Zwei Drittel gehen auch krank zur Arbeit – bei Daimler und Amazon gibt´s Anwesenheitsboni

Im Jahr 2016 hatte der „DGB-Index Gute Arbeit“ eine Untersuchung zum Thema „Präsentismus“ veröffentlicht, die aufdeckte, dass insgesamt zwei Drittel aller Beschäftigten mindestens einmal im Jahr krank zur Arbeit gegangen sind, rund die Hälfte der Beschäftigten eine Woche und mehr trotz Krankheit gearbeitet hat, bei jedem Siebten waren es sogar drei Wochen und mehr.

Eine neue repräsentative Befragung von Beschäftigten bestätigt diesen Trend für das Jahr 2017. Immer mehr Menschen gehen trotz Krankheit zur Arbeit. Es erschienen im vergangenen Jahr in Deutschland gut zwei von drei Arbeitnehmern krank bei der Arbeit. Jeder Dritte ist, zwei Wochen oder noch länger krank zur Arbeit gegangen.

Zum Thema Krank sein und arbeiten gehen haben sich Daimler und Amazon nun einfallen lassen, dass ihre Arbeitskräfte ihren Lohn aufbessern können, wenn sie sich selten bzw. überhaupt nicht krankmelden. Dort gilt nun, wer nur wenige Krankheitstage über das Jahr ansammelt, dem stellen die Arbeitgeber Bonuszahlungen in Aussicht.

Das Robert-Koch-Institut warnte vor diesem Verhalten auch bei der diesjährigen Grippewelle. Wer erkältet ist, sollte direkt wenigstens ein paar Tage zu Hause bleiben, um sich auszuruhen und zu entspannen, denn die Infektionsgefahr ist gerade in den ersten beiden Tagen einer Erkältung am Größten. Auch sind Kranke nicht so fit und aufnahmefähig, so können schnell Fehler bei der Arbeit passieren, und die können den Unternehmen deutlich mehr Geld kosten, als wenn der Mitarbeiter zwei oder drei Tage zu Hause bleibt. Wenn die Arbeitnehmer auf ihren Arzt hörten und sich krankschreiben ließen, würden sie schneller wieder gesund und steckten auch keine anderen Kollegen an.

Die meisten Unternehmen sehen das allerdings ganz anders. Sie sind der Meinung, dass die Lohnarbeiter allzu oft verantwortungslosen bis betrügerischen, in jedem Fall aber viel zu häufig Gebrauch von ihrer Freiheit machen, sich krank zu melden.

 

Amazon und Daimler greifen zu einer Maßnahme, die ihre Mitarbeiter zu mehr Rücksichtslosigkeit gegen sich selbst und ihre Gesundheit und zu Konkurrenzkämpfen der Beschäftigten untereinander am Arbeitsplatz anstacheln soll.

Die Arbeitskräfte können so ihren Lohn aufbessern, wenn sie sich selten bzw. überhaupt nicht krankmelden und wer nur wenige Krankheitstage über das Jahr angesammelt hat, dem stellen die Arbeitgeber Bonuszahlungen in Aussicht.

Bei Daimler gibt es einen Bonus für eine bessere „Krankmeldungskultur“

Der Autokonzern wirbt damit, Anwesenheit zu belohnen, für die Beschäftigten, die sich nicht krankmelden soll es einen Bonus von bis zu 200 Euro jährlich geben.

Im Rahmen seiner Präsentismusforschung (die befasst sich mit dem Verhalten von Arbeitnehmern, die trotz Krankheit am Arbeitsplatz sind) hat Daimler in einer zweijährigen Testphase die Bedingungen herausgearbeitet, an die die Boni zur optimalen Wirkung gebunden sind:

  • Ist ein Beschäftigter etwa bereits krankheitsbedingt ausgefallen und hat damit seinen ganzen Jahresbonus verspielt, wird er kaum noch einen Anreiz verspüren, das restliche Jahr über sich nicht krankzumelden. Deswegen werden die Boni schrittweise gestrichen und auf jeweils ein Quartal bezogen.
  • Zu kurz dürfen die Zeiträume aber auch nicht gewählt sein, denn mal einen Monat lang keinen Tag zu fehlen, ist ja auch ohne Bonuszahlung ein Leichtes.
  • Die Höhe der Maximalzahlung von 200 Euro pro Jahr ist ebenfalls optimal kalkuliert.
  • Die Hälfte der Belegschaft bei Daimler hat im Schnitt ohnehin keine Fehltage. Daneben gibt es eine (zumeist ältere) Minderheit, die so lange krank ist, dass der Konzern nicht damit rechnet, dass sich das durch die Anwesenheitsprämie abstellen lässt. Die Kosten der Maßnahme sind auf die Fehltagesenkung jener 20-30 Prozent der Mitarbeiter berechnet, die mit kurzen Krankheitsphasen ca. ein Viertel der Fehltage verursachen. Die insgesamt fälligen Zahlungen sollen durch die Einsparung bezahlter Krankheitstage bei dieser Zielgruppe kompensiert werden.

Über die Unterbreitung eines schnöden materiellen Anreizes für nur einen Teil der Beschäftigten soll die Maßnahme dabei weit hinausreichen und die gesamte Belegschaft beeinflussen.

Die Höhe der Prämie bei Daimler ist finanziell für die mit vergleichsweise hohen Entgelten ausgestattete Stammbelegschaft uninteressant. Das wird von den Betriebsleitungen auch so gesehen, doch die initiierte Gleichung von Anwesenheit und Gesundheit gibt den Beschäftigten klare Signale: Sie sollen verstehen, dass auf ihre Praxis des Krankmeldens ein nachhaltiger Blick geworfen wird, jeder einzelne für Gesamtfehlzeiten mit verantwortlich ist und dass sich am Krankenstand auf jeden Fall etwas ändern muss

Damit der Laden brummt, soll bei Daimler künftig nur verantwortlich gefehlt werden, also möglichst gar nicht.

Bei Amazon will man mit Prämien solidarisch den Krankenstand senken

Bei Amazon hantiert man ebenfalls mit Anreizen, um den überdurchschnittlich hohen Krankenstand zu senken. Dort werden finanzielle Angebote gemacht, das geringe Entgelt der Beschäftigten ordentlich aufzubessern:

  • An einigen Amazon-Betriebsorten können Mitarbeiter ihr Gehalt um zehn Prozent steigern, wenn sie nicht krank werden.
  • Der Versandhändler gruppiert seine Beschäftigten seit dem vergangenen Jahr wie Olympioniken ein, je nachdem, wie oft sie sich krankgemeldet haben:
    • Anwesenheit am Arbeitsplatz wird mit einem Bonus honoriert
    • wer sich seltener krankmeldet, bekommt mehr Geld
    • wer keinen Tag im Monat wegen Krankheit fehlt, wird zum Gold-Mitarbeiter ernannt
    • wer einen Tag zu Hause war, hat den Silber-Status
    • bei zwei Krankheitstagen gibt es Bronze.
  • Es gibt ein Bonussystem, das aus mehreren Komponenten besteht. Es zählen nicht nur die Krankheitstage der einzelnen Beschäftigten, um eine Prämie von bis zu zehn Prozent des monatlichen Bruttogehalts zu bekommen, sondern auch die Fehltage des gesamten Teams. Wer sich krankmeldet, schmälert so nicht nur die eigene Bonuszahlung, sondern auch die seiner Kollegen.
  • Das spornt die Beschäftigten zur Konkurrenz an, wo jeder nicht nur seinen eigenen Medaillenspiegel kontrolliert, sondern den der Kollegen gleich mit. Im Krankheitsfall muss der Einzelne nicht nur die Arbeit der anderen miterledigen, sondern die können ihm obendrein seinen Bonus verhageln.
  • Die Beschäftigten setzen damit nicht nur ihre Teamkollegen, sondern zuerst sich selbst dem zusätzlichen Druck aus, sich lieber nicht krankzumelden. Wer will schon dafür verantwortlich sein, dass den Arbeitskollegen ein empfindlicher Teil ihres Lohnes durch das eigene Verhalten entgeht.

Amazon will so seinen überdurchschnittlich hohen Krankenstand mit einer Lohnform entgegentreten, die Zynismus, Erpressung und Anreiz kombiniert und die dann noch falsch verstandene Solidarität zur Tugend erklärt.

 

 

Der volkswirtschaftliche Schaden durch kranke Arbeitnehmer, die sich zur Arbeit schleppen, ist bekanntlich erheblich und langfristig mit hohen Folgekosten verbunden. Viele sind sich der Tatsache nicht bewusst, dass die Anwesenheit erkrankter Beschäftigter auch betriebswirtschaftlichen Schaden anrichtet und das Unternehmen viel teurer zu stehen kommt, als das Auskurieren der Krankheit.

Doch diese Einsicht wird überlagert durch offensive Verbreitung des Anspruchs der organisierten Unternehmerschaft auf eine nimmerkranke Arbeiterschaft.

Mehr noch, der unternehmerische Standpunk wird zum Gemeinwohl der deutschen Volkswirtschaft geadelt. Er steht ganz in der Tradition jenes ehernen Grundsatzes der Lohnarbeit, wonach Unternehmer Geld für Arbeit bezahlen, damit sie das Recht auf ihre geldwerten Leistungen erwerben und Auskurieren einer Krankheit als „blaumachen“ abgetan wird.

Es ist ein Rechtsverhältnis, in dem alle persönlichen und sachlichen Notwendigkeiten der Arbeitskraft, über die so verfügt wird, äußerlich sind. Ein Verhältnis, kraft dessen Unternehmer gegen die Notwendigkeiten und Bedürfnisse der abhängig Beschäftigten handeln und ihren Anspruch auf deren ausgiebige Betätigung geltend machen. Aufgrund der Tatsache, dass die Beschäftigung beim Unternehmen in der Regel ihre einzige Einkommensquelle ist, dürfen sie großzügig für dessen Gewinn verschlissen und gesundheitlich ruiniert werden. Die Folgekosten werden dann sozialisiert und von allen getragen.

 

Diese Sichtweise wird auch von einigen Einzelgewerkschaften im DGB geteilt. So positioniert sich die IG Metall für das Geschäftsmodell bei Daimler laut SWR online so: „Solche Bonus-Modelle sind immer dann inakzeptabel, wenn sie bestehendes Entgelt ersetzen. Das trifft nach unserer Information bei Daimler nicht zu, sondern die Prämie wurde während des Pilotversuchs on top gezahlt.“

Wenn die vom Kapital geforderte und von den Beschäftigten praktizierte Rücksichtslosigkeit gegen die eigene Physis in aller Form bezahlt wird, ist für die IG Metall nichts dagegen einzuwenden.

 

 

 

Quellen: SWR, SZ, DGB , Gegenstandpunkt, blog.betriebsrat.de 

 Bild: medical observer