Vor 25 Jahren, am 20. Juni 1992, fand in der Berliner Kongresshalle am Alexanderplatz die 1. Konferenz Ostdeutscher und Berliner Betriebsräte und Personalräte statt. Sie wurde zum Ausgangspunkt des selbstorganisierten Versuchs eines Branchen und Regionen übergreifenden Widerstandes von Belegschaften in ganz Ostdeutschland gegen die von der Treuhandanstalt im Auftrag der Regierung Kohl durchgesetzte Politik der Privatisierung der ostdeutschen Wirtschaft. Dieser Versuch entsprang der – bei den Spitzen der Gewerkschaften vermissten – Einsicht von Betriebsräten, dass nur ein flächendeckender Widerstand die Kahlschlagpolitik der Treuhandanstalt stoppen kann, die innerhalb von nur wenigen Jahren zur millionenfachen Zerstörung von Arbeitsplätzen und zur weitgehenden Deindustrialisierung Ostdeutschlands geführt hat. Doch bildete die auf ihrer ersten Konferenz gegründete Initiative Ostdeutscher und Berliner Betriebsräte, Personalräte und Vertrauensleute nur die Spitze einer viel breiteren, politisch agierenden sozialen Protestbewegung von Belegschaften, Betriebsräten, Vertrauensleuten, lokalen wie regionalen Gewerkschaften in Ostdeutschland, an der auch Teile der Erwerbslosenbewegung beteiligt waren.
Während über die verheerenden Folgen der Politik von Treuhandanstalt und Bundesregierung zahlreiche Bücher und Artikel veröffentlicht wurden, sind die Protestbewegungen, mit Ausnahme des monatelangen Kampfes der Kali-Kumpel und ihrer Frauen in Bischofferode, weitgehend vergessen. Wieder einmal zeigt sich, dass es die „Sieger“ sind, die Geschichte schreiben: Die breite Widerstandsbewegung gegen die Deindustrialisierung passt da schlecht ins Bild von der „Erfolgsgeschichte der deutschen Einheit“. Doch auch aus dem linken Gedächtnis sind diese Kämpfe verschwunden, was sicher nicht zuletzt daran liegt, dass sie mit einer Niederlage endeten: Die Proteste haben diesen Deindustrialisierungsschock nicht verhindern können. Manche ehemalige Aktivist/innen möchten sie deshalb aus der Erinnerung verdrängen. Dabei gehört dieser breite und oft mit militanten Methoden wie Betriebsbesetzungen, Straßen- und Autobahnblockaden geführte Kampf zu den herausragenden Ereignissen sozialer Protestbewegungen in der deutschen Geschichte.
Es ist höchste Zeit, sich dieser vergessenen Bewegung wieder zu zuwenden, zumal Ostdeutschland namentlich von jungen Aktivist/innen häufig nur als Hort von Rassismus und Nationalismus wahrgenommen wird. Wenn jedoch die Entwicklung in Ostdeutschland auf diese Vorgänge reduziert bleibt, gerät aus dem Blick, dass es zeitgleich eine emanzipatorische betriebliche Basisbewegung gab. Zum besseren Verständnis einer in Ostdeutschland erstarkten rechten Bewegung gehört es aber auch, die dramatischen sozialen Umbrüche und die Niederlagen der Protestbewegung der 1990er Jahre danach zu befragen, inwieweit sie zu massiven Entsolidarisierungsprozessen führten und damit rechtsradikale Ideologien stärkten.
Die Privatisierungspolitik der Treuhandanstalt in Ostdeutschland zu Beginn der 1990er Jahre, die zur Zerstörung der ostdeutschen Großindustrie führte, wird in anderen Ländern wie Griechenland heute fortgesetzt, wo nach dem Muster der Treuhandanstalt Privatisierung und Ausverkauf der Reichtümer des Landes im Interesse des deutschen und europäischen Kapitals betrieben wird. Wenn wir über den betrieblichen Widerstand und die Ursachen der Niederlage in Ostdeutschland vor 25 Jahren sprechen, werden wir auch darüber diskutieren müssen, ob und welche Lehren es für die Kämpfe von Beschäftigten und Gewerkschaften heute gegen diese Politik gibt.
Obwohl im Zentrum der Tagung die Initiative Ostdeutscher und Berliner Betriebsräte, Personalräte und Vertrauensleute steht, wollen wir zugleich die Vielfalt des Widerstandes von Belegschaften, Betriebsrät/innen und Gewerkschaften der frühen 1990er Jahre im Osten deutlich machen. In Vorträgen, Analysen sowie Berichten von Zeitzeug/innen sollen die Ereignisse, die damals wie heute durchaus unterschiedlich bewertet wurden, vorgestellt und diskutiert werden. Wir wenden uns vor allem an eine junge Generation heutiger Aktivist/innen aus Gewerkschaften und sozialen Bewegungen sowie an Wissenschaftler/innen und Publizist/innen, die sich für die Geschichte sozialer Bewegungen interessieren und mit denen wir gemeinsam den Bogen von der Geschichte in die Gegenwart schlagen wollen.
Bernd Gehrke, Willi Hajek, Renate Hürtgen (AK Geschichte sozialer Bewegungen Ost West)
https://geschichtevonuntenostwest.wordpress.com/
Programm als PDF: Ostwind
Tagungsprogramm
Ort: Haus der Demokratie und Menschenrechte, Greifswalder Straße 4, 10405 Berlin, Havemannsaal
Freitag, 23. Juni
18.30 – 21.30
Soziale Kämpfe in Ostdeutschland zwischen 1990 und 1994. Ein Überblick, Bernd Gehrke (Publizist, AK Geschichte)
Kommentar: Hinrich Garms (Politologe, BAG Prekäre Lebenslagen)
Diskussion, Moderation: Renate Hürtgen (Historikerin, AK Geschichte)
Veranstalter/in dieser Auftaktveranstaltung der Tagung ist das Bildungswerk Berlin der Heinrich-Böll-Stiftung
Samstag, 24. Juni
10.00 – 11.00
Die Initiative Ostdeutscher Betriebsräte, Personalräte und Vertrauensleute. Entstehung, Leistungen und Grenzen, Martin Clemens (Historiker, Duisburg)
Kommentar: Judith Dellheim (Politökonomin, RLS)
11.15 – 13.00
Podiumsdiskussion: Angelika Schneider (ehem. BR Halbleiterwerk FFO); Stephan Demke (ehem. BR WF); Reinhard Knisch (ehem. Vorsitzender des DGB Rostock), N.N. (Kaliwerk Thomas Müntzer, Bischofferode), Sonja Kemnitz (ehem. BR NILES)
Diskussion, mit Beiträgen Westberliner BR, Moderation: Bernd Gehrke (AK Geschichte)
14.30 – 16.30
Gewerkschaften und betriebliche Interessenvertretungen der Beschäftigten Anfang der 1990er Jahre in der DDR und den neuen Bundesländern, ihre Politik gegenüber Belegschaften und Treuhandanstalt, Renate Hürtgen (Historikerin, AK Geschichte)
Die Dialektik von Streik, Recht und Gewerkschaften am Beispiel der Gewerkschaftspolitik in Ostdeutschland der frühen 1990er Jahre, Rolf Geffken (Jurist, Icolair)
Erfahrung beim Aufbau von Westgewerkschaften im Osten (Anton Kobel, express/ver.di)
Moderation: Redaktion express (angefragt)
17.00 – 19.00
Abschlusspodium: Betriebliche, überbetriebliche und gewerkschaftliche Kämpfe – damals und heute: Gemeinsamkeiten und Unterschiede
Elke Breitenbach (ehem. Bündnis Kritischer GewerkschafterInnen Ost-West und HBV-Sekretärin); N.N. (ehem. BR/Aktionsbündnis Thüringen brennt), angefragt; Dieter Walter (ehem. BR und Organisator Betriebsbesetzung Stahlwerk Hennigsdorf); Willi Hajek (ehem. GOG Opel Bochum)
Moderation: Ralf Hoffrogge (Historiker, Zeitschrift Arbeit. Bewegung. Geschichte.)
Sonntag, 25. Juni
10.00 bis 12.00 Uhr
Wir haben ein Zusatzangebot organisiert, das bei mindestens zehn Anmeldungen starten kann: Industrie- u. sozialgeschichtliche Stadtwanderung durch die ehemalige Industrieregion Berlin-Oberschöneweide, in Kooperation mit dem Industriesalon Schöneweide und ehem. Betriebsrät/innen (Unkostenbeitrag: 8,- Euro)
https://geschichtevonuntenostwest.wordpress.com
Die Tagung wird finanziert von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, der Stiftung Menschenwürde und Arbeitswelt und der Stiftung Haus der Demokratie und Menschenrechte. Die Auftaktveranstaltung am 23. Juni wird vom Bildungswerk Berlin der Heinrich-Böll-Stiftung getragen und finanziert.
Im Interesse einer effektiveren Vorbereitung, bitte wir um Anmeldung unter info@dr-huertgen.de oder Bernd.Gehrke@mailbox.org
Unterstützer/innen:
Arbeitskreis Internationalismus in der IG Metall Berlin
Bundeskoordination Internationalismus (BUKO)
express. Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit
Labournet Germany
Zeitschrift Arbeit. Bewegung. Geschichte.
Zeitschrift Sozial. Geschichte. Online.
Bild: hdg.de