Der Koalitionsvertrag der Ampelkoalition: Höherer Mindestlohn, aber Ausweitung der Minijobs – kann der Niedriglohnsektor dadurch reduziert werden?

Von Franziska Wiethold

In Deutschland arbeiten ca. 21% aller abhängig Beschäftigten im Niedriglohnsektor. Er umfasst Beschäftigte, deren Stundenlöhne nur bis zu 2/3 des Median-Stundenlohns betragen. Dieser Median-Stundenlohn betrug 2021 18,41 €, die Niedriglohnschwelle lag also bei 12,27 € (destatis Dezember 2021). Selbst Vollzeitbeschäftigte kamen damit bei einer 38-Stunden-Woche nur auf ein Bruttomonatsentgelt von 2027 €. Dieser Niedriglohnsektor wurde in den letzten Jahren trotz guter Arbeitsmarktentwicklung, steigender Realeinkommen und sinkender Arbeitslosigkeit nur wenig reduziert. Er erreichte 2011 den Höchststand mit 24,1% aller Beschäftigten, stagnierte bis 2017 bei ca. 23% (IAQ Report 05-2020) und sank bis 2021 auf 21%.

Die Ampelkoalition will dies ändern: „Leistung muss anerkannt und Arbeit gerecht bezahlt werden. Darum werden wir den Mindestlohn auf 12 € anheben und uns für Entgelt gleichheit von Frauen und Männern einsetzen.“ (Koalitionsvertrag 2021-2025, S. 6). Die SPD – unterstützt durch Bündnis 90/die Grünen – konnte also ihr „Leuchtturmprojekt“ aus dem Bundestagswahlkampf trotz FDP-Regierungsbeteiligung durchsetzen.

Das ist ein großer Erfolg.

Es ist ein weiterer Erfolg der breiten Kampagne für einen gesetzlichen Mindestlohn und gegen Niedriglöhne; sie begann vor mehr als 15 Jahren, als die Gewerkschaften ver.di und NGG 2006 diese Kampagne ins Leben gerufen hatten, an der sich immer mehr Organisationen beteiligten.

Auch die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik („Memo- Gruppe“) hatte entgegen dem ökonomischen Mainstream bereits ab dem Memorandum 2006 für einen gesetzlichen Mindestlohn geworben. Nachdem die gewerkschaftsinternen Auseinandersetzungen um das Verhältnis von Tarifautonomie und gesetzlichem Mindestlohn beigelegt worden waren, verbreiterte sich diese Kampagne. Die Große Koalition führte 2015 vor allem auf Druck der SPD den ersten gesetzlichen Mindestlohn in Deutschland von zunächst 8,50 € ein. Die SPD revidierte damit einen Teil ihrer Agenda 2010, hatte doch Bundeskanzler Schröder Anfang der 2000er Jahre noch ausdrücklich den Ausbau eines Niedriglohnsektors forciert. Die Einführung war von heftigen Auseinandersetzungen begleitet. Wirtschaftsverbände und die ihnen nahestehenden Institute prophezeiten die Vernichtung von zigtausend Arbeitsplätzen, den Verlust der deutschen Wettbewerbsfähigkeit und die Schwächung der Tarifautonomie. Das Gegenteil trat ein. Aber bald zeigte sich, dass der damals eher niedrig angesetzte gesetzliche Mindestlohn und die späteren Erhöhungen den Niedriglohnsektor nur wenig reduzieren konnten. Gewerkschaften und weitere Organisationen forderten deshalb, den Mindestlohn deutlich stärker anzuheben als im Mindestlohngesetz vorgesehen; denn die Mindestlohnkommission, die der Regierung regelmäßig eine Anhebung des Mindestlohnes vorzuschlagen hat, sollte sich dabei an den Tarifabschlüssen der Vergangenheit orientieren. SPD und Bündnis 90/die Grünen forderten im Bundestagswahlkampf 2021 deshalb eine einmalige Anhebung auf 12 €, die Partei Die Linke auf 13 €. Danach sollte wieder die Mindestlohnkommission wie bisher Verbesserungen auf der Grundlage der Tarifabschlüsse vorschlagen.

Bundesarbeitsminister Heil hat jetzt (Ende Januar 2022) einen Referentenentwurf vor- gelegt, der die Einführung der 12 € für den 1.10.2022 vorsieht. Die bisherigen Ausnahmen für Langzeitarbeitslose und für Jugendliche unter 18 Jahren sollen zwar bestehen bleiben. Aber anders als 2015 soll es für tarifliche Stundenlöhne unter 12 € keine Übergangsfrist geben, in der sie weiter gelten. Die Auseinandersetzung wird jetzt konkreter. Das Grundprinzip eines gesetzlichen Mindestlohnes wird von Arbeitgeberverbänden oder von CDU/CSU zwar nicht mehr offensiv bekämpft. Auch die 12 € werden zwar als zu hoch kritisiert, aber nicht prinzipiell in Frage gestellt. Mit ihren früheren Behauptungen, zigtausend Arbeitsplätze würden vernichtet, sind die Wirtschaftsverbände und die meisten Ökonom*innen ebenfalls vorsichtiger geworden – zu groß war die spätere Blamage angesichts der steigenden Erwerbstätigkeit nach 2015. Aber die Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände (BDA) droht jetzt mit Rechtsklagen, weil der Staat rechtswidrig in die Rechte der Mindestlohnkommission und generell in die Tarifautonomie eingreifen würde – ausgerechnet die Arbeitgeber, die vor ca. 20 Jahren die Tarifautonomie und die Tarifbindung u.a. durch die Einführung einer oT-Mitgliedschaft („ohne Tarifbindung“) deutlich schwächten. Die BDA scheint aber den Erfolgsaussichten ihrer angedrohten Rechtsklage selber nicht zu trauen. Denn gleichzeitig fordert sie, dass der Mindestlohn von 12 € erst 2023 in Kraft treten und bis Ende 2024 nicht angehoben werden solle. Tarifentgelte unterhalb der 12 € sollten außerdem für einen Übergangszeitraum weiter gelten. Beides würde die Wirkung des neuen Mindestlohnes – auch angesichts der gestiegenen Inflation – deutlich abschwächen. Es ist sehr zu hoffen, dass die Bundesregierung darauf nicht eingeht und ihr Projekt auch gegen den Widerstand des Kapitals durchsetzt.

Im Koalitionsvertrag wurde für diesen Erfolg aber ein hoher Preis bezahlt: die Verdienst- grenze für die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse (gfBv) soll ebenfalls zum 1.10.2022 von 450 € auf 520 € heraufgesetzt und danach dynamisiert werden: sie soll 10 Wochenstunden des jeweiligen Mindestlohnes betragen. Die Verdienstgrenze für „Midijobs“, für die geringere Sozialversicherungsbeiträge gezahlt werden müssen, soll auf 1600 € erhöht werden. Der Übergang zwischen Mini- und Midijob soll erleichtert werden, indem die Sozialversicherungsbeiträge im Übergang zu Midijobs noch einmal gesenkt werden sollen. Diese Aufwertung der gfBv ist ein herber Rückschlag bei der Bekämpfung des Niedriglohnsektors. Denn mehr als ¾ der gfB arbeiten zu Niedriglöhnen. Es ist außerdem ein herber Rückschlag für die Förderung einer gleichberechtigten Erwerbsarbeit von Frauen, da diese Arbeitsverhältnisse die Ideologie eines kleinen Zuverdienstes für „Hausfrauen“ verfestigen.

Auswirkungen des geplanten Mindestlohnes:

Ein Mindestlohn von 12 € wird deutlich mehr Niedriglöhne anheben als 2015. Der da- malige Mindestlohn von 8,50 € lag von Anfang an unter der damaligen Niedriglohn- schwelle; der Abstand vergrößerte sich danach sogar:

  Niedriglohnschwelle              Mindestlohn                     Abstand in%

2015 10,22 € 8,50 € 16,8%
2017 10,73 € 8,84 € 17,6%
2019 11,50 € 9,19 € 20,1%
2021 12,27 € 9,60€ 21,8%
2022 ge-

schätzt

12,64 € (+3% zu 2021) 9,82 € ab 1.1.22

10,45 € ab 1.7.22

22,3%

17,3%

Quelle: IAQ-Report 06-2021; destatis 12-21

Ein Mindestlohn von 12 € ab 2022 würde dagegen nur noch 5,3% unter der geschätzten Niedriglohnschwelle liegen. Das BMAS schätzt, dass zwischen 6-8 Mio. Beschäftigte davon profitieren werden. Armutslöhne – definiert als 60% unter dem Median-Durch- schnittslohn – würden bei entsprechender Durchsetzung weitgehend verschwinden, da die 12 € ungefähr der 60-%-Grenze entsprechen. Der Niedriglohnsektor insgesamt wird aber nur dann reduziert, wenn die Stundenlöhne vieler Beschäftigter gleichzeitig auch die Niedriglohnschwelle von ca. 12,64 € überspringen.

In den Jahren ab 2015 konnten nur wenige Beschäftigte die Niedriglohnschwelle über- springen, das die jeweiligen gesetzlichen Mindestlöhne darunter lagen. Der Niedriglohn- sektor wurde überwiegend „gestaucht“. Auch das sollte aber nicht unterschätzt werden: Während die untersten Lohngruppen – in Dezilen gemessen – zwischen 1995 und 2009 deutlich an realer Kaufkraft verloren hatten, stiegen sie ab 2014 wieder an, erreichten allerdings bis 2018 noch nicht wieder das Niveau von 1995 (DIW 7-2020).

Die untersten Einkommensgruppen konnten auch durch die gesellschaftliche und tarif- politischen Kampagne gegen Niedriglöhne gesteigert werden, die auch nach 2015  weiterging. In vielen Tarifauseinandersetzungen setzten Gewerkschaften Tariferhöhungen vor allem im unteren Entgeltbereich durch. Denn der gesetzliche Mindestlohn galt als Untergrenze, die in Tarifverträgen überschritten werden sollte. Für viele Branchen konn- ten in den folgenden Jahren außerdem über das Entsendegesetz verbindliche Mindest- löhne für Ungelernte oberhalb des gesetzlichen Mindestlohnes durchgesetzt werden: z.B. für den Bau- und Gebäudereinigerbereich 12,85 €, für den Pflegebereich 12,00 €, für Geld- und Wertdienste regional zwischen 12,16 € und 15,03 € usw. Deutlich darunter liegt allerdings der Branchenmindestlohn für Zeit- und Leiharbeit mit 10,45 €. Bestärkt wurde die Auseinandersetzung gegen Niedriglöhne auch durch die wachsende Kritik an der Altersarmut von Rentenbezieher*innen, die ihr Leben lang in Niedriglöhnen gearbeitet hatten. Tarifpolitische und gesetzliche Auseinandersetzungen wurden also miteinander verknüpft, um Niedriglöhne generell zu delegitimieren. Aber zugleich wurden die Grenzen dieser Maßnahmen sichtbar. Deshalb wuchs der Druck, einerseits den gesetzlichen Mindestlohn stärker zu erhöhen und andererseits die Bindekraft von Tarifverträgen zu verstärken.

Begleitende Maßnahmen zur Reduzierung des Niedriglohnsektors

Der Niedriglohnsektor konzentriert sich auf besondere Branchen, auf besondere Be- schäftigungsverhältnisse, auf besondere Regionen und auf Unternehmen mit niedriger Tarifbindung.

Die 7,2 Millionen Niedriglohnbeschäftigten arbeiteten 2019 vor allem in den Branchen

  • Einzelhandel mit 159.000 = 40,1% der dort Beschäftigten
  • Gastronomie mit 662.000 = 62,5% der dort Beschäftigten
  • Gebäudebetreuung mit 655.200 = 61,2% der dort Beschäftigten
  • Gesundheitswesen mit 612.00 = 16,4% der dort Beschäftigten
  • Erziehung/Unterricht mit 345.600 = 11,7% der dort Beschäftigten
Quelle: IAQ Report 2021-06 , S. 12 und Tabelle 3

Bezogen auf die Regionen: In Ostdeutschland mussten 29,1% der Beschäftigten zu Niedriglöhnen arbeiten, in Westdeutschland „nur“ 16,4 (WSI Seils 2022).

In nicht tarifgebunden Unternehmen werden häufiger Niedriglöhne gezahlt: 2017  bekamen „nur“ 17% der Beschäftigten in tarifgebundenen Unternehmen einen Stundenlohn unter 12 €; bei allen Beschäftigten lag das Risiko aber bei 27%. Im Lohnsegment unter 12 € arbeiteten nur 1/3 der Beschäftigten in tarifgebundenen Unternehmen (Pusch/Schulten, 2019).

Bezogen auf den Beschäftigungsstatus sind Vollzeitbeschäftigte von Niedriglöhnen zwar am wenigsten betroffen; aber auch hier arbeiten 12% (nach Berechnungen des IAQ) bzw. 18,7% (nach Zahlen der Bundesagentur für Arbeit) zu Niedriglöhnen. Bereits bei sozialversicherungspflichtigen Teilzeitbeschäftigten steigt das Risiko auf mehr als ein Fünftel. Geringfügig Beschäftigte sind sogar zu mehr als 3/4 davon betroffen:

Anteil der Beschäftigten mit Niedriglöhnen an der jeweiligen Gruppe

2014                                                 2019

Vollzeitbeschäftigte 14,4% 12,0% bzw. 18,7%
Sv-pflichtige Teilzeit- beschäftigte 24,5% 22,7%
Minijobber*Innen 78,6% 76,9%
Quelle: IAQ 2021-06 Tabelle 1, S.9 WSI Policy Brief 1/2022 (die höhere Zahl von 18,7% kommt durch eine andere Erhebungsmethode zustande, die aber nur Vollzeitbeschäftigte berücksichtigt)

Die Branchen mit hohem Anteil an Niedriglöhnen beschäftigen auch viele Minijobber*in- nen und viele Frauen. So arbeiteten in der Gastronomie 52,6% aller Beschäftigten im Minijob, in der Gebäudebetreuung 45% und im Einzelhandel 27,5%.

Erste Maßnahme: Der Sonderstatus für geringfügig Beschäftigte muss beendet werden

Die Stundenlöhne von gfB liegen im Durchschnitt zwischen 10 und 11 €. Das Gros wird damit deutlich unter Tarif und unter den Stundenlöhnen der sozialversicherungspflichtig (sv-pflichtig) Beschäftigten im gleichen Betrieb und mit vergleichbarer Tätigkeit bezahlt – ein eindeutiger Rechtsverstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz. Dieser Ver- stoß wird aber mit dem Sonderstatus der gfB legitimiert: Wenn Beschäftigte monatlich bis zu 450 € verdienen (demnächst bis zu 520 €) oder als Saisonkräfte nur bis zu 3 Monate im Jahr eingesetzt werden, zahlen sie keine Steuern und Sozialversicherungsbeiträge. Von Beiträgen zur Rentenversicherung können sie sich befreien lassen, was auch die Meisten tun. Sie bekommen also ihren Stundenlohn „brutto für netto“. Die Arbeitgeber müssen zwar über 30% an Lohnnebenkosten zahlen und damit mehr als für sv-pflichtig Beschäftigte. Trotzdem lohnt sich der Einsatz für sie, weil sie diese steuer- und sozialrechtliche Sonderstellung ausnutzen und die Stundenlöhne weit unter das Niveau der sv-pflichtig Beschäftigten absenken. Außerdem werden gfB häufig als „Stundenlöhner/Aushilfen“ behandelt (ein Status, den es arbeitsrechtlich nicht gibt): sie haben zumindest außerhalb großer, stärker kontrollierter Unternehmen häufig keinen Kündi- gungsschutz oder feste Arbeitszeiten. Laut DIW bekommt fast die Hälfte der Minijobber*innen keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall; ein Drittel bekommt keinen bezahlten Urlaub (DIW 45-2020). All das ist rechtswidrig; es wird aber von vielen Beschäftigten nicht als ungerecht empfunden, weil die gfB ja „Brutto für Netto“ bekommen.

Bekämen Alle den gleichen Stundenlohn von z. B. 13 €,

  • bekäme ein/e gfB 13 € netto ausbezahlt,
  • ein Vollzeitbeschäftigter bekäme bei einer 38-Stunden-Woche brutto 2145 € pro Monat, bei der günstigen Steuerklasse III netto 1711 € und hätte damit einen Netto-Stundenlohn von 10,37 €,
  • eine Teilzeitbeschäftigte mit 20 Stunden pro Woche und Steuerklasse V bekäme brutto 1127 €, netto 777 € und damit einen Netto-Stundenlohn von 8,96 €.

Diese Diskrepanz ist auch dadurch nicht zu rechtfertigen, dass gfB meist keinen Rentenanspruch und keinen Anspruch auf Arbeitslosen- oder Kurzarbeitergeld erwerben (krankenversichert sind sie meist auf anderen Wegen). Dafür sind die Unterschiede zwischen brutto und netto zu hoch. Die niedrigen Stundenlöhne empfinden viele Beschäftigte und viele Betriebs- und Personalräte deshalb als „ausgleichende Gerechtigkeit“ für die Ungleichbehandlung bei den Abgaben. Entsprechend schwer ist es, diese Rechtsverstöße zu bekämpfen; und entsprechend leicht fällt es Arbeitgebern, dies für eine untertarifliche Bezahlung zu nutzen. Diesen Konflikt zwischen dem Gerechtigkeitsempfinden und dem Gleichbehandlungsanspruch haben Regierungen und Parlamente bewusst durch deren Sonderstatus geschaffen. Dieser Konflikt war offensichtlich auch Thema in den Koalitionsverhandlungen. Denn im Koalitionsvertrag liest man „Die Einhaltung des geltenden Arbeitsrechts bei Mini-Jobs werden wir stärker kontrollieren“ (S. 70). Man darf auf die Umsetzung gespannt sein. Denn der Konflikt zwischen der Rechtssituation und dem Gerechtigkeitsempfinden wird durch die Heraufsetzung der Verdienstmöglichkeit auf bis zu 520 € noch einmal vergrößert.

Da Arbeitgeber bei der Beschäftigung von gfB Geld sparen, geht ihr Einsatz auch zulasten sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung – auch das konstatieren inzwischen alle renommierten Institute (ob DIW, IAB, IAQ oder IZA). Denn die meisten Arbeitgeber*innen beschäftigen mehrere gfB; 61% beschäftigen 5 und mehr (DIW-Wochenbericht 45/2020). Die häufig zitierten Arbeitsspitzen, für die man angeblich gfB braucht, können genauso gut mit befristet Beschäftigten bzw. Teilzeitbeschäftigten aufgefangen werden. Auch die Erfahrungen nach der Einführung des ersten gesetzlichen Mindestlohnes bestätigen das: als in den besonders betroffenen Branchen der Einsatz von gfB zunächst teurer wurde, ging deren Zahl zurück, während die Zahl sv-pflichtig Beschäftigter vor allem in mittleren und kleineren Betrieben stieg (IZA S. 63). Auch das war offensichtlich Diskussionsgegenstand in den Koalitionsverhandlungen. Denn im Vertrag ist zu lesen: „Gleichzeitig werden wir verhindern, dass Minijobs als Ersatz für reguläre Arbeitsverhältnisse mißbraucht oder zur Teilzeitfalle insbesondere für Frauen werden“ (S. 70). Eine lobenswerte Absicht. Aber wie soll sie durchgesetzt werden, wenn man gleichzeitig den Einsatz von gfB durch die Erhöhung und Dynamisierung der Ver- dienstgrenze attraktiver macht?

Der Sonderstatus von gfB wird häufig damit begründet, es handele sich nur um Neben- verdienste für besondere Gruppen. Für Nicht-Haupterwerbstätige käme eine sv-pflichtige Tätigkeit nicht in Frage. Für Arbeitssuchende sei dies ein erster Schritt zur Rückkehr auf den Arbeitsmarkt. All das blendet aber die unterschiedliche soziale Situation der Minijobber*innen bewusst aus.

Dazu einige Fakten (immer bis 2019, um den Corona-bedingten Einbruch bei der Zahl der gfB ab 2020 auszublenden): Die Zahl der geringfügig Beschäftigten stieg zwischen 2003 und 2019 von 5,3 Mio. auf 7,6 Mio. (DIW-Wochenbericht 45/2020). Sie ging zwar 2015 wegen Einführung des gesetzlichen Mindestlohnes leicht zurück, „erholte“ sich aber dann wieder. Diese Zahl klammert allerdings das Gros der Saisonkräfte aus, da sie nur die Zahl der am Stichtag 1.6. gfB erfasst. Der Minijobzentrale wurden 2018 z. B. fast doppelt so viele – insgesamt rund 13 Mio gfB gemeldet. Da genauere Strukturdaten nur für die am Stichtag Gezählten vorliegen, konzentrieren sich die folgenden Auswertungen auf diese Gruppe.

Von den gfB waren 39% = rund 3 Mio. Nebentätige (DIW s.o), 56% davon sind Frauen. Die Gesamtzahl hat sich von 2003 (ca. 930.000) bis 2019 verdreifacht. Nebentätige gfB arbeiten in einer sozialversicherungs – und steuerpflichtigen Haupttätigkeit, bekommen aber das Zusatzeinkommen „brutto für netto“. Von den Männern arbeiten die meisten (85%) in der Haupttätigkeit Vollzeit; bei den Frauen überwiegt mit 58% die Teilzeit.

800.000 arbeiten übrigens als ehrenamtliche Nebentätige. Die Steuer- und Sozialversicherungsfreiheit ist hier besonders widersinnig: der Hauptteil des Erwerbseinkommens unterliegt der Steuer- und Sozialversicherungspflicht, der andere Teil aber nicht – warum? Warum wird z.B. Frauen, die mit ihrem Teilzeiteinkommen nicht auskommen, das Schlupfloch einer geringfügigen Nebentätigkeit angeboten, statt ihren Rechtsanspruch auf Erhöhung der Stundenzahl zu stärken?

Die Zahl der ausschließlich geringfügig Beschäftigten stieg bis 2014 zunächst an, um dann bis 2019 wieder ungefähr auf den Stand von 2003 zurückzugehen (ca. 4,8 Mio.). Sie teilen sich in vier Gruppen:

  • Schüler*innen, Student*innen 20%
  • Arbeitslose 11%
  • Rentner*innen 22%
  • „Hausfrauen/Hausmänner“ ca 35%
Quelle: WSI GenderDatenPortal:Erwerbsarbeit 2020

Während die Geschlechterverhältnisse bei den ersten drei Gruppen weitgehend ausgeglichen sind, dominieren bei der Gruppe Hausfrauen/Hausmänner mit 97% natürlich die Frauen.

Für die ersten drei Gruppen sind die Sonderregelungen für gfB überflüssig. Da sie in ihrem Hauptstatus nicht erwerbstätig sind, ist ihre Sozialversicherungs- und Steuerpflicht für zusätzliche Erwerbseinkommen jeweils gesondert nach ihrem Hauptstatus geregelt, unabhängig von dem Status als gfB. Sie sind in ihrem Hauptstatus meist krankenversichert. Die Zuverdienstmöglichkeiten bei Bezug von anderen Sozialtransfers (Arbeitslosengeld, Bafög, Rente usw.) sind ebenfalls gesondert geregelt. Ob sie Steuern zahlen müssten, hängt ebenfalls von der jeweiligen speziellen Steuerpflicht ab. Das eigentliche Problem – dass Studierende und Rentner*innen dazu verdienen müssen – hätte die Regierung auch direkt z.B. durch deutliche Erhöhung der BaföG-Sätze oder ein höheres Grundeinkommen bei der Rente lösen können…

Anders sieht es bei den ca. 1,7 Mio „Hausfrauen“ mit einem Minijob aus. Diese Sonderkonstruktion ist nur erklärbar durch die eigentlich totgesagte, aber in Teilen immer noch quicklebendige steuerliche und sozialrechtliche Subventionierung des „Familienernährermodells: Ehemann arbeitet voll, Ehefrau bestenfalls dazu“. Die jetzige Koalition hat sich zwar Modernität und die Förderung der Frauenerwerbstätigkeit auf die Fahnen geschrieben, will trotzdem an diesem Relikt nichts ändern. Das Ehegattensplitting (es kostet den Staat jährlich ca. 20 Mrd. € an Steuerausfällen) subventioniert das Alleinverdiener- oder Dazuverdienerinnen-Modell – bekanntermaßen mit fatalen Folgen für Frauen, wenn die Versorgungsehe scheitert und sie kaum eigene Rentenansprüche erworben haben. Das Splitting lohnt sich vor allem bei hohen Einkommen bzw. bei großen Einkommens- unterschieden, also bei kurzen Arbeitszeiten für Frauen. Bisher waren dafür die Steuerklassen III und V vorgesehen – mit hohen Steuerabzügen für die Teilzeitbeschäftigten zugunsten der Vollzeit beschäftigten Partner. Laut Koalitionsvertrag sollen künftig beide Paare in der Steuerklasse IV veranlagt werden. Teilzeitbeschäftigte erhielten dann zwar zulasten des Vollzeit arbeitenden Partners ein höheres monatliches Nettogehalt und damit auch ein höheres Arbeitslosen- und Kurzarbeitergeld – eine Lehre aus dem Corona-Lockdown. Am Grundfehler des Ehegattensplittings ändert es aber nichts, da der Steuervorteil für das Paar insgesamt gleich bleibt, wenn die Frau gar nicht oder nur Teilzeit arbeitet. Er wird nur anders zwischen dem Paar verteilt.

Diese Subventionierung der „Dazuverdienerinnen-Ehe“ wird durch die Steuerfreiheit für Einkommen von gfB auf die Spitze getrieben. Hier lebt die alte Ideologie immer noch, dass Hausfrauen sich doch ein kleines Taschengeld dazu verdienen können sollen.

Diese Ideologie ist nicht nur reaktionär, sie widerspricht auch dem Grundsatz, dass Steuerpflichtige nach ihrer Leistungsfähigkeit zu besteuern sind. Wenn Paare sich für eine gemeinsame Besteuerung entscheiden, bestimmt sich der Steuersatz nach der Leistungsfähigkeit des Haushaltes: durch Grundfreibeträge, Freibeträgen für Kinder (falls nicht das Kindergeld günstiger ist) und vor allem durch die Steuerprogression. Warum bleiben die Einkünfte aus einem gfBv außen vor? Wenn der Vollzeit arbeitende Partner nur wenig verdient, würde das Gesamteinkommen immer noch wenig besteuert, auch wenn das Zusatzeinkommen hinzu käme. Vom Ehegattensplitting hätte das Paar sowieso weniger, weil die Steuerprogression noch nicht hart greift. Bei einem hohen Einkommen würden ein steuerpflichtiges Zusatzeinkommen aber der Steuerprogression unterliegen, wie es dem Leistungsgrundsatz entspricht. Stattdessen spart dies Paar aktuell doppelt Steuern – einerseits durch das Ehegattensplitting, andererseits durch die Steuerfreiheit der GFB. Die niedrigen Krankenversicherungsbeiträge durch die Familienversicherung kommen noch dazu.

Diese Familienernährer-Subventionierung senkt nicht nur Steuereinnahmen und Sozialversicherungsbeiträge. Sie widerspricht auch den wachsenden Erwerbsansprüchen von Frauen. Immer mehr Frauen wollen auch in der Familienphase gleichberechtigt bzw. zumindest Teilzeit mit einer höheren Stundenzahl arbeiten, was angesichts der immer noch unzureichenden Kinderbetreuung und der immer noch familienunfreundlichen Arbeitszeiten schwer genug ist. Laut einer Untersuchung über das Erwerbsverhalten von Müttern mit Kindern bis 18 Jahren stieg zwischen 2005 und 2015 die Erwerbsquote von 62,1% auf 68,6% (vorrangig in Westdeutschland aufgrund des dort hohen Nachholbedarfs; in Ostdeutschland liegt sie nach wie vor deutlich höher).Vor allem stieg aber die Erwerbstätigkeit bei sv-pflichtigen Beschäftigungsverhältnissen; die Erwerbsquote unter 15 Stunden pro Woche sank dagegen von 15,3% auf 13,3% (Buschner, A., 2018 S. 65). Die Zahl der weiblichen ausschließlich gfB ging deshalb von 3,5 Mio. im Jahr 2009 auf 2,9 Mio. im Jahr 2019 zurück (WSI GenderDatenPortal). Den Frauen wird es aber nach wie vor nicht leicht gemacht, ihren Wunsches nach eigenständiger Erwerbstätigkeit zu verwirklichen. Denn gerade viele „Frauen-Branchen“ bieten zu viele geringfügige anstelle sv-pflichtiger Beschäftigungsverhältnisse an. Außerdem wirkt der scheinbare Vor- teil einer Netto-Bezahlung wie ein süßes Gift und hält viele Frauen ab, aus einer geringfügigen in eine sv-pflichtige Arbeit zu wechseln. Es ist nicht nachzuvollziehen, dass die Koalition entgegen ihren eigenen Ansprüchen dieses „Hausfrauen-Zuverdienst-Modell“ noch mal attraktiver machen will.

Die Zukunft der Minijobs hängt davon ab, ob die Arbeitgeber gfB weiterhin entgegen Recht und Gesetz Dumping-Löhne zahlen können. Die erste Bewährungsprobe wird der neue Mindestlohn von 12 € sein. Wenn Unternehmen zumindest diesen zahlen müssen, werden die Stundenlöhne für die meisten gfB um 1-2 € steigen. Zumindest große Unternehmen werden das bei entsprechenden Kontrollen tun, da sie sonst drastische Strafen riskieren. Da die Verdienstgrenze gleichzeitig auf 520 € steigen soll, muss das allerdings nicht mehr wie 2015 mit einer Verkürzung der Arbeitszeit kompensiert werden.

Trotzdem könnte das zu einem Rückgang der gfBv führen. Aber auch dann würden sie immer noch nicht mit sv-pflichtig Beschäftigten gleich behandelt werden. Bestenfalls würde durch den höheren gesetzlichen Mindestlohn der Abstand zu den Tarifentgelten etwas verringert. Das Lohndumping, auf dem das gesamte Geschäftsmodell mit gfB beruht, bleibt also bestehen.

Die Koalition will zwar die Gleichbehandlung durchsetzen, bleibt aber die Antwort schuldig, wie sie das verwirklichen will. Aktuell könnten die gfB unter bestimmten Bedingungen den gleichen Lohn wie sv-pflichtig Beschäftigte einklagen. Sie nutzen das kaum, weil dann ihr Arbeitsverhältnis schnell beendet ist. Die betrieblichen Interessenvertretungen werden ebenfalls kaum auf Gleichbehandlung drängen, da sie diese als ungerecht ansehen. Es müsste also wie beim gesetzlichen Mindestlohn eine Rechtsgrundlage geschaffen werden, durch die Unternehmen unabhängig von einer Einzelklage auch von öffentlichen Institutionen sanktioniert werden können. Dafür müssten die Tarifverträge allgemeinverbindlich erklärt werden (siehe unten). Sozialversicherungsträger z.B. könnten dann von Unternehmen die rückwirkende Bezahlung von SV-Beiträge verlangen, wenn die gfB bei korrekter Bezahlung die Geringfügigkeitsgrenze überschritten hätten. Das setzt aber den politischen Willen voraus, dass die Koalition den Konflikt zwischen arbeitsrechtlicher Gleichbehandlung einerseits und dem sozial- und steuerrechtlichen Sonderstatus andererseits offenlegt und austrägt. Das könnte Bewegung in die Auseinandersetzung um den Sonderstatus bringen, würde aber die Inkonsistenz der Koalitionsvereinbarung endgültig offen legen.

Der einzig gangbare und konsistente Weg ist und bleibt deshalb, den Sonderstatus für geringfügige Beschäftigungsverhältnisse abzuschaffen (den für die Midijobs auch!) und alle Arbeitsverhältnisse gleich zu stellen. Kurze Arbeitsverhältnisse bis zu 10 Wochenstunden könnten selbstverständlich weiter angeboten werden; allerdings würde – das muss der Ehrlichkeit halber gesagt werden – ihr Angebot zurückgehen, da das Geschäftsmodell dieser Arbeitsverhältnisse – das Lohndumping – wegfiele. Das Angebot an sv-pflichtigen Arbeitsverhältnissen würde aber steigen. Wäre das nicht wichtiger?

Ein solcher Schritt würde allerdings auf breiten Widerstand der davon profitierenden Unternehmen stoßen, auch teilweise bei den davon betroffenen Beschäftigten. Als Anfang der 2000er Jahre Bundesarbeitsminister Riester durchsetzte, dass zumindest die Verdienste nebentätiger gfB steuer- und sozialversicherungspflichtig wurden, löste er damit einen solchen Sturm der Entrüstung aus, dass die Bundesregierung kurz darauf die Regelung zurücknahm. Viele Betroffene hatten sich durch das süsse Gift „Brutto für Netto“ so verführen lassen, dass sie ihre untertarifliche Bezahlung dazu nicht ins Verhältnis setzten. Dabei wären die Nettoeinkommen vieler Betroffener genauso hoch wie vorher, wenn sie endlich Tarifentgelt bekämen.

Insgesamt: wenn eine Bundesregierung gegen Niedriglöhne und gegen die Teilzeitfall vorgehen will, muss sie dies heiße Eisen anpacken!

Zweite Maßnahme: Die Tarifbindung muss durch eine erleichterte Allgemeinverbindlichkeitserklärung erhöht werden

Der Niedriglohnsektor kann deutlich reduziert werden, wenn Branchen-Tarifverträge allgemeinverbindlich erklärt werden. Nur noch 51% aller Beschäftigten einschließlich des öffentlichen Dienstes unterliegen einem Tarifvertrag. In der Privatwirtschaft betrug der Anteil nur noch 40% im Westdeutschland und 24% in Ostdeutschland (Ellguth/Kohaut 2021, S. 307). In den von Niedriglöhnen betroffenen Branchen ist die Tarifbindung noch niedriger. Dabei sank die Tarifbindung nicht nur durch die Tarifflucht vieler Unternehmen aus einem Branchen-Tarifvertrag. Sie wurde auch durch politische Maßnahmen bewusst gesenkt: ab den 90er Jahren wurden auch aufgrund von EU-Richtlinien viele Sektoren, die bisher im öffentlichen Dienst angesiedelt waren oder von staatlichen Monopolunternehmen betrieben wurden, privatisiert und/oder für den Markt und für neue private Anbieter geöffnet: Gesundheitsbereich, Telekommunikation, Post, Öffentlicher Nah- und Fernverkehr, Luftfahrt, Energieversorgung, Ver- und Entsorgung usw. Diese Bereiche waren davor zu 100% tarifgebunden. Viele neue in den Markt eintretende Unternehmen verweigerten eine Tarifbindung; sie verschafften sich durch niedrige Lohn- kosten einen Wettbewerbsvorteile im Kampf um Marktanteile. Aber auch viele öffentliche oder gemeinnützige Unternehmen verließen die Tarifverträge des Öffentlichen Dienstes oder gliederten Teile aus, um Personalkosten zu sparen. Der Staat verzichtete bei der Privatisierung und bei der Öffnung von Märkten ausdrücklich auf die Verpflichtung einer Tarifbindung und begünstigte damit die Tarifflucht als Mittel der Kostensenkung. Deshalb ist der Niedriglohnsektor gerade in diesen Sektoren besonders hoch. Die Gewerkschaften müssen deshalb u.a. über die Durchsetzung von Haus-Tarifverträgen Schritt für Schritt die Voraussetzung für neue Branchentarifverträge aufbauen. Wie schwierig das ist, zeigt z. B. das Gerangel um einen Pflege-Branchentarifvertrag (hier mit der Gemengelage zwischen großen kirchlichen Anbietern, die außerhalb des Arbeitsrechtes stehen, privaten Anbietern und öffentlich/gemeinnützigen Anbietern). Das Mittel der Allgemeinverbindlichkeitserklärung (AVE) setzt aber einen repräsentativen Branchen-Tarifvertrag voraus.

Aber auch da, wo solche Tarifverträge existieren, werden sie kaum noch allgemeinverbindlich erklärt, weil die Arbeitgeberverbände die hohen gesetzlichen Hürden für eine Blockade nutzen (dazu mehr s.u.). Eine AVE könnte aber in wichtigen Branchen das Lohndumping beenden.

Am Beispiel des Einzelhandels mit seinen 1,1 Mio. Beschäftigten im Niedriglohnbereich, darunter vielen gfB: Die Tariflöhne auch für Un- oder Angelernte liegen über 12 € – abgesehen von Einstiegslöhnen und von einer kaum genutzten Sonderregelung für wieder eingegliederte Warenverräum-Tätigkeiten. Aber nur 29% aller Beschäftigten arbeiten in tarifgebundenen Unternehmen; dabei waren die Tarifverträge noch bis Anfang 2000 allgemeinverbindlich. Die nicht tarifgebundenen Unternehmen zahlen deutlich weniger als im Tarifvertrag vorgesehen. Das zeigt der Entgeltatlas der Bundesagentur für Arbeit, der die Durchschnittsverdienste der Vollzeitbeschäftigte in verschiedenen Berufen und Regionen ausweist:

    • Helfer*innen im Verkauf („Auffüller*innen“) bekommen in NRW 13,72 € Tariflohn; insgesamt aber nur 11,00 €. In Sachsen bekommen sie 13,21€ Tariflohn, insgesamt aber nur 10,15 €.
    • Un/angelernte Lagerarbeiter*innen bekommen in NRW 15,32 € Tariflohn, insgesamt nur 13,50 €. In Sachsen ist der Tariflohn 13,21€, insgesamt nur 11,63 €. Amazon, das nach wie vor seine Zugehörigkeit zum Tarifvertrag Einzel- und Versandhandel bestreitet, brüstet sich damit, dass der Stundenlohn für Lagerarbeiter*innen (ohne Schichtzuschläge) bei 12,73 € beginnt und nach 2 Jahren bei 14,65 € endet.
    • Verkäufer*innen verdienen nach ca. 5 Berufs/Tätigkeitsjahren laut Tarif regional zwischen 16,95 € und 16,75 €; insgesamt erhalten sie in Sachsen nur 12,17 € in NRW nur 15,28 €.

Wenn die Tarifverträge im Einzelhandel wieder allgemeinverbindlich würden, würde der Niedriglohnanteil vor allem in Ostdeutschland nachhaltig reduziert. Das Lohndumping durch nicht tarifgebundene Unternehmen würde beendet (An ein Highlight aus AVE-Zeiten sei erinnert: Das Ehepaar Schlecker wurde 1998 wegen Betrug verurteilt, weil sie den Beschäftigten eine Bezahlung nach dem damals noch existierenden AVE-Tarifvertrag vorgetäuscht hatten). Die Einzelhandelsarbeitgeber lehnen aber seit Jahrzehnten die ver.di-Forderung nach einem gemeinsamen Antrag auf AVE ab und blockieren damit die AVE.

Am Beispiel Gastgewerbe mit seinen über 60% = 660.000 Beschäftigten im Niedriglohnbereich, darunter viele gfB: Hier lagen viele Jahre auch die unteren Tarifgruppen in beiden Teilbranchen-Tarifverträgen (Systemgastronomie und Hotel- und Gaststättenge- werbe) unter der Niedriglohnschwelle. In der Systemgastronomie (Mc Donald, Burger- King, Starbucks, Nordsee usw.) stellte die Gewerkschaft NGG ab 2019 den angestrebten neuen Mindestlohn von 12 € in den Mittelpunkt der Tarifauseinandersetzungen. 2020 konnte sie einen Stufenplan durchsetzen, bei dem zwar der Stundenlohn von 12 € erst 2024 erreicht würde. Trotzdem entsprach dies einer Steigerung von 7% pro Jahr. Die NGG wird den neuen gesetzlichen Mindestlohn aufgreifen, um das Tarifniveau entsprechend zu erhöhen (Schulten, Th, Specht, J., WSI-Blog 2020).

In dem Tarifbereich des Hotel- und Gaststättengewerbes (überwiegend Klein- und Mittelunternehmen, von Corona gebeutelt) konnte die Gewerkschaft NGG Ende 2021/Anfang 2022 in regionalen Tarifabschlüssen in den unteren Entgeltgruppen Lohnerhöhungen von 9% und mehr und damit einen Stundenlohn von zunächst 12 € durchsetzen. Gleichzeitig wurde vereinbart, dass dieser Stundenlohn auf 12,50 € steigen muss, wenn noch 2022 ein gesetzlicher Mindestlohn von 12 € kommt (NGG Internetseite Tarifinfo Gastgewerbe). Auch hier gelang es, die gesellschaftspolitische Bewegung für höhere gesetzliche Mindestlöhne mit einer eigenständigen tarifpolitischen Perspektive zu verknüpfen. Diese Tarifverträge sind aber bis auf Bremen nicht allgemeinverbindlich, sodass deren Durchsetzungskraft gemindert ist. So verdienten laut Entgeltatlas der BA Servicekräfte in der Gastronomie 2020 im Bundesdurchschnitt 1779 € = 10,53 € Stundenlohn, in Sachsen sogar nur 1676 € = 9,92 €. Die Diskrepanz bei ausgebildeten Restaurantfachleuten ist noch größer: verdienten sie laut Tarifvertrag 2020 knapp 15 € pro Stunde, kamen sie laut Entgeltatlas nur auf durchschnittlich 10,60 €.

In weiteren Branchen (z.B. Logistik-Bereich) setzen die Gewerkschaften aktuell ebenfalls deutliche Lohnsteigerungen vor allem im unteren Bereich durch, um die 12-€- Schwelle mindestens zu erreichen, häufig aber auch zu überspringen. Das zeigt, dass ein gesetzlicher Mindestlohn gewerkschaftliche Tarifmacht vor allem in Niedriglohnsektor stärkt, da er als unterste Auffanglinie gilt, die durch Tarifverträge übersprungen werden muss. Wenn diese Branchentarifverträge allgemeinverbindlich würden, könnte das den Niedriglohnsektor deutlich reduzieren, Lohndumping verhindern und auch eine Rechtsgrundlage für eine tarifgerechte Bezahlung von gfB schaffen.

Bereits die Vorgängerkoalitionen hatten angekündigt, dass sie die Tarifbindung erhöhen wollen. Geschehen ist wenig. Für einige Branchen konnten über das Entsendegesetz zumindest die unteren Entgeltgruppen allgemeinverbindlich erklärt werden. Das war nur möglich, weil beim Entsendegesetz die BDA-Vertreter die AVE nicht mehr blockieren können; der Tarifausschuss muss nicht mehr mehrheitlich zustimmen. Aber auch diese AVE muss von beiden Tarifvertragsparteien beantragen werden, was die jeweiligen Arbeitgeberverbände häufig verweigern. Im Tarifvertragsgesetz wurde nur wenig erleichtert: es wurde zwar gestrichen, dass die tarifgebundenen Unternehmen im entsprechenden Tarifbereich mindestens 50% der Beschäftigten repräsentieren müssen, damit ein Tarifvertrag allgemeinverbindlich werden kann. Da aber offen bleibt, ab wann ein Tarifvertrag als repräsentativ gilt, wird häufig immer noch eine hohe Tarifbindung verlangt; die gibt es aber häufig nicht, weil die Arbeitgeberverbände sie selber u.a. durch die Einführung der oT-Mitgliedschaft gesenkt haben. Vor allem aber können die Arbeitgeber- verbände hier immer noch doppelt blockieren. Denn eine AVE setzt voraus, dass der abschließende Tarifverband den Antrag auf AVE mitträgt und dass die BDA-Vertreter im Tarifausschuss zustimmen. Eine AVE ist deshalb kaum noch möglich. SPD und Bündnis90/die Grünen (die Partei die Linke auch) hatten deshalb in ihren Wahlprogrammen eine erleichterte AVE gefordert. Die Bundesländer Bremen, Berlin und Thüringen hatten im Frühjahr 2021 einen entsprechenden Gesetzentwurf in den Bundesrat eingebracht, der aber nur von Hamburg unterstützt wurde und deshalb scheiterte (Schulte, Th., spw 6-2020, S.50). Der Koalitionsvertrag schweigt sich dazu aus. An einer Änderung des Tarifvertragsgesetzes geht aber kein Weg vorbei, wenn die Koalition wie angekündigt die Tarifbindung erhöhen will: Tarifverträge müssen auch ohne Zustimmung der Arbeitgeberverbände für allgemeinverbindlich erklärt werden können.

Dritte Maßnahme: Tariftreueregelung jetzt auch für den Bund

Laut Koalitionsvertrag will jetzt auch der Bund eine „Tariftreueregelung“ einführen: „Zur Stärkung der Tarifbindung wird die öffentliche Auftragsvergabe des Bundes an die Ein- haltung eines repräsentativen Tarifvertrages der jeweiligen Branche gebunden,..“ (S.71). Fast alle Bundesländer bis auf Sachsen und Bayern haben bereits Tariftreueregelungen für ihre öffentlichen Aufträge (häufig einschließlich der Kommunen). Nur wenige schreiben aber vor, dass der Auftragnehmer alle Tarifregelungen anwenden muss. Die meisten beschränken die Regelungen auf die unteren Entgeltgruppen. Einige Bundesländer schreiben gleichzeitig einen Vergabemindestlohn vor, der über dem bisherigen gesetzlichen Mindestlohn liegt. Er greift dann, wenn es keine repräsentativen Tarifver- träge gibt bzw. wenn deren unterste Lohngruppen sehr niedrig sind. Spitzenreiter ist Brandenburg mit 13 €, gefolgt von Berlin mit 12,50 €, Hamburg und Bremen 12,00 €, Mecklenburg-Vorpommern 10,55 €, Thüringen 11,73 €, Schleswig-Holstein 9,99 €. Un- ternehmen können sich dann bei öffentlichen Ausschreibungen keinen Wettbewerbsvor- teil mehr verschaffen, indem sie vor allem bei den unteren Entgeltgruppen unter Tarif zahlen und dadurch ein niedrigeres Angebot abgeben können. Damit wurde zumindest in diesem Bereich das Lohndumping eingeschränkt. Da die öffentliche Hand – Bund, Länder und Kommunen – pro Jahr insgesamt ca. 300 – 500 Mrd. € an Aufträgen vergibt (genaue Zahlen existieren nicht), können dadurch vor allem in Branchen mit vielen öffentlichen Aufträgen Niedriglöhne eingeschränkt werden. Wichtig wäre, diese Tariftreue auf die gesamten Tarifregelungen – vor allem auf alle Entgeltgruppen und auf die Arbeitszeitregelungen – des Branchen-Tarifvertrages auszuweiten. Wenn der Bund ein entsprechendes Gesetz verabschiedet, würde damit eine wichtige Lücke in den Tariftreueregelungen geschlossen (siehe dazu insgesamt Schulten, Th., WSI Policy Brief 2/2021). Darüberhinaus sollte überlegt werden, Tariftreueregelungen auch auf weitere öffentlich regulierte bzw. finanzierte Bereiche auszudehnen: auf die von den Sozialversicherungen finanzierten Bereiche wie Gesundheit, Altenpflege, Wohlfahrt usw. Auch die Vergabe von öffentlich geförderten Investitionen über die Regionalpolitik könnte an eine Tariftreue gebunden werden (Tesla, Amazon..)

Weitere Maßnahmen gegen Tarifflucht und Niedriglöhne: Unternehmen müssen für ihren Gesamtbereich verantwortlich werden

Viele große Unternehmen auch im öffentlichen Dienst entfliehen der Tarifbindung, indem sie Betriebsteile ausgliedern, als Werkverträge vergeben, Subunternehmer einsetzen, Scheinselbständige beschäftigen. Das Problem ist seit langem bekannt. Zumindest die Definition der Scheinselbständigkeit ist – wenn auch unzureichend – verschärft worden. Ansonsten reagierte die Politik eher selektiv, wenn in einigen Branchen der Missbrauch zu offensichtlich wurde: Die Hauptunternehmen von Bauaufträgen müssen seit 2002 (verschärft 2019) dafür haften, dass die von ihnen beauftragten Subunternehmern die Sozialversicherungsbeiträge korrekt abführen. Die AVE gilt dort zusätzlich. In der Fleischbranche führte erst der Corona-Skandal beim Branchenführer Tönnies dazu, dass dort die lange bekannten skandalösen Werkverträge per Gesetz verboten wurden und die Gewerkschaft NGG einen Branchen-Tarifvertrag abschließen konnte, der allgemeinverbindlich erklärt werden soll. Für den Logistik-, Speditions- und Postdienste– Bereich fordert ver.di ebenfalls, Scheinselbständigkeit zu verbieten, die Subunternehmerhaftung einzuführen und die Tarifbindung zu erhöhen.

Es ist dringen erforderlich, dass die Politik nicht erst auf besonders skandalträchtige Beispiele reagiert. Unternehmen müssen generell dafür haften, dass auch ihre Sub-Unternehmen sozial- und arbeitsrechtliche Standards einhalten. Sie müssen für ihre gesamte Wertschöpfungskette Verantwortung übernehmen. Im Koalitionsvertrag ist dazu nur zu finden: „Werkverträge und Arbeitnehmerüberlassung sind notwendige Instrumente. Strukturelle und systematische Verstöße gegen Arbeitsrecht und Arbeitsschutz verhindern wir durch effektive Rechtsdurchsetzung“ (S.71). Das ist weniger als nichts!

Zusammenfassung

Durch den Mindestlohn von 12 € werden die meisten Niedriglöhne angehoben werden, wenn er ohne relevante Ausnahmen, wenn er zeitnah eingeführt wird und wenn die Einhaltung kontrolliert wird. Das ist ein großer Erfolg. Seine Einführung muss aber durch weitere Maßnahmen begleitet werden, um den Niedriglohnsektor insgesamt deutlich und nachhaltig zu verringern:

  • Ein gesetzlicher Mindestlohn ist eine absolute Untergrenze für Ungelernte, die durch tarifliche Entgeltregelungen überschritten werden.
  • Die Tarifverträge in den von Niedriglöhnen besonders betroffenen Branchen müssen für allgemeinverbindlich erklärt werden können, damit Lohndumping auch über den gesetzlichen Mindestlohn hinaus in der gesamten Branche unterbunden wird. Das erfordert eine Änderung des Tarifvertragsgesetzes, damit Arbeitgeberverbände eine AVE nicht mehr blockieren können.
  • Der Sonderstatus für gfB muss abgeschafft werden, da die „Brutto-für-Netto“- Stundenlöhne als ungerecht empfunden und zu Lohndumping zulasten sv-pflichtiger Beschäftigungsverhältnisse benutzt
  • Die Ausweichmöglichkeiten großer Unternehmen aus einer Tarifbindung über den Einsatz von Werkverträgen, Subunternehmern, Scheinselbständigen müssen unterbunden werden. Wer einen Auftrag annimmt oder für den Markt etwas produziert, muss für die gesamte Herstellungskette verantwortlich sein.

 

Wenn die Ampelkoalition ihren Anspruch insgesamt verwirklichen will, dass „Leistung anerkannt und die Entgeltungleichheit zwischen Männern und Frauen abgebaut werden soll“, werden SPD und Bündnis 90/Die Grünen über die Einführung des Mindestlohnes von 12 € hinaus mit der FDP in Konflikt gehen müssen. Dies erfordert eine breite gesellschaftliche Mobilisierung für Maßnahmen zur Beseitigung des Niedriglohnsektors, die über einen Mindestlohn von 12 € hinausgehen.

 

Literaturverzeichnis:

Bundeszentrale für politische Bildung, Jaeck, T. Der Niedriglohnsektor in Ost- und West- deutschland 16.11.2020

Bundeszentrale für politische Bildung, Datenreport 2021 Bruttoverdienste 10.3.2021 Buschner, Andrea, Bildungsspezifische Ungleichheiten bei geringfügig beschäftigten Müttern, Statistisches Bundesamt, WISTA 6-2018

Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung DIW-Wochenbericht Nr. 7/2020 Lohnungleichheit in Deutschland sinkt

DIW-Wochenbericht Nr. 45/2020 Beschäftigte in Minijobs sind VerliererInnen der coronabedingten Rezession

Destatis, Pressemitteilung Nr. 586 vom 20.12.2021, 7,8 Millionen Niedriglohnjobs im April 2021 Ellguth, P., Kohaut, S., Tarifbindung und betriebliche Interessenvertretung: Ergebnisse aus dem IAB-Betriebspanel 2020, in: WSI-Mitteilungen Nr. 4/2021

IAQ-Report Aktuelle Forschungsergebnisse aus dem Institut Arbeit und Qualifikation 06-2021 h. Kalina und C. Weinkopf Niedriglohnbeschäftigung 2019 – deutlicher Rückgang vor allem in Ostdeutschland

IZA Institute of Labor Economics, Auswirkungen des gesetzlichen Mindestlohnes auf Beschäfti- gung und Arbeitslosigkeit – Studie im Auftrag der Mindestlohnkommission, Bonn 31.1.2020

Pusch,T., Schulten,Th., Mindestlohn von 12 Euro: Auswirkungen und Perspektive in: Wirt- schaftsdienst, Zeitschrift für Wirtschaftspolitik 2019, Heft 5

Schulten, Th., Specht, J., Tarifpolitik und Mindestlohn: Aktuelle Erfahrungen aus der Systemgastronomie, 15.06.2020, WSI-Blog Tarifpolitik

Schulten, Th., Stärkung des Tarifvertragssystems – was bringen die Vorschläge der neuen Bundesregierung? In: spw- Zeitschrift für sozialistische Politik und wirtschaft Heft 247 Ausgabe 6-2021

WSI-GenderDatenPortal: Erwerbsarbeit Minijobs als einzige Erwerbstätigkeit 2004-2020 abgerufen 28.12.2021

WSI Policy Brief Nr. 49 2/2021 Schulten, Th., Vergabemindestlohn und Tariftreue in Brandenburg

WSI Policy Brief Nr. 65 1/2022 Seils, E., Emmler,H., Der untere Entgeltbereich

 

 

 

 

 

 

Der Beitrag erschien auf https://www.alternative-wirtschaftspolitik.de/ der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik e. V. und wird hier mit freundlicher Genehmigung gespiegelt.
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