Apropos soziale Gerechtigkeit – wieviel Ungerechtigkeiten wollen wir uns eigentlich noch bieten lassen?

Zorniger Einwurf von Werner Rügemer

Sehr gut: Der SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz will für Arbeitnehmer mehr Gerechtigkeit. Das trifft einen Nerv. Da ist Nachholbedarf, erheblich!

Aber was macht gleichzeitig die SPD-Arbeitsministerin? Andrea Nahles mauschelt mit dem Präsidenten des Deutschen Roten Kreuzes (DRK), Rudolf Seiters. Bisher werden 25.000 Schwestern des DRK als barmherzige, billige Arbeitskräfte an Kliniken verliehen. Europäischer Gerichtshof und Bundesarbeits-Gericht haben ihnen nun den regulären Arbeitnehmer-Status als Leiharbeiterinnen zuerkannt. Aber Nahles will mit einer Ausnahmeregelung den alten Zustand festschreiben (taz, 1.3.2017).

Wie weit sind wir eigentlich gekommen? Die Bundesregierung will höchstrichterliche Urteile aushebeln, und die SPD-Arbeitsministerin zieht das durch?

Und der Gerechtigkeitsvertreter Schulz lässt das stillschweigend links liegen? Er will die Zahlung des Arbeitslosengelds I verlängern und befristete Arbeitsverträge einschränken. Gut so. Aber da hat er sich nur wenige Ungerechtigkeiten herausgepickt.

ArbeitsUnrecht: Die Liste ist lang

Unabhängig von Wahlkämpfen ist es längst an der Zeit, das ganze Spektrum ungerechter Arbeitsverhältnisse und das damit verbundene Unrecht öffentlich anzuprangern. Wir werden hier nur mal anfangen können. Also, zum Beispiel: Sieben Millionen abhängig Beschäftigte schlagen sich mit Minijobs herum. Aber die Unternehmer verweigern knapp fünf Millionen von ihnen das Krankengeld, drei Millionen bekommen das ihnen zustehende Urlaubsgeld nicht (NDR, 25.5.2014).

Zum Beispiel im Reinigungsgewerbe sind Arbeitsverträge mit 20 Wochenstunden verbreitet. Doch in dieser Zeit kann die geforderte Zahl an Zimmern und Quadratmetern gar nicht gereinigt werden, es muss fünf oder auch 10 Stunden mehr gearbeitet werden. Aber es werden nur 20 Stunden bezahlt. Damit wird auch der Mindestlohn unterlaufen. Ähnlich bei Taxifahrern: Viele werden für acht Stunden bezahlt, müssen aber 10 bis 12 Stunden fahren. Nebenbei bemerkt: Unternehmer lassen Stundenzettel fälschen – Urkundenfälschung als routinemäßige Straftat.

Überhaupt der Mindestlohn

Er beträgt jetzt 8,84 Euro pro Stunde, brutto. Nach zwei Jahren von 8,50 Euro um 34 Cent erhöht. Was ist dieser Armuts- und Hungerlohn eigentlich für eine Unverschämtheit? Und die missbräuchlich hunderttausendfach als Leiharbeiter und Werkvertragler eingesetzten Beschäftigten seien hier nur kurz am Rande erwähnt, ist ja alles bekannt.

Nach der offiziellen Statistik ließen Unternehmen in den letzten Jahren im Durchschnitt gut 900 Millionen unbezahlte Überstunden arbeiten (Hamburger Abendblatt, 16.9.2016). So schenken abhängig Beschäftigte den Unternehmern jährlich mindestens 30 Milliarden Euro, ohne dass die Personalverantwortlichen dafür irgendetwas leisten, außer noch profitgeiler zu sein. Und das betrifft nur die dokumentierten Überstunden, während die nicht dokumentierten Überstunden sowieso immer mehr werden. Es handelt sich in den meisten Fällen um Erpressung, denn die Unternehmer drohen mit Betriebsschließung oder Arbeitsplatzabbau, also mit einem „empfindlichen Übel“.

Schöne neue Arbeitswelt: Arbeit auf Abruf

Kapovaz bedeutet kapazitätsorientierte variable Arbeitszeit. Dabei haben 1,5 Millionen Beschäftigte keine festgelegten Schichten (zdfZoom, 26.4.2017). Sie halten sich auf Abruf bereit. Das Unternehmen kann sie bei Bedarf für eine wechselnde Stundenzahl heranholen, mindestens 10 pro Woche.

Nach Teilzeit- und Befristungsgesetz muss es mindestens drei zusammenhängende Arbeitsstunden und eine Ankündigungsfrist von vier Tagen geben. Doch diese Vorschriften werden hunderttausendfach verletzt – Anruf morgens 5 Uhr: Sofort kommen! Das führt unter anderem dazu, dass solche Beschäftigte, die eigentlich einen zweiten Job brauchen, um über die Runden zu kommen, keinen kriegen.

Die Bundesregierung drängt die Jobcenter zu harten Einsparungen. In den Jobcentern selbst arbeiten immer mehr Beschäftigte mit befristeten und Teilzeitverträgen (taz, 27.10.2015). Gleichzeitig sollen sie möglichst viele der niedrigen Ansprüche der Arbeitslosengeld II-Empfänger abschmettern. Finanzielle Sanktionen erweisen sich zu zehntausenden als willkürlich und unbegründet – und das sind nur die wenigen, bei denen die zermürbten Arbeitslosen mithilfe eines Anwalts vor Gericht ziehen (Focus, 8.4.2016).

Als die jetzige Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen Arbeitsministerin war, strich sie den ALG II-Empfängern den Beitrag zu Rentenversicherung. Das kommt noch hinzu, hier wie überall mit den genannten und weiteren Ungerechtigkeiten.

Rentner malochen als nächtliche Zeitungsausträger bis zum Tod: Die Altersarmut ist schon da und wird weiter vorbereitet, vor allem bei den Jungen.

Warum und wie lange wollen wir uns das eigentlich noch bieten lassen?

Arbeitsrechte sind Menschenrechte!


Der Beitrag erschien ursprünglich in der ver.di-Zeitschrift publik 3/2017. 
Bild: IWW Bremen