichts als eigenständig zurechtkommen zu wollen. Und sie gratuliert sich selbst dazu, dass sie ihren Schützlingen fortan auf jeden Fall freundlich zu unterstellen bereit ist, genau das zu wollen, und will das als Vorleistung der Politik von ihnen gewürdigt wissen. Dass die neue „Vertrauenskultur“ sich durchaus auch materiell für die Betroffenen bemerkbar macht, etwa durch die bereits erwähnten längeren Schonzeiten, bevor dann doch Zweifel am Rückkehrwillen aufkommen, ist eine Sache. Wenn die Sozialdemokraten sich allerdings insgesamt – durchaus selbstkritisch – auf einen hochachtungsvolleren Umgangston besinnen und seit einigen Jahren unaufhörlich in ihre Echokammern ‚Wir haben verstanden!‘ hineinrufen, dann erwarten sie auch, dass ihre Adressaten sich vor lauter Vertrauensvorschüssen ihrer Politiker und der Zugewandtheit ihrer Sachbearbeiter gefälligst nicht mehr hängen lassen, sondern „ihre Potenziale entwickeln und neue Chancen im Leben ergreifen“ (Gesetzentwurf).
Dabei wird ihnen künftig stets zugewandt geholfen: „Es wird genauso sein: ein Kulturwandel, der den arbeitenden Menschen in diesem Land sagt: Wenn ihr unverschuldet arbeitslos werdet, dann bieten wir euch Hilfe.“ (J. Peick im Bundestag, 13.10.22)
Entsprechend liebevoll und ohne daran irgendetwas lächerlich finden zu müssen, gestaltet die SPD auch die Verfahrensweisen und das Vokabular auf den Ämtern neu: „Zu diesem Kulturwandel gehört auch der Kooperationsplan; denn Zusammenarbeit braucht eben keine Drohung. Sie braucht keine Sanktionen, sondern Zusammenarbeit braucht Augenhöhe; sie braucht Vertrauen, das geschaffen wird.“ (Ebd.)
Die neue Hochachtung vor dem Bürger im Sozialfall gebietet also konsequente Heuchelei. Die ehemalige Eingliederungsvereinbarung heißt deshalb künftig Kooperationsplan, ist „in klarer und verständlicher Sprache“ gehalten (Gesetzentwurf) und verzichtet auf unverhohlene Drohungen, sodass unterm Strich kein Grund mehr besteht, mit dem Sachbearbeiter im Jobcenter nicht einer Meinung zu sein und die – selbstverständlich weiter fortbestehenden – Sanktionen zu riskieren.
Was den Inhalt des neuen Respekts angeht, der sich in den genannten materiellen Besserstellungen und neuen Verfahrensweisen Bahn brechen soll: Der lautet auf den Imperativ, dass die Lebenslagen der Sozialfälle allesamt keine Schande sind und dementsprechend auch keine Verachtung verdienen – weder durch die Betroffenen selbst, noch durch Dritte. Und zwar einfach deshalb, weil sie „jeden treffen können“ – also normal sind. Entsprechend der Minister: „Niemand, der in Not ist, muss sich schämen, in Deutschland Hilfe anzunehmen. Das ist ein soziales Grundrecht.“ (H. Heil im SZ-Interview, 24.11.22)
So wird dem deutschen Prekariat über dessen Lebensverhältnisse mitgeteilt, dass die schlicht und einfach sein sollen: Sie sind schließlich anerkannt, gewürdigt und werden mit ihrer umfassenden Betreuung fortgeschrieben durch eine frisch reformierte Sozialpolitik, Abteilung Prekariat.
Dass die SPD die Ehrung des Sozialfalls als anständiger, also anständig zu behandelnder Bürger zum Hauptwitz der „Jahrhundertreform“ hochstilisiert, ist insofern sachgerecht, als gerade darin der politische Wille zur endgültigen Eingemeindung und Normalisierung diverser prekärer Arbeits- und Lebensumstände methodisch manifest wird. Deren formvollendete Integration in den Kanon deutsch-sozialmarktwirtschaftlicher Verhältnisse ist der politische Sinn und Zweck aller kleinlichen Neuzumessungen, Korrekturen und Nachjustierungen.
III. Der Vorbehalt der christlichen Opposition
Für eine Weile läuft die CDU gegen die Bürgergeld-Reform Sturm – und jeder kundige Journalist weiß, dass es sich dabei um einen Sturm im Wasserglas der frisch gebackenen Oppositionspartei handelt. Das wird schon so sein. Der Einwand, auf den sie sich verlegt hat, ist dennoch programmatisch.
Er knüpft am von der SPD verbreiteten Prädikat „normal“ an, erklärt die so bezeichneten Arbeitsverhältnisse und Lebensumstände des deutschen Prekariats seinerseits zwar nicht für unnormal und hat gegen die auch nichts weiter; wohl aber gegen den normalisierenden Bezug des Sozialstaates auf die deshalb Hilfebedürftigen: Die sollen von ihrer politischen Hoheit unbedingt zu spüren kriegen, dass ihr Bedarf insofern nichts Gewöhnliches an sich hat, als es sich eigentlich nicht gehört, jedenfalls als Abweichung von der gewollten und unterstellten Normalität erkennbar und spürbar bleiben muss, dass sie nicht von ihrer Hände Arbeit, sondern von staatlichen Almosen leben.
Insofern kann sie gerade dem zugewandten Geist, mit dem die SPD sich so gerne brüstet, nichts Gutes abgewinnen; eher die Gefahr, dass bei so viel freundlicher Hilfe zur Lebensbewältigung der im Sozialwesen unbedingt nötige Zwang zur Arbeit eine Relativierung erfahren könnte. Diese Gefahr beschwört sie so heftig, wie sie es vermag, und kämpft bezogen auf einzelne Unterpunkte der Reform um den Unterschied zwischen Freiheit und Untergang.[4] Ihre schlimmen Befürchtungen kulminieren in einer Sorge, die ein besonders volksnaher CDU-Abgeordneter aus Ostdeutschland seiner Bäckerin abgelauscht hat: „Ich denke hier mal an die Verkäuferin, zum Beispiel in meiner Stammbäckerei in Dresden, die jeden Morgen zuverlässig zur Arbeit geht und natürlich auch erwartet, dass jemand, der vielleicht gerade keine Arbeit hat, dieselbe Bereitschaft und Zuverlässigkeit aufbringt… Sie sagt: Wie ist denn das möglich? Ich muss mir doch die Frage stellen, was dann von meiner Disziplin und von meiner Zuverlässigkeit, mit der ich zur Arbeit gehe, noch übrig bleibt. Will ich da noch arbeiten, ja oder nein? Sie stellen das infrage… Auch die Verkäuferin wird am Ende darauf angewiesen sein, dass sie mehr netto hat, wenn sie arbeitet und zuverlässig zur Arbeit geht, als wenn sie das nicht tut.“ (Markus Reichel im Bundestag, 13.10.22)
Wie soll Herr Reichel seiner Bäckerin morgens noch in die Augen schauen können, wenn er im Bundestag nicht alles dafür tut, dass es etwas noch Schlechteres geben muss als ihre Arbeit. Was hätte sie sonst auch von ihr? Ein christlicher Sozialpolitiker weiß: Elende Missgunst ist ein Gebot der Leistungsgerechtigkeit und gehört zum Kernethos der sozialstaatlichen Überlebenshilfen für die lohnabhängige Klasse unbedingt dazu. Offenbar war in der Bürgergeld-Reform am Ende dann doch genug davon zu finden, sodass die CDU ihr schlussendlich zustimmen konnte.
Anmerkunen:
[1]Zur Erklärung des neuen Typus Armut, den der Sozialstaat seinerzeit in Deutschland geschaffen hat, siehe die Aufsätze Reform der Hartz-IV-Reform, soziokulturelles Existenzminimum, Mindestlohn, Kombilohn, Initiative 50plus. Ein sozialpolitisches Dauerexperiment zur Ermittlung der notwendigen Reproduktionskosten in GegenStandpunkt 4-06 sowie ‚Arbeit muss sich wieder lohnen!‘ Nach fünf Jahren Hartz-IV: Neuer Reformbedarf auf dem Weg Deutschlands in das Ausbeutungsparadies ‚Billiglohnland‘ in GegenStandpunkt 2-10.
[2]Gegenüber den Bedenken seiner Widersacher weiß der Minister zu beruhigen: „Da ist ein Riesenpopanz aufgebaut worden… Die meisten Menschen, die in die Grundsicherung kommen, haben überhaupt keine Rücklagen mehr.“ (H. Heil im SZ-Interview, 24.11.22) Wenn das so ist, kann man den Popanz getrost vergessen und ihnen die Rücklagen, die sie nicht haben, ruhig eine Zeit lang lassen.
[3]Zum Stand der diversen Reformvorhaben 2019 siehe den Aufsatz ‚Ein neuer Sozialstaat für eine neue Zeit.‘ Die SPD digitalisiert die Armutsbetreuung in GegenStandpunkt 4-19.
[4]So beklagt die CDU etwa, „die Ampel will Hartz-IV-Sanktionen quasi abschaffen“ (Whittaker) und „den Menschen die Illusion eines Vollkaskostaates“ verkaufen (Ritter); im Bürgergeld sieht sie „den Weg zum bedingungslosen Grundeinkommen aus Steuermitteln“ (Merz), was „den sozialen Frieden in unserem Land“ gefährdet (Whittaker). Und so weiter.
Quelle: https://de.gegenstandpunkt.com/ Heft 2-23 Bild: Der Paritätische