Die energieintensive Industrie in Deutschland klagt über enorm gestiegene Strompreise. Ganz marktwirtschaftlich liebäugelt sie mit der Produktion in billigeren Ländern. Doch es naht Hilfe von unerwarteter Seite.
Preisfrage – wer hat’s gesagt?
>> Wir brauchen für die energieintensive Industrie einen Industriestrompreis, der es erlaubt, im globalen Wettbewerb zu bestehen.
Wer dafür sorgen soll, ist klar:
>> Die Politik muss ihrer Verantwortung für die Beschäftigten in der energieintensiven Industrie endlich gerecht werden. Es darf nicht so weit kommen, dass aufgrund hoher Stromkosten Anlagen geschlossen, Produktion ins Ausland verlagert und Deutschland so schrittweise deindustrialisiert wird.
Noch konkreter:
>> Wir wollen, dass hier bei uns künftig grüner Stahl und ebenso Aluminium klimafreundlich verarbeitet wird. Wir wollen, dass die dafür notwendigen Investitionen in Deutschland und speziell hier in Gelsenkirchen erfolgen und die Arbeitsplätze der Zukunft hierbleiben oder entstehen.
Und, erraten? Ein kleiner Hinweis hilft möglicherweise: „Beschäftigte“ und „Arbeitsplätze“ kommen häufig vor, um die es irgendwie allgemein gehen soll. Gut, diese Begriffe nehmen viele gern in den Mund. Da unterscheiden sich Politiker, Unternehmer, Wirtschaftswissenschaftler und Gewerkschaften nicht.
Dann vielleicht noch etwas genauer lesen. Es wird der Standpunkt der Industrie eingenommen, so viel ist deutlich. Diese großen Betriebe sind offenbar einer Gefahr ausgesetzt. Sie besteht in zu hohen Strompreisen. Damit könnten sie im „globalen Wettbewerb“ nicht bestehen. Was dann zur Folge hätte, dass sie das Weite suchen – also ihre Produktion in Länder verlagern, wo die Energiekosten nicht so hoch ausfallen. Und das darf nicht passieren, weil Deutschland die Industrie ja braucht, für „die Arbeitsplätze der Zukunft“.
Politiker, Unternehmer, Gewerkschafter in Sorge vereint
Irgendwie kommen wir da nicht weiter. Diese Sorgen könnte ein grüner Wirtschaftsminister Robert Habeck geäußert haben, ebenso der Präsident der Deutschen Industrie- und Handelskammer Peter Adrian, ein aufrechter Sozialdemokrat und Bundestagsabgeordneter wie Bernd Westphal, der CSU-Ministerpräsident Markus Söder oder ein Gewerkschaftschef wie Jörg Hofmann von der IG Metall.
Und siehe da: Tatsächlich haben sich alle Genannten in der letzten Zeit für einen niedrigeren Strompreis, der der energieintensiven Industrie zugute kommt, stark gemacht. Aber wer hat denn nicht nur geredet, sondern am 9. März in einem Aktionstag dafür demonstriert? Die Gewerkschaften waren es, und sie sind die Urheber der Zitate. In der Reihenfolge ihres Auftretens: Jörg Hofmann, Erster Vorsitzender IG Metall, Torsten Falke, Bezirksleiter der IGBCE Augsburg, und Ralf Goller, Geschäftsführer der IG Metall Gelsenkirchen.
Es stimmt ja: Im zweiten Halbjahr des vergangenen Jahres stiegen die durchschnittlichen Industriestrompreise auf einen Spitzenwert an. Inzwischen sind die damaligen 53,38 Cent je Kilowattstunde (ct/kWh, inklusive Stromsteuer) zwar auf um die 40 Cent gesunken. Dies stellt aber immer noch eine deutliche Preissteigerung dar.
So lag der Wert 2021 bei 21,38 ct/kWh, vor zehn Jahren gar bei 15,11 ct/kWh. Zu diesen Zeiten machte die Umlage zur Förderung Erneuerbarer Energien (EEG-Umlage) einen Großteil des Preises aus. Entsprechend laut war die Klage der Industrie über diese Kostenpunkt. Nun gibt es die EEG-Umlage seit Mitte 2022 endlich nicht mehr, und doch ist gerade zu diesem Zeitpunkt der Industriestrompreis in exorbitante Höhen geschossen. Wie das?
Die Preistreiber sitzen im eigenen Land
Das ist natürlich kein Rätsel: Der Boykott russischer Gas- und Öllieferungen durch den Westen, die Sanktion gegen den Angriff Moskaus auf die Ukraine, hat auf dem Energiemarkt zu Engpässen und großer Unsicherheit über ausreichende Liefermengen geführt. Dies hat, nach schöner marktwirtschaftlicher Regel, das Angebot verknappt und damit die Preise der Energieträger getrieben. Gaskraftwerke wurden daher mit Abstand zu den teuersten in der Stromproduktion.
Zur Deckung des nationalen Strombedarfs sind sie aber unverzichtbar. Nach dem sogenannten „Merit Order“-Prinzip bestimmt das teuerste Kraftwerk den Großhandelspreis. Wenn dem nämlich nicht so wäre, würden Gaskraftwerke unrentabel. Sie fielen damit für die nationale Stromproduktion aus, was die Energiekrise noch verschärft hätte. Schließlich muss, Wettbewerb hin oder her, zu jeder Tages- und Nachtzeit genügend Strom für den nationalen Bedarf produziert werden. Nach reinem Konkurrenzprinzip würden nur die günstigsten Kraftwerke ihren Strom loswerden. Dann wäre jedoch die allgemeine Energieversorgung gefährdet. Also muss sich auch die Produktion aller weiteren hierfür benötigten Erzeuger rechnen, bis der Bedarf gedeckt ist.
Der Preistreiber sitzt also im eigenen Land, genauer in Berlin: Die Parteinahme der Bundesregierung für die Ukraine und die damit verbundene Feindschaftserklärung gegenüber Russland haben zu den beklagten Erhöhungen auch der Industriestrompreise geführt. An genau diese Adresse wenden sich nun die Gewerkschaften. Nur mit welchem Antrag? Die Regierung möge bitteschön die Kriegsbeteiligung unterlassen, ebenso die damit verbundene riesige Staatsverschuldung, die die Inflation antreibt? Weit gefehlt. Vielmehr soll der Staat noch mehr Geld mobilisieren, um den Schaden für die energieintensive Industrie zu begrenzen. Nicht, dass diese Konzerne auf die Idee kämen, woanders als in Deutschland ihre Gewinne zu machen! Kaum auszuhalten die Gefahr, dass damit Arbeitsplätze ins Ausland abwanderten!
Aufs Benutztwerden angewiesen sein – so geht halt „Wirtschaft“
Damit gehen die Gewerkschaften ihren Weg konsequent weiter: Wer hierzulande Arbeit vom „Arbeitgeber“ bekommt, soll sich als Arbeit-Nehmer glücklich schätzen. Dafür muss natürlich der Arbeit-Geber auch Arbeit zu vergeben haben, sprich, er muss etwas produzieren. Und das muss sich selbstverständlich lohnen, sonst findet es nicht statt. Zu hohe Kosten, zum Beispiel für Energie, gefährden den Gewinn. Dann ist es nur zu verständlich, dass der Arbeitgeber woanders, im billigeren Ausland, seine Arbeit vergibt. Also müssen die gefährlichen Kosten gesenkt werden.
Wem das verdächtig nach einer Art Klippschule für Wirtschaftsanfänger klingt, der liegt nicht ganz falsch – dies ist aber der Kern der Gewerkschaftslogik. Menschen, die keine Produktionsmittel und kein Kapital besitzen, können nur an das lebensnotwendige Geld kommen, indem sie ihre Arbeitskraft verkaufen – so viel ist richtig. Dieser für die Mehrheit des Volkes unausweichliche Zwang, auf das Benutztwerden von Unternehmen angewiesen zu sein, nehmen ihre Interessenvertreter aber nicht einfach zähneknirschend oder fatalistisch hin. Sie halten dieses Verhältnis sogar für das Normalste der Welt. So geht für die Gewerkschaften halt „Wirtschaft“.
Aber: unter einer Bedingung! „Beschäftigung“ soll ausreichend zustandekommen für ihre Klientel – so als ob dies der Zweck der Veranstaltung wäre. Umgekehrt werden Gewerkschafter dann kritisch, wenn sich dies nicht in genügendem Maße einstellt. In solchen, recht häufigen Fällen laufen sie zur Hochform auf. Sie prangern „Missmanagement“ an und weisen darauf hin, dass sie es schon immer besser gewusst hätten, aber niemand auf ihre schlauen Ratschläge habe hören wollen. Sie reden von „Finanzhaien“, die nur nach dem schnellen Geld schielten, sich also an der ordentlichen Ausbeutung vergingen. Und sie weisen auf unfaire Wettbewerbsbedingungen hin, die es einfach dem hiesigen Kapital zu schwer machten, möglichst vielen zur Verfügung stehenden mittellosen Leuten Arbeit zu geben.
Den Firmen kostet ihre Belegschaft immer zu viel
Dass es ihrer Klientel nicht allzu gut geht, bemerken die Gewerkschaften natürlich. Die Ende 2022 abgeschlossenen Tarifrunden bei IG Metall und IG Bergbau, Chemie, Energie lagen dennoch unter der Inflationsrate. Von einer spürbaren Verbesserung der materiellen Lage der Mitglieder ist ohnehin schon lange nicht mehr die Rede. Stattdessen zeigen die Arbeitnehmervertreter ihre „Verantwortung“ für die Lage der Wirtschaft und vereinbaren Abschlüsse, mit denen die Unternehmen leben können, die Beschäftigten hingegen immer weniger.
In der aktuellen Tarifrunde für das Kfz-Gewerbe liest sich die „Verantwortung“ bei der IG Metall zum Beispiel so:
>> In den Autohäusern brummt es. Zahlreiche Werkstätten berichten von Spitzenauslastung. Der Handel mit Gebrauchtwagen floriert. Viele Beschäftigte ächzen unter der hohen Auslastung. Sie erwarten eine ordentliche Entgelterhöhung. Auch wegen der steigenden Lebenshaltungskosten. Denn in den Unternehmen läuft es nach der Pandemie wieder gut an. IG Metall: „Mit Power in die Kfz-Tarifrunde“
Es passt demnach: Die Betriebe florieren, dann dürfen diejenigen, auf deren Rücken das ausgetragen wird, auch etwas fordern. Das bedeutet umgekehrt, wenn es nicht so brummt, haben auch die Beschäftigten wenig Argumente für mehr Geld. Ganz gleich, wie es um ihre wirtschaftliche Situation bestellt ist. Die zählt nur in Abhängigkeit vom Wohl des Kapitals. Salopp formuliert: Wenn die Gewinne sprudeln, dürfen die, die diese Gewinne ermöglichen, auch ein paar Krümel abbekommen. Das ist dann der „gerechte“ Anteil der Arbeitnehmer. Zu viel darf es selbstverständlich nicht sein, dann mangelt es am Gewinn. Und wenn der sich nicht genügend einstellt, gibt es natürlich nichts zu „verteilen“.
So viel Verständnis für die kapitalistische Erfolgsrechnung hat seinen Preis: Wer die Kosten der Arbeitnehmer als eine Belastung der Unternehmen anerkennt, macht sich in Verhandlungen um eben diese Kosten erpressbar. Schließlich können sie aus Sicht der Unternehmen nicht gering genug sein. Mit dem Hinweis auf gute laufende Geschäfte und mit einem minimalen Bedarf der Arbeitnehmer an Lohn und Gehalt, um davon leben und vor allem weiter arbeiten zu können, versuchen die Gewerkschaften in den Tarifrunden, das Unvereinbare zu vereinbaren – die Profitkalkulation des Kapitals und die Lebensbedürfnisse der Beschäftigten. Die Ergebnisse fallen, kaum überraschend, ziemlich einseitig aus.
Am Ende demonstrieren die Gewerkschaften gegen sich selbst
Eine neue Qualität stellt nun das gewerkschaftliche Engagement für niedrigere Industriestrompreise dar. IG Metall und Co. machen sich die Kostenprobleme der Unternehmen noch umfassender zu eigen. Sie gehen auf die Straße, damit das deutsche Kapital gegenüber der ausländischen Konkurrenz – übrigens mitsamt den ausländischen Kollegen, aber das tangiert eine deutsche Gewerkschaft nicht – weiter überlegen bleibt.
Dafür soll der Staat sorgen, indem er den Preis subventioniert, also künstlich senkt. Dass er sich das Geld dafür auf dem Finanzmarkt leiht und damit die ehedem hohe Inflation, unter der gerade die Arbeitnehmer leiden, noch mehr anschiebt, ist hier nicht von Interesse.
Man möchte sich gar nicht weiter ausmalen, für welche anderen Kostensenkungen die Gewerkschaften ihre Mitglieder demnächst noch antreten lassen: zu teure Maschinen und Rohstoffe, zu aufwendige Transportwege und Transportmittel, zu hohe Steuern und Abgaben, zu strenge Umweltauflagen usw.
Stets ist der Hauptzweck der Wirtschaft gefährdet, Profit zu erzielen – pardon, Arbeitsplätze zu schaffen, muss es natürlich heißen. Und dafür, dass das gelingt, haben die Arbeitnehmervertreter noch eine Menge zu tun. Am Ende schicken sie ihre Mitglieder womöglich auf die Straße, um gegen sich selbst zu demonstrieren. Sie sind schließlich einfach zu teuer oder?
Der Beitrag erschien zuerst bei Telepolis. Bild: wiki media commons cco