WIR KLAGEN AN! Anklage des Tribunals »NSU-Komplex auflösen« 17. – 21. Mai 2017 Köln-Mülheim

In Gedenken an Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat, Michèle Kiesewetter.

Wir klagen an!

Dies ist unsere Anklage. Im Namen der Aufklärung, im Namen der Gerechtigkeit, im Namen der Opfer und ihrer Angehörigen. Diese Anklage ist das Ergebnis unserer Anstrengungen, den NSU-Komplex und seine Akteur*innen sichtbar zu machen. Sie steht im bewussten Widerspruch zur strafrechtlichen Anklage der Bundesanwaltschaft, die den NSU als das Werk einiger Weniger verharmlost. Diese Anklage wäre nicht möglich, ohne das unermüdliche Engagement derjenigen, die sich seit der Selbstenttarnung des NSU für die vollständige Aufklärung und Auflösung des NSU-Komplex eingesetzt haben. Unsere Anklage ist die notwendige Konsequenz ihrer Ergebnisse: „Es gibt immer noch viel zu wenig Ermittlungsverfahren gegen lokale Unterstützernetzwerke und es gibt keine gegen staatliche Helfer und Unterstützer, gegen V-Leute des Verfassungsschutzes. Es fehlen vollständig die Verfahren gegen Ermittler, gegen Polizeibeamte, gegen Mitarbeiter des Verfassungsschutzes, gegen Präsidenten und Abteilungsleiter von Verfassungsschutzbehörden, Verfahren, die nicht nur wegen Inkompetenz und Untätigkeit sondern auch wegen aktiver Unterstützung geführt werden müssten. Auf diese Anklagebank gehören nicht 5, sondern 50 oder noch besser 500 Personen, die alle mitverantwortlich sind für diese Mordtaten, für diese Sprengstoffanschläge, nicht nur weil sie sie nicht verhindert haben, sondern auch weil sie nichts getan haben, um sie aufzuklären aber auch, weil sie aktiv mitgewirkt und unterstützt haben.“ (Angelika Lex, Vertreterin der Nebenklage im NSU-Prozess, 2013)

„Denn wesentliche Fragen sind ja nicht beantwortet: Wie groß war der NSU wirklich? Welche Rolle spielte der Verfassungsschutz? Welche Verantwortung trug institutioneller Rassismus? Wir haben jetzt fünf konkret für die Taten Angeklagte. Aber auch der Staat gehört auf die Anklagebank. Diejenigen, die die Neonazi-Szene geschützt und gefördert haben, die Unschuldige verfolgt und Hinweise auf das Trio ignoriert haben.“ (Mehmet Daimagüler, Vertreter der Nebenklage im NSU-Prozess, 2017) Diese Anklage ist eine gesellschaftliche Notwendigkeit. Der NSU-Komplex ist bis heute weder aufgeklärt noch aufgelöst. Er wirkt weiter, trotz zahlreicher Untersuchungsausschüsse und trotz des Strafprozesses, der am OLG München gegen eine kleine Gruppe Neonazis geführt wird. Der NSU-Komplex wird auch nicht aufgelöst sein, wenn das Gericht in München sein Urteil gesprochen haben wird. Nicht wenige Angehörige der Mordopfer und die Betroffenen der Sprengstoffanschläge haben große Hoffnungen in den Prozess und das Versprechen nach umfassender Aufklärung gesetzt. Aber sie wurden enttäuscht. Das Gerichtsverfahren war kein Raum, in dem ihre Erfahrungen, ihr Wissen und ihre Forderungen angemessen gehört wurden. Die Betroffenen fordern nach wie vor umfassende Aufklärung und die Benennung aller verantwortlichen Personen und Institutionen, von denen sie angegriffen, verletzt und verleumdet wurden: „Es wird sich nichts ändern, solange die Personen, die für die Ermittlungsfehler bei den NSU-Morden verantwortlich sind, nicht zur Verantwortung gezogen werden. Wir müssen den institutionellen Rassismus innerhalb der deutschen Behörden und vor allem innerhalb der Polizei bekämpfen. Wichtig ist auch, das Bewusstsein zu schärfen, für die Verbrechen, die vom NSU begangen wurden.“ (Yvonne Boulgarides, Witwe von Theodoros Boulgarides, 2014).

Unsere Anklage ist diesen Worten verpflichtet. Sie beruht auf der unnachgiebigen Wahrheitssuche all derer, die für die Auflösung des NSU-Komplex einstehen. Sie speist sich aus dem Wissen und den Berichten der Betroffenen, aus journalistischen Recherchen, aus Medienanalysen, Protokollen und Recherchen von NSU-Watch, antifaschistischen Recherchen, aus den Ermittlungen der Nebenklage im NSU-Prozess und den Protokollen und Abschlussberichten der Untersuchungsausschüsse. Dieses Wissen stützt und trägt unsere Anklage. Obwohl wir versucht haben, alle Personen im NSU-Komplex zu benennen, bleibt auch unsere Anklage unvollständig. Wir wissen, dass es weitere Täter*innen und Mitverantwortliche gibt, deren Identität wir noch nicht kennen. Wen klagen wir an? Wir klagen sowohl die Ermöglichungsbedingungen als auch die Verantwortung einzelner Personen im NSU-Komplex an – weil beides nicht voneinander zu trennen ist. Der NSU-Komplex geht über die individuelle Täterschaft bei den Morden und Bombenanschlägen weit hinaus; gleichwohl kann sich niemand hinter abstrakten Strukturen verstecken.

Wir klagen diejenigen an, die Leben, Familien und Existenzen zerstört haben. Wir klagen die Unterstützung dieser Taten an, das Netzwerk dahinter, und wir klagen die Mitwisserschaft an. Wir klagen jene an, die den NSU-Komplex in vielfältiger Weise gebilligt, gefördert und flankiert haben. Wir klagen die an, die ein Auge zugedrückt haben, die untätig geblieben sind und die stillschweigend ihr Einverständnis erteilt haben. Wir klagen die Nazis an, die Menschen ermordeten und verletzten, die Beamt*innen, die die Angehörigen und Opfer gedemütigt, eingeschüchtert und kriminalisiert haben, die Journalist*innen, die von düsteren Parallelwelten fabulierten, die Agent*innen in den geheimen Diensten, die das Morden der Nazi-Zellen bewirtschaftet haben und die die Spuren dieses Zusammenwirken, das präziser Kollusion heißen muss, bis heute akribisch verwischen. Zusammen bilden sie den NSU-Komplex, wie wir ihn verstehen. Damit lenken wir den Blick auf jene, die sich nicht vor dem OLG München verantworten müssen. Die dort Angeklagten nennen wir hier lediglich, ohne ihre Taten im Einzelnen zu beschreiben, denn über sie kann sich die Öffentlichkeit auch so informieren.

Wir klagen auch die institutionellen Logiken und Routinen an, die es nicht erlauben, die Nichtverhinderung der Verbrechen als eine Serie von Versagen und Pannen abzutun. Die Extremismusdoktrin, der institutionelle Rassismus staatlicher Behörden, die Vertuschung geheimdienstlicher Arbeit, der kulturalisierend-stigmatisierende Blick der Medien auf Migrant*innen oder die unmittelbar nationalsozialistischen Lebenswelten in Zwickau, Chemnitz und anderen Orten wirkten dabei systematisch zusammen. Diese Strukturen funktionieren unabhängig von konkreten austauschbaren Personen. Dennoch klagen wir konkrete Personen innerhalb dieser Strukturen an, weil sich Einzelne sehr wohl entscheiden können, ob sie hetzen, lügen, bedrohen, vertuschen und Mördern helfen oder dies eben nicht tun. Für diese Entscheidungen tragen sie die Verantwortung – für ihr Tun müssen sie zur Verantwortung gezogen werden.

Wir klagen an, aber wir verkünden kein Urteil

Weil wir es nicht können und weil wir es nicht wollen. Wir können kein Urteil fällen, weil Untersuchungen blockiert, Ermittlungen verweigert, Beweise vernichtet oder versteckt werden. Wir benennen die Namen, Funktionen und Handlungen von Verantwortlichen, die wir trotz all dieser Verschleppungen und Vertuschungen kennen. Wir haben unzählige Berichte von Betroffenen, wir nutzen gründlich recherchierte Quellen, wir besitzen zwingende Indizien und wir stellen offene, drängende Fragen. Unbeteiligt ist niemand der von uns angeklagten, der Umfang ihrer Verstrickungen ist indes nicht immer präzise zu bestimmen. Nicht alle Vorwürfe können bisher vollständig bewiesen werden, und nicht alle hier Genannten trifft das gleiche Maß an Schuld und Verantwortung. Wir wollen kein Urteil fällen, weil wir der Meinung sind, dass die Gesellschaft Konsequenzen aus der Anklage ziehen muss. Die Verantwortung liegt bei allen, die das  antidemokratische Zusammenwirken – die Kollusion von Geheimdiensten und Neonazis – beendet sehen wollen und die eine Gesellschaft ohne Rassismus anstreben.

Unsere Anklage ist kein Schlusspunkt, sondern ein Anfang.

Wir fordern die Öffentlichkeit auf, diese Anklage fortzuschreiben, für weitere Aufklärung einzustehen und Forderungen zu formulieren. Unsere Anklage ist in diesem Sinne nicht juristisch, sondern politisch zu verstehen. Sie ist eine notwendige Intervention, die von Vielen getragen werden muss. Unsere Anklage gehört euch.

Wir formulieren unsere Anklage anhand der folgenden Kapitel, die den NSU-Komplex historisch ermöglichten, zum Wirken brachten und seiner Auflösung entgegenstehen:

  • Einleitung
  • Die gesellschaftliche Akzeptanz und das Klima der Straffreiheit angesichts rassistischer Gewalt während der Geburtsstunde des NSU in den 1990er Jahren
  • Die Planung, Durchführung und Unterstützung des neonazistischen Terrors
  • Die indirekte Förderung der Taten des NSU durch die Sicherheitsbehörden, insbesondere den Verfassungsschutz
  • Die Verharmlosung rechter und rassistischer Ideologie und die Leugnung neonazistischer Terrorstrukturen
  • Der institutionelle Rassismus bei den Ermittlungen und die Kriminalisierung der Betroffenen
  • Die mediale Dethematisierung rassistischer Tatmotive und die Diffamierung der Betroffenen
  • Die behördliche Verhinderung vollständiger Aufklärung durch Beweisvernichtung und Vertuschung
  • Die Verhinderung strafrechtlicher Aufarbeitung im Sinne der Betroffenen durch die Bundesanwaltschaft
  • Die Verweigerung von Gerechtigkeit

 

Aus Gründen der Lesbarkeit verzichten wir in dieser Schrift darauf, die uns vorliegenden Belege zu nennen. Die hier vorgebrachten Vorwürfe sind von uns gründlich geprüft und können anhand öffentlich zugänglicher Quellen nachvollzogen werden. Wir sind bereit, sie anhand dieser Belege zu verteidigen.

Zur Anklageschrift:   http://www.nsu-tribunal.de/wp-content/uploads/2017/05/NSU-Tribunal_Anklageschrift.pdf



Quelle:   http://www.nsu-tribunal.de/