Von den Nichtbetroffenen kaum bemerkt, ist im Rahmen der damaligen rot-grünen sozialen Kahlschlagpolitik schon seit über 20 Jahren die Berufsunfähigkeitsrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung verschwunden und das, obwohl jeder vierte Beschäftigte im Laufe seines Arbeitslebens berufsunfähig wird. Die Berufsunfähigkeitsrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung wurde zum 31.12.2000 abgeschafft und durch die Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung (Erwerbsminderungsrente) ersetzt. Laut Verbraucherzentrale NRW konnten im vergangenen Jahr 40 Prozent aller Ratsuchenden keine vernünftige Berufsunfähigkeitsversicherung auf dem Versicherungsmarkt finden. Betroffen sind nicht die Menschen in Risikoberufen, sondern es geht hier um die einfache Krankenschwester oder den Mechatroniker.
Versicherungswissenschaftler behaupten, dass die damalige Regierung beim Zerfleddern der gesetzlichen Rente Verfassungsbruch begangen hat, denn das Sozialstaatsprinzip, das in Artikel 20 des Grundgesetzes verankert ist, wurde verletzt. Außerdem hat der Staat als Rechtsstaat auch seine – ebenfalls aus Artikel 20 resultierende – Gewährleistungsverantwortung verletzt.
In einem Sozialstaat, so wie er bei uns auch noch genannt wird, gilt der Grundsatz, dass der Staat für eine hinreichende Grundversorgung im Bereich der Kranken-, Renten-, Berufsunfall- und Pflegeversicherung zu sorgen hat. Ein Teil der gesetzlichen Rentenversicherung war, das Risiko berufsunfähig zu werden, abzusichern. Die Berufsunfähigkeit ist genau genommen eine langanhaltende, dauerhafte Erkrankung eines Menschen, durch die er seinen Beruf nicht oder zu einem erheblichen Teil nicht ausüben kann.
Durch die Abschaffung dieser gesetzlichen Versicherung zum 31.12.2000 wurde das Sozialstaatsprinzip, das in Artikel 20 des Grundgesetzes verankert ist, verletzt. Außerdem ist der Staat als Rechtsstaat auch seine – ebenfalls aus Artikel 20 resultierende – Gewährleistungsverantwortung nicht nachgekommen. Mit der Gewährleistungsverantwortung des Staates ist gemeint, dass der Staat die Erfüllung politisch gewollter öffentlicher Aufgaben sicherstellt und er gewährleistet, dass diese Aufgaben erledigt werden. Der Staat ist zwar nicht verpflichtet, eine Vollversorgung vorzuhalten, aber eine Grundversorgung muss er bereitstellen.
Diese Grundversorgung ist aber bei den privaten Berufsunfähigkeitsversicherern nicht gegeben.
In dem Kürzungswahn der damaligen rot – grünen Regierung ist dieser Schnitt kaum öffentlich geworden. In den ersten Jahren haben auch die Medien gar nicht erkannt und aufgegriffen, dass hier eine Rechtsschutzlücke entsteht, die im Zeitablauf immer größer wird. Neuere Untersuchungen haben gezeigt, dass Beschäftigte, die einer schweren körperlichen Tätigkeit nachgehen, entweder gar keine Versicherung finden oder Prämien aufbringen müssen, die für sie unbezahlbar sind.
Die Versicherungswirtschaft grenzt systematisch bestimmte Berufsgruppen und schon vorerkrankte Menschen aus. Da kann schon eine Allergie oder eine Behandlung wegen Prüfungsangst dazu führen, dass die Versicherungen auch junge Menschen von dieser Absicherung ausschließen.
Wenn die Beschäftigten eine Versicherung gefunden haben die sie aufnimmt, dann ist noch lange nicht klar, dass der Versicherungsschutz auch greift. Falls später der Versicherungsfall eintritt, erhalten nur 70 Prozent aller Beschäftigten, die eine Leistung wegen Berufsunfähigkeit beantragen, tatsächlich auch Leistungen von den Versicherungen.
So ist die Altersarmut schon vorprogrammiert.
Letztendlich ist die private Berufsunfähigkeitsversicherung nur ein Geschenk an die Versicherungswirtschaft, bei der sie aussuchen kann, wen sie versichert und wen nicht. Das Modell der privaten Absicherung ist auch hier gescheitert.
Erwerbsminderungsrenten im Sinkflug
Die Abschaffung der Berufsunfähigkeitsrente in der gesetzlichen Versicherung zum Ende des Jahres 2000 sollte durch die neue Erwerbsminderungsrente abgefedert werden.
Doch bereits bei Zahlen der abgelehnten Rentenanträge zeigt sich, dass die Hürden für die Rentengewährung recht hoch sind. Mehr als 42 Prozent der Menschen, die wegen einer Erwerbsminderung in Rente gehen wollten, sind im Jahr 2020 mit ihrem Antrag gescheitert. Die Zahl der abgelehnten Anträge stieg von rund 143.000 im Jahr 2019 auf 154.000 im Jahr 2020.
Trotz des deutlichen Anstiegs der Zahlbeträge während der vergangenen 10 Jahre befindet sich die Erwerbsminderungsrente seit der Jahrtausendwende im ständigen Sinkflug. Der durchschnittliche Zahlbetrag der im Jahr 2021 rund 142.000 neu zugegangenen Renten wegen Erwerbsminderung betrug im Westen 976 Euro und im Osten 991 Euro. Gegenüber dem Jahr 2000 entspricht dies einem Zuwachs von 28 Prozent (West) bzw. 38 Prozent (Ost).
Doch macht erst der Vergleich auf Grundlage einer einheitlichen Wertebasis bei dieser Rechnung einen Sinn und erst die Umrechnung der Beträge auf eine einheitliche Wertebasis (2019) macht den Sinkflug deutlich: Im Rentenzugangsjahr 2019 lagen die durchschnittlichen Zahlbeträge bei nur 89 bzw. 86 Prozent der auf aktuelle Werte umgerechneten Beträge des Zugangsjahres 2000. Wenn man nun annimmt, dass der gesamte Zugang an Erwerbsminderungsrenten des Jahres 2000 auch im Jahr 2019 noch im Rentenbezug war, hätte deren durchschnittlicher Zahlbetrag (West) nicht 713 Euro, sondern 897 Euro betragen.
Der Sinkflug der durchschnittlichen Zahlbeträge ist auf verschiedene Ursachen zurückzuführen, z.B. darauf, dass:
- 2001 erstmals Abschläge eingeführt wurden,
- parallel zu den Abschlägen auch die Zurechnungszeit verlängert wurde,
- der Frauenanteil im Rentenzugang gestiegen ist,
- es stark rückläufige Beitragszeiten in Kombination mit einer im Durchschnitt gesunkenen Entgeltposition bei den Männern gibt
und die Bedeutung von Zeiten der (Langzeit- oder Mehrfach-) Arbeitslosigkeit gewachsen ist.
Die o.g. neuen Entwicklungen verweisen aber auch darauf, dass eine Reform des Leistungsrechts der Erwerbsminderungsrenten, die sich seit 2014 auf die Verlängerung der Zurechnungszeit konzentriert, letztendlich auch zu kurz greifen und keine nachhaltige Umkehr des Sinkflugs bei den Erwerbsminderungsrenten herbei führen.
Auf Druck der Sozialverbände und der Gewerkschaften hat die Bundesregierung vor vier Jahren versucht nachzubessern und eine unter bestimmten Bedingungen mögliche staatliche Förderung für Berufsunfähigkeitsversicherungen beschlossen.
Aber derzeit gibt es keine einzige Versicherung, die ein solches Produkt auch anbietet.
Hier wird wieder einmal deutlich, wie groß der Einfluss der Versicherungswirtschaft ist.
Grundabsicherung für den Fall der Berufsunfähigkeit muss wieder Teil der gesetzlichen Renten- respektive Krankenversicherung werden
Wenn der Staat es unterlässt, die Grundabsicherung für den Fall der Berufsunfähigkeit wieder in die gesetzlichen Renten- respektive Krankenversicherung zu integrieren, muss schnellstens geprüft werden, ob im Wege einer Verfassungsbeschwerde eines berufsunfähig gewordenen Menschen, der nun keine Sozialleistung bekommt, der Staat zum Handeln verpflichtet werden kann.
Um das gleiche Ziel zu erreichen, wäre auch eine Petition denkbar.
Die Gewerkschaften sollten sich dafür einsetzen, dass jeder Schritt, der dazu führt, dass letztlich das Sozialstaatsprinzip und die daraus resultierende Gewährleistungsverantwortung des Staates im Bereich der Renten-, Kranken-, Berufsunfall- und Pflegeversicherung ausgehöhlt wird, mit Verfassungsbeschwerde angegriffen wird.
Auch sollte der Druck auf die Abgeordneten und Organe des Bundestages erhöht werden, sie hätten nämlich die Möglichkeit, eine abstrakte Normenkontrollklage beim Bundesverfassungsgericht zu erheben.
Quellen: H-P Schwintowski, Report Mainz, VZ NRW, SGB Bild: verbraucherberatung-bremen