Armut in der Bundesrepublik Deutschland auf neuem Rekordhoch – zum Armutsbericht 2020 des deutschen paritätischen Wohlfahrtsverbandes

 Von Ralf Hagenkötter und Dietmar Kompa

Was ist nun der eigentliche Skandal, der Armutsbericht betreffend das Jahr 2019 selbst oder die Beiläufigkeit mit der dieser in den bürgerlichen Medien, wenn überhaupt, Erwähnung fand? Hätte der Bericht vielleicht mehr gesellschaftliche Aufmerksamkeit bekommen, wenn er von einem Virologen vorgetragen worden wäre? Wir wissen es nicht. Zu vermuten ist allerdings, dass die Ergebnisse der Studie, die letztendlich die bisherige Politik ziemlich alt aussehen lässt, so gar nicht ins Bild passen will, welches die Bundesrepublik von sich vermittelt. Vielleicht erklärt das die mediale und politische Zurückhaltung. Wir aber wollen es uns nicht nehmen lassen etwas näher mit den Ergebnissen dieser Studie zu beschäftigen. Dies auch im Hinblick auf das Wahljahr 2021 mit 3 Kommunalwahlen, 6 Landtagswahlen und der Bundestagswahl im Herbst 2021. Um unliebsame Fakten bekannt zu machen und politischen Druck aufzubauen, um Forderungen zur Bekämpfung der Armut und das nicht nur in den Parlamenten zu verbreiten.

„Mit 15,9 % hat die Armutsquote in Deutschland einen historischen Wert erreicht. Es ist die größte gemessene Armut seit der Wiedervereinigung. Über 13 Millionen Menschen sind betroffen.“ Das sind Fakten, die so gar nicht zum Bild eines reichen Landes, das sich gerne auch als Exportweltmeister bezeichnet, passen. Der Armutsbericht des Paritätischen bildet die Armut aber nicht einfach nur ab, sondern fragt auch nach regionalen Besonderheiten, nach traurigen Armutshochburgen, auch nach Personengruppen, die besonders betroffen sind.

Dies bedeutet für die gegenwärtig (CDU und FDP) und früher (SPD und Grüne) politisch Verantwortlichen in NRW eine katastrophale Bilanz des Versagens. „Das problematischste Bundesland bleibt Nordrhein-Westfalen…Seit Einsetzen des langfristigen Aufwärtstrends in 2006 ist die Armutsquote in NRW zweieinhalbmal so schnell gewachsen wie die gesamtdeutsche Quote. Armutstreiber in NRW ist das Ruhrgebiet mit einer Armutsquote von 21,4 Prozent. Das größte Ballungsgebiet Deutschlands muss damit zweifellos als Problemregion Nummer 1 gelten.“ (Armutsbericht)

Was nun von Armut besonders betroffene Personengruppen wie Arbeitslose, Alleinerziehende, kinderreiche Familien, Menschen mit niedriger Qualifikation und Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit angeht, so muss der Bericht nüchtern bilanzieren, dass bei all diesen besonders betroffenen Gruppen die Armutsquote von 2018 auf 2019 noch einmal zugenommen hat.

Sogenannte Rentenreformen, aber auch die von Politikern zu verantwortende Verlängerung der Lebensarbeitszeit, haben dann auch zu einem vergleichsweise neuen Phänomen, der Altersarmut, geführt. „Die mit Abstand stärkste Zunahme des Armutsrisikos zeigt im längerfristigen Vergleich die Gruppe der Rentner*innen und Pensionär*innen. Unter ihnen wuchs die Armutsquote seit 2006 um 66 Prozent. Aus einer eher geringen wurde mit 17,1 Prozent eine deutlich überdurchschnittliche Armutsquote.“

Arbeit, Arbeit, Arbeit. So schalte es vor einigen Jahren von den Propagandisten der freien Marktwirtschaft und des Neoliberalismus. Im mehr oder weniger einträchtigen Bemühen der Genannten den Faktor „Arbeit“ billiger zu machen, u.a. mit Hartz IV, der Ausweitung von Minijobs, Befristungen und Leiharbeit, gab es, nicht unerwartet, geradezu skandalöse Ergebnisse. Während die veröffentlichte Diskussion über Armut diese überwiegend als Folge von Arbeitslosigkeit darstellte, sind die Fakten Andere: „Was die Sozialstruktur der Armut angeht, ist der ganz überwiegende Teil der Armen erwerbstätig (33,0 Prozent) oder in Rente (29,6 %).“ (Armutsbericht)

Regionale Unterschiede, so das Fazit des Paritätischen, sind unübersehbar, entwickeln sich nicht gleichmäßig, teils überraschend. Im längerfristigen Vergleich ging die Armut in den neuen Bundesländern Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen etwas zurück. „Gleichwohl spielt sich dieser Rückgang zum Teil auf sehr hohem Niveau ab, so dass Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern trotz dieser positiven Entwicklung nach wie vor zu den am stärksten von Armut betroffenen Bundesländern Deutschlands gehören.“ (Armutsbericht)

Regional zeichne sich nicht mehr so stark eine Ost-West-Spaltung sondern vielmehr eine Nord-Süd-Achse ab. Wobei den bevölkerungsreichsten Bundesländern, Hessen und NRW, eine besondere Rolle zukommt. Ohne die Situation im Osten Deutschlands schön reden zu wollen muss konstatiert werden, dass Armut schon lange kein reines Ostproblem, also quasi Ergebnis der Wiedervereinigung ist.

Die am stärksten von Armut betroffenen Regionen Deutschlands sind 2019 Bremen (24,9%), Sachsen-Anhalt (19,5%), Mecklenburg-Vorpommern (19,4%), Berlin (19,3%) und NRW mit 18,5%.

Innerhalb des Bundeslandes spielt das Ruhrgebiet dann auch in der Entwicklung der Armut eine besondere Rolle. Wurde es in früheren Zeiten als das „industrielle Herz“ Deutschlands bezeichnet, muss mittlerweile bilanziert werden, dass im Ruhrgebiet von 5,8 Millionen dort lebenden Menschen über 1,3 Millionen von Einkommensarmut betroffen sind. „Im Ruhrgebiet beträgt der Anstieg der Armutsquote seit Beginn des Negativtrends 2006 36%. Zum Vergleich: In ganz Deutschland waren es 14%. In diesem bevölkerungsreichsten Ballungsraum wuchs die Armut zweieinhalb mal so schnell wie in Gesamtdeutschland. Die schlimmste Entwicklung zeigt die Raumordnungsregion Duisburg/Essen. Hier stieg die Armut im gleichen Zeitraum sogar um 48%.“ (Armutsbericht) Besonders erschütternd, anders kann man es einfach nicht sagen, ist die Situation für viele Kinder. „Fast jedes 4. Kind im Ruhrgebiet lebte 2019 in Hartz IV, in manchen Städten oder Kreisen liegen die Quoten bei 30% und höher. Ein besonderes Negativbeispiel ist Gelsenkirchen, wo 40 Prozent der Kinder in Hartz IV leben.“ (Armutsbericht)

Ausblick auf das Jahr 2020: Armut und Corona-Krise

Die im Armutsbericht aufgeführten Zahlen betreffen das Jahr 2019. Was das nunmehr zurückliegende Jahr 2020 betrifft lässt sich schon jetzt festhalten, dass nicht zuletzt aufgrund von Corona, im Jahr 2020 mit einem neuen Armutsrekordergebnis zu rechnen ist. So ergab eine Studie der „Hans-Böckler-Stiftung“ vom Juni 2020, dass Personen mit niedrigem Einkommen eher von Einkommenseinbußen betroffen sind als solche mit mittlerem oder höherem Monatseinkommen.

Dies ist sicherlich in erster Linie auf das abgestürzte Bruttoinlandsprodukt zurückzuführen. Aber auch die von der Bundesregierung in diesem Zusammenhang ergriffenen Maßnahmen zur Stimulierung der Nachfrage waren, so auch die Meinung vieler Wirtschaftsinstitute, eher dazu geeignet die Einkommensschere zwischen denen, die in der Krise Einkommenseinbußen hatten oder gar ihren Job verloren, wie z. B. viele Minijobber und Leiharbeiter und der übrigen Bevölkerung, zu vergrößern. Dem hätte die gezielte Förderung einkommensschwacher Haushalte sicher eher entgegenwirken können als die Senkung der Mehrwertsteuer, die mit Einnahmeausfällen in Höhe von 20 Milliarden € zu Buche schlägt.

Gegen Armut hilft Geld oder wie gegen Armut vorgehen?

Auch hier bietet die veröffentlichte Studie umfangreiche Antworten und belässt es nicht nur bei einer Beschreibung der Misere. Ihr Fazit lautet: Gegen Armut hilft Geld. Das bedeutet:

Neubemessung der Regelsätze in Hartz IV sowie in der Grundsicherung für alte und erwerbsgeminderte Menschen

Da die Regelsätze nicht dem sozio-kulturellen Mindestbedarf entsprechen sind sie  von 446 €  auf 644 € für einen allein lebenden Erwachsenen zu erhöhen (Der Paritätische verweist in diesem Zusammenhang auf eine eigene Studie zur Ermittlung des Regelbedarfs). Dies soll auch für Menschen gelten, die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz beziehen. Hinzu kommt, entgegen der bisherigen Regelung, die volle Übernahme der Stromkosten. Darüber hinaus  soll auch  wieder die alte Regelung in Kraft treten nach der die Kosten für die Anschaffung von Waschmaschinen und Kühlschränken übernommen werden.

Stärkung der Arbeitslosenversicherung

Für nahezu 2/3 der Arbeitslosen spielt die Arbeitslosenversicherung keine Rolle mehr, da sie auf Hartz IV zurückgeworfen werden. Daher ist sie so zu stärken, dass sie wieder das primäre Sicherungsinstrument für Arbeitslose ist. Somit sollte auch ein Mindestarbeitslosengeld eingeführt werden, das für alle ehemals Vollzeiterwerbstätige oder Teilzeiterwerbstätige die aufgrund von Erziehung von Kindern, bzw. Pflege naher Angehöriger nicht vollerwerbstätig sein konnten und daher auf Hartz IV-Leistungen angewiesen sind, auszuzahlen ist. Ferner ist die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes in Abhängigkeit von bisherigen Beitragszeiten auf maximal 36 Monate (für Arbeitnehmer ab 58 Jahren) zu verlängern. Die Anwartschaftszeit hingegen, in der Menschen erwerbstätig gewesen sein müssen um einen Anspruch zu erhalten, ist von 12 auf 9 Monate zu kürzen.

Stärkung der Alterssicherungssysteme

Zur Vermeidung von Altersarmut sind gravierende Änderungen in der Alterssicherung unumgänglich. Grundsätzlich benötigt die Rentenversicherung, die regelmäßig auch Leistungen zur Rehabilitation und Erwerbsminderung enthält, im Gegensatz zu privaten Rentenversicherungen, eine umfangreiche Aufwertung. Für langjährig Beschäftigte ist daher eine steuerfinanzierte Mindestrente, die vor Armut schützt, einzuführen. Alle in der Vergangenheit eingeführten Änderungen zum Nachteil von Versicherten sind zurückzunehmen. Erforderlich im Falle des Bezugs von Grundsicherung ist die Einführung eines Freibetrags, damit ältere Menschen auch in Zukunft von ihren Versicherungszeiten in der Rentenversicherung profitieren können.

Einführung einer Kindergrundsicherung

Hier geht es darum ein Kindergeld in existenzsichernder Höhe auszuzahlen und mit steigendem Einkommen der Eltern bis auf einen Mindestbetrag abzuschmelzen, der den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügt.

Alle diese Forderungen widersprechen der bisherigen Praxis der Regierungspolitik, die im Kampf gegen die Armut, so er denn wirklich gewollt war, kläglich gescheitert ist. Schon allein deshalb erscheint ein radikaler Kurswechsel unumgänglich.

Somit hat sich auch das bisherige System der Sachleistungen, Gratisressourcen etc. erledigt, da deren Praxis sich als kontraproduktiv erwiesen hat, sind doch letztendlich nur wenige Anspruchsberechtigte in deren Genuss gekommen. Eine Überarbeitung scheint daher dringend geboten.

Auch der Verweis auf Bildung und Arbeit als Parameter im Kampf gegen Armut führt in die Irre, ergab doch die Armutsstudie, dass nahezu 2/3 der Armen über 25 Jahren über ein mittleres bzw. sogar hohes Bildungsniveau verfügen. Außerdem vermag auch ein noch so gutes Bildungsniveau armen Kindern nicht ihre arme Kindheit zu ersparen.

Erwachsene Arme sind in der überwiegenden Mehrheit nicht arbeitslos, wie die Studie ergab, sondern entweder erwerbstätig oder aber Rentner/innen. Lediglich 7,7 % der erwachsenen Armen sind tatsächlich erwerbslos. Auch dieses Ergebnis bestätigt die Richtigkeit der Forderung nach einer Erhöhung der Transferleistungen.

 

Positionen der DKP und Linkspartei

Etwas andere Akzente setzen gegenwärtig verschiedene linke Organisationen. Im Sofortprogramm der DKP werden sowohl

– öffentliche Investitionen im sozialen Wohnungsbau, Bau und Sanierung von Schulen, Kindergärten, Jugendzentren und Krankenhäusern, gefordert als auch

– Verbesserung staatlicher sozialer Leistungen, Erhöhung des Mindestlohnes auf € 12.

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Das System Hartz IV soll abgeschafft werden. Aktuell sollen soziale staatliche Leistungen wie z.B. ALG II, Sozialhilfe, Wohngeld, Kindergeld bei unteren Einkommen deutlich erhöht werden. Die Politik der Rentenkürzungen soll beendet, Niedrigrenten angehoben werden.

– Vorschläge zur Finanzierung der genannten Forderungen gibt es übrigens auch: Statt planmäßig eine jährliche Steigerung des Rüstungshaushaltes voran zu treiben, wird eine sofortige 20%-Senkung des Rüstungsetats und eine weitere schrittweise Reduzierung der Rüstungsausgaben gefordert, mit dem Ziel einer umfassenden Abrüstungspolitik.

– Es ist kein Ausrutscher, kein Zufall, keine Panne, dass parallel zum Anwachsen der gesellschaftlichen Armut auch der Reichtum der Wenigen enorm gestiegen ist und auch weiter steigt. Insofern werden Vorschläge zur Finanzierung erhoben, die gleichzeitig auf eine Umverteilung, bzw. gerechtere Verteilung, des gesellschaftlichen Reichtums abzielen. Das kann, der politische Wille vorausgesetzt, sowohl mit der Einführung einer Millionärssteuer, der Wiedereinführung der Vermögenssteuer, der Erhöhung  der Spitzensteuer für höchste Einkommen und Ähnlichem geschehen.

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Aus den zahlreichen programmatischen Äußerungen der Linkspartei zum Thema Armut und Sozialpolitik seien hier beispielhaft Forderungen aus einem Themenpapier der Fraktion der Linkspartei im Bundestag (2018) genannt:

– Einführung eines Mindestlohnes in Höhe von 12 € und eine Lohnentwicklung, die Beschäftigte am wirtschaftlichen Wachstum beteiligt,

– Schaffung eines gerechten Steuersystems und Erhebung von 5% Vermögenssteuer auf alle Vermögen ab 1 Millionen €,

– Überwindung von Hartz IV durch eine individuelle und sanktionsfreie Mindestsicherung i.H.v. 1050 € (2018),

– Zurückdrängung prekärer Beschäftigungsformen wie Leiharbeit,

Werkverträge, Befristungen usw. ,

– Erhöhung des Kindergeldes auf € 328 monatlich, Einführung einer eigenständigen Kindergrundsicherung i.H.v. € 573,

– Erhöhung des Rentenniveaus auf 53%,

– Sozialticket im ÖPNV (Öffentlicher Personen Nahverkehr).

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In Teilen der Linkspartei wird die Vorstellung und Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen als zentrales Moment zur Armutsbekämpfung gesehen. Dies kann in diesem Kontext nicht vertieft werden. Es soll mit dem Verweis auf die gewerkschaftliche Zurückhaltung und Kritik zunächst genügen.

Bei vielen anderen Organisationen, Verbänden und DGB-Gewerkschaften gibt es interessante und diskussionswürdige Ideen und Vorschläge, wie die Armut bekämpft werden könnte. Diese alle zu würdigen, zu diskutieren und Schnittmengen herauszufinden ist in diesem Kontext leider nicht möglich. Wie aber schon die wiedergegebenen Forderungen von DKP und der Partei die Linke zeigen, gibt es viele programmatische Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten.

Entscheidend wird aber unseres Erachtens nicht primär eine möglichst ausgefeilte und theoretisch untermauerte Programmatik sein sondern die Frage ob es künftig gelingt einen wirkungsvollen, starken, gemeinsamen Druck aufzubauen, der zur Realisierung der Forderungen beiträgt.

Die Notwendigkeit, dass es der Formierung solcher politischen Kräfte im Bündnis bedarf, hat der Armutsbericht 2020 des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes erneut unterstrichen.

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PS: Der Armutsbericht ist auf der Webseite des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes einsehbar. Es lohnt sich durchaus sich näher mit ihm zu beschäftigen.

 

 

 

Bild und Download Armutsbericht: https://www.der-paritaetische.de/schwerpunkt/armutsbericht/