Zur sogenannten Migrationswende

Von Georg Schuster

Ein paar einschlägige Nachrichten dazu aus zwei, drei Wochen im Juli – keine der ungewöhnlichen Art –, sowie eine politische und ökonomische Einordnung, wie sie für gewöhnlich nicht zu lesen ist.

Torre Pacheco in der Region Murcia ist eine Gemeinde mit 42.000 Einwohnern, von den ein knappes Drittel eingewandert und größtenteils marokkanischer Herkunft ist. Als billige Arbeitskräfte des Typs, die im Landesdurchschnitt 30 Prozent weniger als die Einheimischen verdienen, werden sie hauptsächlich im Agrarsektor nachgefragt. Nach einem gewaltsamen Angriff auf einen Rentner, begangen von einem Nordafrikaner, kommt es dort zu nächtlichen Unruhen, die von eigens angereisten Rechtsradikalen befeuert werden und Polizeieinsätze nach sich ziehen. Die rechtsextreme Partei Vox, immerhin die drittstärkste politische Kraft im Land, nutzt die Gelegenheit, um erneut die massenhafte Deportation von Immigranten und ihrer Nachkommen zu fordern. Zeitgleich erklärt der Chef der stimmenstärksten Partei, des oppositionellen Partido Popular, für einen Regierungswechsel seien „acuerdos con Vox“ unentbehrlich.

Die Partei von Sohei Kamiya, einem Trump-Bewunderer, war einer der Gewinner der japanischen Oberhauswahl vom 20. Juli u.a. mit der Forderung, der Einwanderung, der Beschäftigung von Ausländern und dem Tourismus Einhalt zu gebieten.

Im europäischen Osten kontrolliert Polen inzwischen Reisende an der deutsch-polnischen Grenze und deklariert dies als Reaktion auf die von Deutschland zuvor einseitig eingeführten Kontrollen sowie als Antwort auf polnische Bürgerwehren, die schon seit längerem im Grenzgebiet aktiv sind, weil sie mutmaßen, dass dort massenhaft unerwünschte Migranten Richtung Polen abgeschoben werden. Der Chef der nationalkonservativen PiS-Partei reist demonstrativ an einen Grenzübergang, um den Bürgerpatrouillen zu danken und dem Ministerpräsidenten „absolute Unterordnung unter Deutschland“ vorzuwerfen.

Die deutschen Grenzkontrollen ihrerseits werden als Teil einer „Asyl- und Migrationswende“ herausgestellt – ein Begriff, der laut ChatGPT von Leuten wie Söder, Dobrindt, Merz, Weidel oder Wagenknecht gebraucht wird. Er firmiert insbesondere als nationaler Imperativ aus einer Reihe migrantischer Mordtaten – „Mannheim, Solingen, Magdeburg und jetzt Aschaffenburg“ (F. Merz) –, bei der sich namhafte Politiker nicht zu blöd dazu waren und sind, sie aus einem verfehlten Grenzregime zu deduzieren. Berechnend, jedenfalls de facto stellen sie damit eine ganze Gruppe von Zuwanderern unter Generalverdacht. Den Christdemokraten trug das Anfang des Jahres genügend Wahlstimmen zur Regierungsbildung ein und kürte daneben die AfD zur größten Oppositionspartei.

Der Weg an die Macht mit Hilfe der Ankündigung eines anti-migratorischen „Fünf-Punkte-Sofortprogramms“ und seine ‚realpolitische‘ inner- und außereuropäische Umsetzung fallen allerdings nicht zusammen. Abgesehen davon, dass für die neuen Regenten schnell auch andere Dinge wichtig(er) werden, ist die nationale und überstaatliche Rechtsförmigkeit der verkündeten Maßnahmen erst einmal herzustellen und zu gewährleisten. Immerhin hat ein Verwaltungsgericht im Juni die Zurückweisung von drei Asylbewerbern an der polnischen Grenze gemessen am Dublin-Verfahren als rechtswidrig verworfen. Auch politisch müssen die anstehenden Änderungen in der schwarzroten Koalition abgestimmt und innereuropäisch vermittelt werden. Auf dieser Grundlage kann die AfD der neuen Regierung „Wortbruch“ vorwerfen und diese umgekehrt beweisen, dass sie es ist, die plant und Stück für Stück in die Tat umsetzt, wovon die oppositionellen Rechten „nur populistische Rhetorik“ verbreiteten. Das betrifft neben den Grenzkontrollen den Stopp des Familiennachzugs für eingeschränkt Schutzberechtigte, die Wiederaufnahme der Abschiebungen ins von der Taliban beherrschte Afghanistan, die Neudefinition sicherer Herkunftsländer, deren Nötigung zur Zurücknahme, außereuropäische Verwahrung von und Verfahren für Asylbewerber sowie den diplomatischen Druck auf die Nachbarstaaten, der deutschen Migrationswende Rechnung zu tragen. Oder wie es der neue Innenminister auf seinem neulich einberufenen Zugspitzen-Gipfel verkündet: „Wir sitzen nicht mehr im Bremserhäuschen der EU, sondern in der Lokomotive [und] haben ein Interesse daran, dass wir in Europa die Migrationspolitik schärfen und härten.“ Dazu sagt er gleich danach „ein herzliches Dankeschön für die Pushbacks an der Grenze Polens zu Belarus – geltendes Asylrecht hin oder her. Auch die neue Bildungsministerin steuert ihr Scherflein bei und ventiliert eine Obergrenze für migrantische Kinder in Schulklassen. Die Streichung der Bundeszuschüsse zur Seenotrettung bilden, mickrig wie sie ausfielen, dann eher die begleitende ‚Symbolpolitik‘.

Nebenbei erfährt man noch von mehr als 600.000 afghanischen Flüchtlingen und ihren Nachkommen, die allein seit Juni vom Iran in ihre alte Heimat abgeschoben wurden, aus der sie seit Ende der 1970er Jahre in den verschiedenen Perioden innerafghanischer Kämpfe und sowjetischer bzw. westlich-amerikanischer Einmischung sowie nach dem Sieg der Taliban geflohen waren. Jetzt werden sie wieder zum Teil der zwölf Millionen Landeskinder, die nach Schätzung der UN nicht genug zu essen haben.

UN-Flüchtlingskonvention und deutsches Asylrecht

Von den insgesamt knapp sechs Millionen aus Afghanistan Geflohenen und Emigrierten leben derzeit rund 370.000 als Schutzsuchende in Deutschland. Die ersten Zehntausend kamen, gut ausgebildet, nach dem sowjetischen Einmarsch in den Jahren nach 1979 als Asylbewerber an, bis die Zuwanderung mit der ‚Willkommenskultur‘ auf 250.000 Afghanen anstieg und neben 10.000 unbegleiteten Minderjährigen vor allem Menschen, Männer und halb so viele Frauen, mit geringer Qualifikation ins Land brachte. In diesen wenigen Zahlen, die vergleichbar und in noch größerer Dimension auch für Syrien gelten, spiegeln sich beispielhaft die Zwecke und Problemlagen – nicht nur – der deutschen Asylpolitik wider.

Der englische „Economist“ von Mitte Juli erinnert an die Anfänge des „asylum systems“„Die UN-Flüchtlingskonvention von 1951 galt nur für Europa und zielte darauf ab, zu verhindern, dass aus der Sowjetunion Geflohene zu Stalin und seiner Wut zurückgeschickt wurden. Sie bestimmte, dass jeder, der durch eine ‚begründete Furcht‘ vor Verfolgung zur Flucht gezwungen wird, Zuflucht finden muss. 1967 wurde der Vertrag auf den Rest der Welt ausgeweitet.“ Da sich die ursprüngliche Konvention explizit auf „events occurring in Europe before 1 January 1951“ bezog, galt sie im Nachkriegseuropa faktisch nur für Fliehende aus dem sich formierenden Ostblock, die sich im freien Westen als lebendige Delegitimierung der ‚kommunistischen Herrschaft‘ vorzeigen ließen. Ein analoger Zweck veranlasste die deutschen Verfassungsväter 1949 zur Formulierung eines Grundrechts auf Asyl. Die Ausweitung der Flüchtlingskonvention von 1967 wurde zunächst von nur wenigen Staaten ratifiziert, voran die USA, Frankreich, England und die BRD, daneben auch Norwegen, Schweden oder die Schweiz, die sie als diplomatisches Instrument zur Einmischung in internationale Souveränitätsfragen, z.B. im Zuge der Entkolonialisierung, oder gleich zum Inkriminieren von nicht genehmer Herrschaft nutzen wollten. Die Sowjetunion war nie Vertragsstaat, China trat 1982 bei, Russland 1993, beide haben sehr niedrige Anerkennungsquoten. 44 Staaten blieben bis heute Nichtunterzeichner, darunter solche in der Golfregion oder in Südasien, die selbst große Flüchtlingspopulationen beherbergen, ohne sich dabei den Regularien der UN-Konvention zu unterstellen. Dazu gehört auch der Iran, der sich bei seinen derzeitigen Massenabschiebungen nach Afghanistan (siehe oben) daher nicht dem Vorwurf des völkerrechtlichen Vertragsbruchs aussetzt.

Die deutsche Asylrechtsreform von 1993 belegt ihrerseits den politischen Charakter dieses Rechts. Denn als die vom Westen befeuerten Kriege des jugoslawischen Staatszerfalls zwar massenhafte Fluchtgründe hervorriefen und die Asylbewerbungen 1992 in Deutschland auf über 400.000 anstiegen, die in dieser Dimension aber dysfunktional erschienen, wurde der Art. 16 GG um die notorische Definition „sicherer Dritt- und Herkunftsstaaten“ erweitert, aus denen die An- oder Durchreise keinen Asylgrund mehr abgab. Folglich gingen die Anträge auf Asyl und Schutz stark zurück (Quellen hier; alle Zahlen gerundet), lagen 2007 bei 20.000, um dann in der Fluchtwelle 2015 auf 470.000 und 2016 auf 750.000 anzusteigen. In der letzten Dekade waren sie wieder rückläufig und lagen 2024 bei 250.000.

„Verfehlte Migrationspolitik“

Was den Anteil der Anerkennung gemäß Art. 16a GG betrifft, so liegt er seit der Änderung konstant unter einem Prozent. Diese Frage hat die Politik offenbar zu ihrer Zufriedenheit gelöst. Bleibt der Rest der Schutzbegehren und ihrer Gewährung. Bezogen auf das Jahr 2024 hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) über 300.000 Erst- und Folgeanträge entschieden und dabei – bei einer Gesamtquote von zwei Fünfteln – 134.000 Personen Schutz zugesprochen: 36.000 davon erhielten Flüchtlingsschutz nach § 3 AsylG (beruhend auf der UN-Konvention), 75.000 Personen erfuhren subsidiären Schutz und 21.000 betraf ein temporäres Abschiebverbot (beides nach EU- und nationalem Recht).

Die nicht anerkannten drei Fünftel setzen sich zusammen aus 110.000 Personen, denen kein materielles Recht zugesprochen wurde, und 58.000 Personen, die aus formellen Gründen (z.B. wg. ‚Dublin‘) abgelehnt wurden. Viele der Abgelehnten bleiben dennoch im Land, weil sie die BAMF-Entscheide anfechten, ihnen eine Duldung widerfährt, sie nicht die nötigen Ausweispapiere besitzen oder weil sie illegal werden. Tatsächlich fanden in 2024 nur 18.000 Abschiebungen statt. Insgesamt befanden sich Ende 2023 noch 340.000 Bewerber mit offenem Schutzstatus und 180.000 Personen mit abgelehntem Asylantrag auf deutschen Boden.

Gemessen an den 123 Millionen, die derzeit weltweit innerhalb und außerhalb ihrer Herkunftsländer auf der Flucht sind; bezogen vor allem auf den Teil der Weltbevölkerung, dem allein schon die ökonomischen Verhältnisse in der Heimat lauter Auswanderungsgründe nahelegen, bewegen sich diese Zahlen natürlich im Promillebereich. Die Kosten für Unterbringung, Betreuung, Integration und Sozialleistungen aller Asyl- und Schutzsuchenden – ohne die Ukrainer – machten 2024 etwa ein Prozent der öffentlichen Ausgaben in Deutschland aus (Daten von Destatis und Ifo-Institut). Trotzdem eignen sich diese Zahlen offenbar zur Skandalisierung der zurückliegenden Migrationspolitik, deren Merkel’sche Zuspitzung in der ‚Willkommenskultur‘ als komplette und unverständliche „Verfehlung“ (F. Merz) verworfen wird. Der Sache nach blieb die Kanzlerin aber nur erfolglos in ihrem Versuch, sich zu einer „Lokomotive der europäischen Migrationspolitik“ (Dobrindt s.o.) zu machen, wozu sie eine kritische Masse an geduldeter Zuwanderung für nützlich hielt.

Das sehen ihre Nachfolger grundsätzlich anders und dringen nun kategorisch auf eine Scheidung zwischen „Zuwanderern, die wir brauchen, und solchen, die nur uns brauchen“, also ‚uns‘ missbrauchen (wovon schon Wolfgang Schäuble sprach). Merz will „klar trennen zwischen Asyl, Flucht und gesteuerter Einwanderung in den Arbeitsmarkt“. In der SPD-Variante „müssen wir irreguläre Migration begrenzen – aber legale, qualifizierte Migration ermöglichen“ (Nancy Faeser). Die angeblich unklare Trennlinie dazwischen gilt sogar als mitursächlich für eine Verbreitung von Ausländerfeindschaft in der Bevölkerung und für die zugehörigen Wahlerfolge der missliebigen AfD, die der neue Kanzler zu „halbieren“ versprach.

Eine Weltbevölkerung – oder „wen wir brauchen und wer uns braucht“

„Irregulär“ zu sein oder nicht, ist keine Eigenschaft der einen oder der anderen Sorte von Migranten, sondern eine politische Zuschreibung. Das zeigt sich schon dahingehend, dass die Zuwanderer, die ‚wir‘ brauchen, vor allem solche sind, die ‚uns‘ nötig haben. Die Südeuropäer und Anatolier, die im deutschen ‚Wirtschaftswunder‘ und für die anschließende ‚Exportnation‘ gefragt waren, oder die Osteuropäer, die sich von hiesigen Billiglöhnen ernähren, haben grundsätzlich keine anderen Beweggründe zur Migration als die Zureisenden aus Syrien, Afghanistan, Nordafrika und anderswo, die einen Ausweg aus bedrohlichen und beschissenen Verhältnissen und ein besseres Auskommen in den kapitalistischen Metropolen suchen. Die eine Migration setzt sich auf die vorausgegangene drauf, hat vielfach den gleichen Antrieb, nimmt sich an ihr ein Beispiel, ist insofern mit ihr verbunden. Die Unterschiede beider liegen in der politökonomischen Nachfrage nach ihnen. Die erwünschte Sorte wird in einer Symbiose von deutscher Staats- und Wirtschaftsmacht als profitabler Zuwachs an Arbeitskraft und als deren lohndrückende Reserve legal über die Grenze gelassen und zu den landesüblichen Konditionen, einschließlich der sozialstaatlichen Zwangsabgaben, beschäftigt. Gleiches geschieht in anderen erfolgreichen Kapitalnationen, die darüber zu erklärten bzw. faktischen Einwanderungsländern geworden sind – 2024 liegt der Durchschnitt der im Ausland geborenen Einwohner der 38 OECD-Staaten bei 15 Prozent. Sie haben neben dem Weltmarkt von Konkurrenten auch eine zugehörige Weltbevölkerung hergestellt. Aus den Teilen, die diese Zugehörigkeit in Form einer bedrohten Lebenslage in der großen Abteilung der staatlichen Konkurrenzverlierer verspüren, rekrutiert sich die beständig angewachsene zweite Sorte der Migrationswilligen. Das internationale Kapital fragt sie nicht nach, sie setzen dennoch ihre Hoffnungen auf die Einreise und den Gelderwerb in dessen Heimatländern.

Eine Eingangstür finden sie gelegentlich in staatlichen Regelungen wie der Genfer Flüchtlingskonvention oder in nationalen Gesetzeslagen, die zwar nicht für sie gemacht sind, schon gleich nicht für ihr Bedürfnis nach einer materiellen Besserstellung, welches solche Bedürftige als unberechtigte „Wirtschaftsflüchtlinge“ ausweist. Die vorliegenden asylrechtlichen Festlegungen können Migranten unter Umständen aber für dieses Interesse benutzen, wenn es ihnen gelingt, die staatlichen Entscheider von ihrer Schutzbedürftigkeit im Sinne der einschlägigen Paragrafen zu überzeugen. Notlügen und Vorspiegelung von Tatsachen eingeschlossen. Am erläuterten deutschen Beispiel ist dann zu sehen, wie solche Türen sukzessive zugeschlagen werden.

Des Weiteren ist es verkehrt und bezeichnend, die angeblich fehlende Trennschärfe zwischen „legaler“ und „irregulärer“ Migration für die öffentliche Xenophobie verantwortlich zu erklären. Das geht bereits aus dem spanischen Beispielfall vom Anfang hervor. Die Fremdenfeindschaft dort galt Zugewanderten, die seit Jahren im Agrarsektor beschäftigt sind und für dessen Erfolg benötigt werden. Die ebenfalls erwähnte Nachricht aus Japan betrifft ein nahezu asylfreies Land mit einer Quote von drei Prozent auswärts Geborener, die nur über Fachkräfte-Anwerbung einreisten. Auch die „gesteuerte Einwanderung“ der damaligen ‚Gastarbeiter‘ nach Deutschland reichte ganz ohne gleichzeitigen „Asyltourismus“ (Söder und Dobrindt) vielfach aus, um sie im einheimischen Sprachgebrauch als „Spaghettifresser“ oder „Kümmeltürken“ zu bezeichnen und zu mutmaßen, sie würden den guten Deutschen die Arbeitsplätze, Wohnungen und Frauen wegnehmen.

Die Urheberschaft der Fremdenfeindlichkeit

Außerdem haut es nicht hin, die Ausländerfeindlichkeit für das ‚einfache Volk‘ zu reservieren, das die komplexen Zusammenhänge einer modernen Marktwirtschaft nicht verstünde. Bevorzugt nämlich ist der xenophobe Vorbehalt bei der gebildeten und aufgeklärten Führungsschicht des Staatswesens selbst beheimatet, bevor er sich in der Bevölkerung vergröbert und gelegentlich auch radikalisiert. Der letzte Wahlkampf z.B. hat dazu die Anschauung geliefert; dem Grund ist näher nachzugehen. Nach einer wesentlichen Seite hin unterscheiden professionelle Politiker selbst nicht weiter zwischen denen, die wir, und jenen, die uns brauchen. Beide Menschengruppen sind die Untertanen fremder Staaten, unterstehen deren und nicht der eigenen Hoheit. Ihnen wird, mag das zutreffen oder nicht, eine Loyalität zu einer anderen Nation zugeschrieben, die auch im Fall ihrer zugelassenen Einwanderung nur bedingt und materiell berechnend auf die neue Heimat überginge. Das soll sie vom einheimischen Volk absetzen, dem umgekehrt eine urwüchsige und bedingungslose Verbundenheit zum Vaterland nachgesagt und abverlangt wird. Nur so erklärt sich z.B., dass deutschstämmigen Bürgern der USA 1917 nach erfolgtem Kriegseintritt staatlicherseits der herkunftssprachliche Unterricht eingeschränkt, die Publikationen zensiert und ein „Espionage Act“ zugedacht wurde, während man sie volksseitig als „Hunnen“ verunglimpfte und sie zu Namensänderungen à la Smith & Myers bewog. Die Internierung ehemaliger Japaner nach Pearl Harbor gehört auch hierher. Um außer der Geschichte auch die deutsche Gegenwart zu bemühen, sei auf wiederholte Deutschlandbesuche des türkischen Staatsmanns Erdoğan verwiesen, wo er stets hier eingebürgerte Landsleute adressierte, denen er nahelegte, die alte Sprache und Kultur zu pflegen, sich nicht gänzlich zu assimilieren u.Ä. Was regelmäßig zum einhelligen Protest der deutschen Politikerriege führte – die seinerzeit eben dies für die sog. Russlanddeutschen in der Sowjetunion forderte.

Auch die doppelte Staatsbürgerschaft, die die Ampelkoalition erst 2024 in allgemeiner Form erlaubt hat, ist kein Gegenbeispiel zur grundsätzlichen Skepsis gegenüber allerhand ‚Volksfremdem‘. Es hat lange Jahre und Debatten gebraucht, bis sie zustande kam, bis also der gesetzgeberische Wille überwog, auch den Teil der integrationsbereiten Einwanderer, die von der alten Identität nicht ganz lassen wollen (oder denen das, Beispiel Iran oder Afghanistan, ihr Herkunftssaat verbietet), so gut es geht ins Staatsvolk einzugemeinden. Überdies hat man nicht gehört, dass Leute wie Jens Spahn ihren früher geäußerten Vorbehalt zurückgenommen hätten, nach dem „zwei Staatsbürgerschaften auch zwei Herzen [sind]. Ich wünsche mir, dass das deutsche Herz dann stärker schlägt – aber das ist nicht garantiert.“ Deshalb ist Spahn heute noch dagegen, die Staatsbürgerschaft „regelhaft zu vergeben“, und dafür, sie straffälligen Doppelstaatlern zu entziehen.

Auf wen die Urheberschaft der Fremdenfeindlichkeit zurückgeht, ist also keine Frage. Das hat auch die Ausführung im Abschnitt weiter oben ergeben, wonach der Unterschied zwischen den ‚legalen‘ und den ‚irregulären‘ Migranten keine Eigenschaft von deren Person oder Motiven darstellt. Sondern sich aus dem politischen Entschluss ergibt, für die einen die staatliche Abgrenzung von In- und Ausländern auf ökonomischer Grundlage zu relativieren und bei den anderen zu vollstrecken.

Die Relativierung hebt die prinzipielle Unterscheidung nicht auf, sondern ist ein Produkt der kapitalistisch entfalteten, vulgo globalisierten Staatenwelt. Einerseits braucht der moderne Kapitalismus einen grenzenlosen Zugriff auf Arbeitskräfte; die Beschränkung auf einen nationalen Standort wäre ein Verwertungs- und Wachstumshindernis. Also nehmen die Staaten im Interesse des Konkurrenzerfolgs ihrer Wirtschaft, von dem sie selbst abhängen, in dieser Hinsicht den Grenzen das Trennende und werden darüber zu Einwanderungsgesellschaften für ein weltweites Proletariat. Zugleich bleiben diese Gemeinwesen national verfasst; und im internationalen Konkurrenzkampf ist die eingegrenzte Nation samt dem darin und dadurch definierten Volk das exklusiv und souverän verfügbare Mittel der Staatsmacht. Ihre Anführer haben durchaus das Bewusstsein und verfolgen die Absicht, sich dieser Machtbasis und der Anerkennung ihrer Legitimität beim Volk zu versichern. Man weiß also, warum sich ein ehemaliger Ministerpräsident sogar bei IT-Fachkräften lieber „Kinder statt Inder“ (Jürgen Rüttgers) wünschte. Aus dem genannten Grund erfahren deutsche Staatsbürger eine gewisse Privilegierung nicht nur beim Wahlrecht, sondern auch beim Aufenthaltsrecht, bei Sozialleistungen und der Bildungsförderung, im Arbeitsmarktzugang oder bei der Staatsangehörigkeit der Kinder. Daraus erklärt sich auch, dass die materiellen Existenzbedingungen des Fußvolks seine Führung nicht unbekümmert lassen, was als Gesichtspunkt in ihrer Arbeitsmarkt-, Wohnungs-, Familien- oder Sozialpolitik stets präsent ist.

Der Widerspruch der Ausländerfrage

Freilich unter der Prämisse von Erfolg und Wachstum der Wirtschaft auf dem nationalen Standort und über diesen hinaus. Dies wiederum beinhaltet, dass in deren Auf und Ab etliche, vor allem proletarische Lebensverhältnisse geschädigt oder prekär werden. Die erwünschte Wohlfahrt und auch die Krisen des Kapitals verfahren ziemlich gleichmacherisch mit den Unterschieden zwischen Lohnarbeitern und weiteren Erwerbsbürgern deutscher und ausländischer Herkunft. Als Konkurrenz um Beschäftigung, Lohnhöhe oder auf dem Wohnungsmarkt bekommen das alle ihrer Klassenlage gemäß zu spüren. In der Summe durchkreuzt der internationalisierte Kapitalismus mit seinem Beitrag zur Herstellung einer globalen Arbeitsbevölkerung also eine Differenzierung, auf die sich sein nationalstaatlicher Förderer gerade angewiesen sieht.

Dieser Widerspruch ist nicht aus der globalisierten Welt zu schaffen. Er treibt die politische Klasse hier und anderswo um und führt in sicherer Konsequenz zu deren Fraktionierung in konträre Parteien. Die einen schlagen sich eher auf die Seite eines nationalen Erfolgswegs als Einwanderungsland, die anderen befürchten darin eher den Verlust der völkischen Substanz für den Status der Nation. In der Regel versagen beide Fraktionen dem Gesichtspunkt der anderen nicht gänzlich die Anerkennung und lösen sich gelegentlich in der Staatsführung ab. In der Parteienlandschaft von Polen oder Spanien (siehe die Beispiele oben) ist das schon Praxis, der deutschen steht das vielleicht bevor. Daneben gibt es historische und neuere Beispiele für die radikale Ausbildung eines politischen Willens, das Vaterland vor Überfremdung zu retten und dafür den demokratischen Pluralismus zu überwinden und/oder den grenzenlosen Kapitalismus zu zügeln.

Auch in der Bevölkerung spiegelt sich der Widerspruch der Ausländerfrage und der Weise, wie die jeweilige Regierung ihn bearbeitet. Bei aller Zuspitzung von der kosmopolitischen Fremdenliebe bis zum hasserfüllten Ressentiment herrscht dabei ein geteiltes falsches Bewusstsein über den Auftrag der staatlichen Volksfürsorge. Da sie unter dem Vorbehalt des wirtschaftlichen Erfolgs stattfindet, eine permanente Unzufriedenheit der ‚kleinen Leute‘ also verbürgt ist, geht kaum jemand der Systemlogik dieser Beschädigung nach, die vielmehr und gemeinhin auf politisches ‚Versagen‘ zurückgeführt wird. Die populäre Täuschung über die vermeintlichen Aufgaben des Vaterlands hat allerdings ihre spezifische Grundlage. Zwar erfährt kein Einheimischer und/oder Passdeutscher die staatliche Garantie, dass er sich von seiner Nationalität etwas kaufen kann. Dies muss er sich erst einmal in der Konkurrenz ergattern. Das herrschaftliche Kümmern um die Loyalität der Staatsbürger erzeugt und fördert bei denselben aber den Standpunkt, als Adressaten dieser besonderen Sorge auch die Herren im Haus zu sein. Unbesehen der tatsächlichen Besitzverhältnisse und Zweckbindungen betrachten sie dann die Arbeitsplätze, Wohnungen, Innenstädte, auch das Bürgergeld, die Rentenversicherung usw. als deutsches Gemeinschaftseigentum.

Ausländerfreunde, die schon seit der restriktiven Asylpolitik der Ampel weniger geworden sind, zeigen sich bereit und plädieren dafür, dieses imaginierte Gut mit Fremden zu teilen. Angesichts der staatlichen Grenzwächter und Abschieber in Europa oder anderswo trägt dieser Idealismus nicht weit (vielleicht verhalf er der Linkspartei zu ein paar Parlamentssitzen). Ausländerfeinde bestehen dagegen auf dem Ausschluss der ‚Volksfremden‘, mindestens dem der ungebrauchten, und auf der Sicherstellung, dass „Deutschland zuerst“ kommt. Die vielen Bürger dazwischen folgen der Obrigkeit und zeigen ihren ‚Realismus‘ und ihr Benehmen darin, zu akzeptieren und zu würdigen, dass ‚wir‘ ‚nun einmal‘ Ausländer brauchen, die sich für ‚uns‘ als Pflege- und Putzkräfte oder als Müll-, Land- und Bauarbeiter die Hände schmutzig machen. Was soll der Migrationswende da im Wege stehen?

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Der Autor:

Georg Schuster (Pseudonym) verbrachte sein Berufsleben als Lehrkraft. Von 2013 bis Ende 2019 schrieb er für das GEW-Magazin „Auswege“. Nach dessen Einstellung war er bis Anfang 2023 Autor bei „Telepolis“. Seither schreibt er für „Overton“.

 

 

 

 

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