Zur konkreten Lebenssituation armer Menschen in der Großstadt – in der Klientenmitfinanzierung gefangen

Der Staat zahlt den Wohlfahrtsunternehmen jährlich zig-Milliarden Euro für die Beratung, Betreuung und Beschäftigung von Menschen. Er prüft allerdings nicht, ob die Gelder auch dem Bedarf und den Richtlinien entsprechend, bestmöglich eingesetzt werden. Missbrauch und Betrug sind so Tür und Tor geöffnet.

Für systematische Prüfungen der Mittelverwendung fehlt den Kreisen und Kommunen Geld und das entsprechende Personal. Den eigentlich zuständigen Landesrechnungshöfen, die im Auftrag der Kommunen solche Prüfungen bei sozialen Trägern durchführen könnten, fehlt die Legitimation dazu. Die Akteure in den „gemeinnützigen“ Unternehmen sind außerdem recht gut in der kommunalen Politik vernetzt und genießen ihren sozialen sauberen Habitus.

Es kommt immer wieder zu Skandalen, die nicht durch die Aufsichtsinstitutionen und Kontrollgremien aufgedeckt werden, sondern die Sozialbehörden werden zum Teil nur „per Zufall“ auf die Unregelmäßigkeiten aufmerksam oder durch Whistleblower unter großer Gefahr für die Beschäftigten in diesen Konzernen, Verbänden und Vereinen.

So war und ist es möglich, dass unter der harmlos klingenden Wortschöpfung „Klientenmitfinanzierung“ ein knallhartes Konzept entwickelt wurde, mit dem eine Doppel- und auch Dreifachfinanzierung für soziale Dienstleistungen aus dem Hut gezaubert werden kann. Klientenmitfinanzierung heißt konkret, dass auch Menschen, die bereits unter dem Existenzminimum leben müssen, z.B. für die Regulierung ihrer Schulden noch einen vierstelligen Betrag an die Wohlfahrtsunternehmen leisten müssen oder sie erhalten keine Beratung und bleiben außen vor.

Beschäftigte der Wohlfahrtsunternehmen in der Zwickmühle

Die Ideologie der Privatisierung gesellschaftlicher Ebenen hat auch den dritten Sektor der Volkswirtschaft, die Bildungs-, Sozial- und Gesundheitseinrichtungen längst erreicht, mit fatalen Folgen für die Beschäftigten.

Die Arbeitskräfte der Wohlfahrtsunternehmen im Beratungsbereich mussten und müssen ungeheuerliche Änderungen über sich ergehen lassen, die nicht nur Auswirkungen auf die tagtägliche Arbeit haben, sondern ihre gesamte Lebenssituation beeinflussen.

Es geht hierbei nicht nur um ein Unbehagen, sich den Gesetzen des Marktes zu unterwerfen, als Verkäufer sozialer Produkte auftreten zu müssen, bei dem das eigentlich Menschliche zu einem Wettbewerbsfaktor der Markt- und Konkurrenzwirtschaft wird, in der Zuneigung, Aufmerksamkeit, Hilfe, Sicherheit, Ehrlichkeit und Authentizität zu verkaufen bzw. zu erwerben sind. Es hat sich ein Geld-Hilfe-Geld Verhältnis entwickelt, bei dem sich alle Beteiligten dem Diktat der betriebswirtschaftlichen Kenn- und Schlagzahlen unterwerfen und vor allem geht es um Entfremdungsprozesse, die die Beschäftigten völlig zerstören können. Sie sind gezwungen, ein funktionierendes Rädchen im großen Getriebe der Verbetriebswirtschaftlichung des Sozialen zu spielen oder sie verlieren ihren Arbeitsplatz.

Über Jahre hinweg müssen sie aushalten, dass die ratsuchenden Klienten für ein soziales Angebot zahlen müssen, um eine Doppel- und auch Dreifachfinanzierung für das Wohlfahrtsunternehmen zu gewährleisten. Klientenmitfinanzierung heißt konkret, dass auch Menschen, die bereits unter dem Existenzminimum leben müssen, für die Regulierung ihrer Schulden noch neue private Schulden machen müssen, um „Gebühren“ an das Wohlfahrtsunternehmen leisten zu können oder sie erhalten keine Beratung und bleiben außen vor.

Damit die Methode funktioniert, werden „Kostenstellen“ für die Beratungskräfte eingerichtet, die dann ihre Personalkosten selbst durch ihre kostenpflichtige Beratungsarbeit erwirtschaften müssen.

Die Beschäftigten geraten in die Situation, gleichzeitig vertrauensvolle Beratungen, Kostenabwicklung und oft Inkassotätigkeit unter einen Hut zu bringen. Eine fatale Situation für jede Person, die in der sozialen Beratungsarbeit beschäftigt ist.

Gängige Praxis bei der Schuldnerberatung mit Klientenmitfinanzierung  ist es, dass erst nach dem Ansparen der vertraglich vereinbarten Summe auf einem Konto des Beratungsunternehmens, erst wenn die gesamte Summe eingegangen ist, die Beratung beginnt. Diese Vorgehensweise widerspricht den langjährigen Erfahrungen in der Schuldnerberatung, dass überschuldete Menschen sofortige Beratungshilfen benötigen, die keinen zeitlichen Aufschub zulassen.

Betroffene Menschen berichten

Beispiele für die betrügerische Praxis im Rahmen der Schuldnerberatung mit Klientenmitfinanzierung:

  • Dennis D.: einer seiner Gläubiger schreibt, dass nach dem Übersenden der Forderungsaufstellung ein Jahr vergangen sei und er den augenblicklichen Sachstand der Beratung erfahren möchte. Weiter schreibt er: „Sollte sich allerdings herausstellen, dass es Ihrem Auftraggeber hier nur auf Zeitverzögerung ankommt, müsste ich meiner Mandantin die sofortige Einleitung weiterer Vollstreckungsmaßnahmen empfehlen“.
  • Margarete S.: beschwert sich schriftlich darüber, dass die Beratung noch nicht begonnen hat, obwohl sie von den vereinbarten 1.800 Euro bereits 1.300 Euro aus ihren Hartz-IV-Leistungen gezahlt hat. Der Druck der Gläubiger und die mangelnde Hilfestellung haben dazu geführt, dass sie psychisch erkrankt ist.
  • Eva-Katharina M.:  vertreten von  Anwalt M. aus Bottrop, der schreibt: „Meine Mandantin überreichte mir die vertragliche Vereinbarung, sie kann jedoch heute nicht feststellen, dass nur eine dieser Leistungen von Ihnen erbracht wurde. Hingegen hat sie das Entgelt in Höhe von 1.800 Euro in voller Höhe an Sie gezahlt. Ich kündige hiermit das Vertragsverhältnis und fordere Sie auf, den Betrag von 1.800 Euro auf mein Konto zu erstatten“.
  • Ibrahim A.: wird vom Anwalt K. aus Werdohl, vertreten, der schreibt: „Mein Mandant hat Sie beauftragt, einen Insolvenzantrag vorzubereiten und auch zu stellen. Dann wurde von Ihnen ein Vorschuss von 2.000 Euro angefordert, den mein Mandant zumindest in Höhe von 1.100 Euro auch gezahlt hat. Dennoch sollen Sie keinerlei Tätigkeit entfaltet haben. Wir fordern die vor 4 Jahren geleistete Anzahlung von 1.100 Euro zurück und bitten Sie die Summe auf eines unserer Kanzleikonten zu erstatten“.
  • Jens B.: wehrt sich gegen die Aussage, er hätte keine Gebühren bezahlt und legt eine Quittung über 120 Euro bei. Er schreibt: „Ich möchte mir nicht mangelnde Mitwirkung vorwerfen lassen, auch weil ich nicht einschätzen kann, was da geschehen ist, da ich nicht eine einzige Abschrift der Korrespondenz habe, obwohl Sie mir zugesagt haben, mir diese Briefe zeitnah zu mailen.“
  • Sandra K.: wird von der Sparkasse, die die Beratungsstelle des Wohlfahrtsunternehmens mit über 100.000 Euro pro Jahr fördert, mit der Bitte um Beratung geschickt. Die Arbeitsgebietsleitung besteht darauf, dass Frau K. die völlig überschuldet und zahlungsunfähig ist, die vorgegebene Summe von 728 Euro  vollständig zu zahlen hat, um mit der Beratung „zeitnah“ beginnen zu können.
  • Lothar Z.: hat die Beratungsgebühr fast angespart, 400 Euro sind noch offen, die er  nicht mehr ganz aufbringen kann. Nach Intervention der Beratungsstelle will er versuchen, kleinere Summen einzuzahlen und ist sich bewusst darüber, dass sich die Wartezeit bis zum Beratungsbeginn entsprechend verlängert.
  • Jürgen K.: hat die Ansparratenzahlung einstellen müssen, offen sind 450 Euro. Nach Mahnungen durch die Beratungsstelle will er sich bemühen 50 Euro monatlich zu zahlen, konkret muss er noch mindestens 9 Monate auf den Beginn der Beratung warten.
  • Sabine Sch.: hatte den Beratungsvertrag mit 1.400 Euro Gebühren unterschrieben. Nach Zahlung von 300 Euro konnte sie die Ansparraten nicht mehr aufbringen. Die fehlenden 1.100 Euro wurden 2x ohne Erfolg angemahnt, mit dem Ergebnis, dass sie von der Warteliste entfernt wurde.
  • Murat K.: ihm wurde eine Kostenzusage für die Schuldnerberatung durch das Jobcenter abgelehnt, da er dem Arbeitsmarkt wegen einer psychischen Erkrankung nicht zur Verfügung steht. Er ist verheiratet und Vater von 5 minderjährigen Kindern, erwerbslos und im laufenden SGB II Bezug. Pfändungen stehen an, es besteht keine Möglichkeit für den Schuldnerschutz. Das Verbraucherinsolvenzverfahren ist die einzige Möglichkeit, dass die Familie aus der Stresssituation herauskommt. Seine gesetzliche Betreuerin bittet um Aufnahme in die Beratung, dies wird durch die Arbeitsgebietsleitung nur gegen die Barzahlung von 246 Euro für die 4-stündige Grundberatung in Aussicht gestellt. Mit der Betreuerin sucht Herr K. die türkischen Einrichtungen und Cafés in der Stadt auf und bittet um Spenden für die Beratung. Nach ein paar Tagen kommen 240 Euro zusammen, die in der Beratungsstelle eingezahlt werden sollen. Die Leitung der Beratungsstelle bemängelt die fehlenden 6 Euro und die Leute werden wieder weggeschickt, kommen aber nach kurzer Zeit mit den 6 Euro zurück und die Beratung wird begonnen. Für solche Fälle stehen der Beratungsstelle jährlich NRW-Landes-Insolvenz-Mittel in Höhe von 70.000 Euro zur Verfügung.
Versetzung per Direktionsrecht

Die Beschäftigten, die im Rahmen der Schuldnermitfinanzierung arbeiten, stehen unter einem immensen Druck, die Vorgaben zu erfüllen, die so gar nicht zu erfüllen sind.

In mehreren Fällen ist es zu langfristigen Erkrankungen und in deren Folge in einigen Fällen zur Beantragung der Erwerbsminderungsrente mit großen Einkommensverlusten bei den Beratungskräften gekommen.

Seitens der Arbeitsgebietsleitung wurde dann in Konfliktsituationen folgende Lösung angeboten: „In diesem Fall der Rückerstattung der Gebühren wird die Brisanz des gebührenfinanzierten Angebots der Schuldnerberatung deutlich. Meines Erachtens muss in diesem Zusammenhang auch die Erkrankung von … und seine Leistungsfähigkeit bewertet werden und über eine Versetzung per Direktionsrecht nachgedacht werden“.

 

 

 

 

Quellen: Berichte von Betroffenen, Insolvenzordnung, Konzept Soziale Schuldnerberatung
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