Amazons Image als Arbeitgeber ist angekratzt, Saisonkräfte fehlen, Corona lässt teils über 30 Prozent der Belegschaften ausfallen. Der Gewinn aber steigt und steigt.
Peter Fritz hat gern bei Amazon gearbeitet. Zum 1. August dieses Jahres hat ihn der Gigant unter den Online-Versandhändlern vor die Tür gesetzt. Wegen Zuspätkommens, er klagt dagegen. „Anfangs hat es Spaß gemacht, ich habe vieles dazugelernt. Aber irgendwann merkst du, dass du nur eine Nummer bist, dass du wie ein Stück Vieh behandelt wirst“, sagt Peter Fritz. Als er im Frühsommer 2018 in dem damals gerade eröffneten Amazon-Standort im rheinland-pfälzischen Frankenthal als Stower im Lager begann, zählte der 48-Jährige zu den-jenigen, die schnell eine Betriebsratswahl möglich machten. Er arbeitete sich zum Picker hoch und schließlich zu einem der ersten Herren über die Roboter, Amnesty Responder wer-den sie in der Amazon-Sprache genannt.In Frankenthal betreibt Amazon sein zweitgrößtes Lager, in dem allein Roboter die georderten Waren aus den Regalen picken und in die nächste Stufe zum Versand transportieren. Peter Fritz beschreibt am Telefon, wie um ihren Bereich ein Zaun gezogen ist. Es klingt ein bisschen nach Arbeitslager. „Ich stand außerhalb des Zauns und musste immer rein, wenn ein Roboter ausfiel.“ Seine Aufgabe war es, den Roboter so schnell wie möglich wieder in Gang zu bringen.
Ende März, als Peter Fritz noch bei Amazon arbeitete, hatte er auf die Frage, was sein Arbeitgeber tue, um ihn und seine Kollegen vor einer Corona-Infektion am Arbeitsplatz zu schützen, geantwortet: „Was bei uns in Sachen Corona-Schutz getan wird, ist echt schräg. Da werden einerseits die Spinde aus dem Umkleidebereich weiträumig bis in die Kantine verteilt, um Schutzabstände einzuhalten – andererseits kommen rund 100 Leute für die Normalschicht zur gleichen Zeit an und stehen dann zur Übergabe bei Schichtwechsel dicht zusammen mit denen, die sie am Arbeitsplatz ablösen. Zur Arbeit kommen viele mit dem überfüllten Shuttle-Bus von der Straßenbahn zum Lager. Wer will bei diesem Durcheinander noch wissen, ob sich jemand mit dem Coronavirus infiziert hat?“
Die Covid-19-Ausbrüche
Tatsächlich kommt es an den Amazon-Standorten in Deutschland immer wieder zu Covid-19-Ausbrüchen. Am Standort Graben bei Augsburg waren zuletzt im November von den insgesamt 1.800 Beschäftigten rund 300 Beschäftigte an Covid-19 erkrankt. Von den ver.di-Mitgliedern unter den Infizierten lagen fünf auf der Intensivstation. Auch in Koblenz wurden bei einem ersten Massentest bei 800 von insgesamt 2.800 Beschäftigten 170 positiv getestet, beim letzten Test zwei Wochen später noch einmal 130. Die komplette Nachtschicht musste für 14 Tage in Quarantäne geschickt werden.
Laut der zuständigen Amtsärztin sei Amazon ein Corona-Hotspot, aber Amazon wolle das nicht eingestehen, berichtet die für Koblenz zuständige ver.di-Betreuungssekretärin Petra Kusenberg. „Du kannst dir gar nicht aus dem Weg gehen“, bestätigen Beschäftigte auch ihr immer wieder. ver.di-Sekretärin Mechthild Middeke, die die zwei Amazon-Versandlager in Bad Hersfeld in Hessen betreut, sagt: „Auf einer Beerdigung eines aktiven Kollegen von Amazon war ich schon.“
„Amazon nimmt wenig Rücksicht auf die Gesundheit seiner Beschäftigten. Immenser Druck, ständige Leistungsverdichtung, permanente Leistungskontrollen, schlechte Führungskultur, unzureichende Erholungs-, Durchatmungszeiten und fehlende Wertschätzung, gepaart mit mangelhaften Infektionsschutzvorkehrungen: Das alles sind schlechte Arbeitsbedingungen, die bei Amazon häufig an der Tagesordnung sind“, sagt auch ver.di-Sekretärin Sylwia Lech, die Ansprechpartnerin für die Amazon-Beschäftigten in Graben ist.
Dass Jeff Bezos, Gründer und Chef von Amazon, sozusagen über Leichen geht, ist nicht erst mit Corona eingetreten. Immer wieder überleben Amazon-Beschäftigte ihre Arbeit für ihn nicht. Im vergangenen Jahr erlag der damals 48-jährige Lagerarbeiter Billy Foister einem Herzinfarkt, den er während seiner Schicht im Amazon-Lager in Etna/Ohio erlitt. Sein Fall ging um die Welt. Der amerikanische Amazon-Kollege war eine Woche zuvor noch in die AmCare-Klinik des Lagers gegangen und hatte über Kopf- und Brustschmerzen geklagt. Zu diesem Zeitpunkt hätte er eigentlich schon in ein Krankenhaus gemusst. Stattdessen wurde ihm empfohlen, viel zu trinken und weiterzuarbeiten. Aus Angst, seinen Arbeitsplatz zu verlieren, tat er das – und verlor sein Leben.
Foisters Tod ist nur einer von etlichen Todesfällen, die Amazon 2019 die Aufnahme in die Dirty-Dozen-Liste des US-amerikanischen Nationalrats für Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz brachte. Seither zählt Amazon zu den zwölf gefährlichsten Arbeitgebern in den USA.
Peter Fritz sagt, in Frankenthal habe es seitens der Schichtmanager immer geheißen: „Gas geben, Gas geben, Gas geben.“ Amazon gehe es einzig um maximalen Profit. Selbst in der Krise. Hilfsgüter, die auch jetzt immer noch benötigt werden, seien zu keinem Zeitpunkt in Frankenthal eingelagert gewesen: „Eigentlich müssten wir Handschuhe, Desinfektionsmittel, Mundschutz einlagern beziehungsweise verteilen können. Stattdessen bekommen wir Rasensamen, Bohrmaschinen, Handyhüllen oder Sexspielzeug“, hatte Fritz im März gesagt. Bis zu seinem Rauswurf habe sich daran kaum etwas geändert.
Der Krisengewinnler
Bezos ist ein Krisengewinnler, wie er im Buche steht. Im dritten Quartal 2020 ist Amazons Umsatz im Vergleich zum Quartal des Vorjahres um 37 Prozent auf 96,1 Milliarden Dollar gestiegen, der Gewinn verdreifachte sich auf einen Rekordwert von 6,3 Milliarden Dollar. Kaum ein anderes Unternehmen hat in der Corona-Pandemie so gute Geschäfte gemacht. Und Bezos will dieses Jahr noch mit einem Superlativ abschließen. Bei der Veröffentlichung der Quartalszahlen Anfang November sprach er davon, dass Amazon im vierten Quartal mit einem „beispiellosen“ Weihnachtsgeschäft rechne. Der Konzern könnte erstmals im Jahresschlussquartal die Umsatzmarke von 100 Milliarden Dollar reißen.
Mit keinem Wort erwähnt Bezos diejenigen, die ihm diese Umsätze und Gewinne Tag für Tag, Jahr für Jahr einfahren. Es sind die inzwischen weltweit rund 1,2 Millionen Beschäftigten, die dafür sorgen, dass die Bestellungen, die über Amazon getätigt werden, möglichst schnell bei den Kunden ankommen. Ein Amazon-Beschäftigter des Amazon-Versandzentrums in Koblenz hat auf Bezos Ankündigung von der 100-Milliarden-Marke hin einfach mal ausgerechnet, was dabei herauskäme, würde Bezos rund 40 Milliarden Euro seines Jahresumsatzes auf seine weltweit Beschäftigten verteilen – die allein in diesem Jahr über 400.000 hauptsächlich in den USA neu eingestellten Beschäftigten noch nicht mit einbezogen: Es wären 5.000 Euro für jede*n. „Das wäre ein schönes Weihnachtsgeschenk“, sagt Petra Kusenberg von ver.di Rheinland-Pfalz-Saar. Aber: Selbst 500 Euro Weihnachtsgeld oder Corona-Prämie bleiben ein Wunschtraum.
Die Stundenzuschläge von zwei Euro, die Amazon den über 20.000 in Deutschland Beschäftigten noch im Frühjahr während der ersten Corona-Welle zahlte, wurden im Sommer längst wieder gestrichen. Das war auch deshalb möglich, weil die Beschäftigten auch nach acht Jahren Auseinandersetzung und wiederholten Streiks immer noch keinen Tarifvertrag haben, und auch keine Betriebsvereinbarungen, die Zuschläge oder Tariferhöhungen für einen fest vereinbarten Zeitraum festschreiben. Und in Zeiten von Corona ist es den an fast allen Amazon-Standorten vorhandenen Betriebsräten nicht einmal möglich, Betriebsvereinbarungen zu Kurzarbeitsgeld oder Gesundheitsschutz abzuschließen.
Die Überwachungszentrale
Damit dies möglichst auch so bleibt, lässt Bezos seine Beschäftigten maximal überwachen. Vor allem dort, wo Gewerkschaften aktiv sind. Ende November machte die amerikanische Journalistin Lauren Kaori Gurley auf vice.com Auszüge interner E-Mails öffentlich, in denen zu lesen ist, wie Amazon Zusammenkünfte – vor allem gewerkschaftlicher Natur – bis ins kleinste Detail dokumentiert. Aus einer dieser Mails des „Global Security Operations Center“, Amazons Überwachungszentrale, geht hervor, dass für einen Streik im Leipziger Versandlager genau 339 Streikende festgestellt wurden, Führungskräfte hätten sich nicht unter den Streikenden befunden. Von den Beschäftigten, die Amazon tatsächlich für den Streik erwartet habe, seien es knapp die Hälfte, 46,37 Prozent gewesen.
Zuletzt war die Empörung groß, als Amazon für sein Global Security Center zwei Stellen zur heimlichen Überwachung seiner Beschäftigten ausgeschrieben hatte. In der Ausschreibung stand, dass es vor allem darum gehe, „gewerkschaftliche Bedrohungen abzuwenden“, gesucht wurden deshalb Personen, die Erfahrung aus dem Geheimdienstwesen des Militärs oder der Strafverfolgung mitbrächten. Amazon hat die Anzeigen zwar zwischenzeitlich wieder entfernt, nichtsdestotrotz hat die Konzernzentrale längst Detektive der berüchtigten Spionage-Agentur Pinkerton angeheuert.
Unter anderem wurden im Jahr 2019 Detektive in Polen in den Warschauer Amazon-Standort eingeschleust. Als Jeff Bezos im April 2018 in Berlin im Haus der BILD-Zeitung der Axel-Springer-Award „für herausragende Persönlichkeiten, die außergewöhnlich innovativ sind“ verliehen wurde, sagte ein gewerkschaftlich organisierter, polnischer Amazon-Beschäftigter draußen vor dem Springer-Haus: „In Polen wird so ein Ort, in dem wir arbeiten, Arbeitslager genannt.“
Beschäftigten wie ihm, die immer wieder zu Arbeitsniederlegungen aufrufen oder sich an solchen beteiligen, sollen die Agenten von Pinkerton das Leben sauer machen. Seit über 100 Jahren ist die Agentur für die Zerschlagung von Gewerkschaften bekannt. In ihren Anfängen schreckte Pinkerton dabei nicht einmal vor Toten zurück. So endete beispielsweise der Streik amerikanischer Stahlarbeiter 1892 mit dem Tod von 12 Menschen; Pinkerton hatte damals 300 bewaffnete Wachen gestellt. Inzwischen geht die Agentur subtiler vor. Die Einsatzkräfte werden unter die Beschäftigten gemischt, um gewerkschaftliche Bewegungen im Keim zu ersticken.
Christian Krähling, 43, der seit elf Jahren bei Amazon in Bad Hersfeld arbeitet und dort im Betriebsrat tätig ist, sagt: „Amazon imitiert uns inzwischen und lässt mit jedem neu gegründeten Standort auch gleich einen Betriebsrat wählen, der dann mit entsprechend gefügigen Leuten besetzt ist. Und dann sagt Amazon, Gewerkschaften brauchen wir nicht, das machen wir alles mit unserem Betriebsrat aus.“
Die Aktivisten
Weltweit, aber vor allem auch in Europa haben sich unterschiedliche Gruppierungen aus Politik und Gewerkschaften zusammengetan und Bezos den Kampf angesagt. „Wenn Amazon die Bemühungen der Werktätigen angreift, Gewerkschaften zu gründen und ihnen beizutreten, ist dies ein Angriff auf eine Gesellschaft, in der die Menschen die Chance haben, einen angemessenen Anteil des von ihnen geschaffenen Wohlstands zu erhalten. Union-Busting ist ein US-Import, den wir sicherlich nicht wollen. Wir haben Gesetze, die die Vereinigungsfreiheit, die Versammlungsfreiheit und die Privatsphäre der Menschen schützen. Die Europäische Union muss sicherstellen, dass sie in vollem Umfang angewendet werden, um dieses destruktive Verhalten wirklich zu verhindern“, sagte unlängst Oliver Roethig, Regionalsekretär von UNI Europa, dem Dachverband der europäischen Dienstleistungs-Gewerkschaften.
UNI Global Union, der weltweite Dachverband von rund 20 Millionen Beschäftigten im Dienstleistungssektor, ist die treibende Kraft hinter der Kampagne #makeamazonpay. „Jahrelang hat man die Tech-Bosse mit den ,Räuberbaronen‘ des 19. Jahrhunderts verglichen, und jetzt macht Bezos nochmal ganz deutlich warum. Er heuert die Pinkertons an, um seine schmutzige Arbeit zu machen“, sagte die UNI-Generalsekretärin Christy Hoffmann Ende November dem unabhängigen Online-News-Channel Motherboard.
„Ich kenne meinen Arbeitsplatz gar nicht mehr ohne Arbeitskampf“
Christian Krähling, 43, Amazon-Beschäftigter und Betriebsratsmitglied im Versandlager Bad Hersfeld
Torsten Abel, 41 Jahre, ist seit neun Jahren bei Amazon in Rheinberg, seit zweieinhalb Jahren arbeitet er nur noch in der Spätschicht von 15 bis 23 Uhr, das passe besser zu seinem Biorhythmus. Er sagt: „Beobachten müssen die mich nicht, ich gebe gerne Auskunft zu meiner Mitgliedschaft in der Gewerkschaft. Ich halt‘ mich auf der Arbeit stets an die Vorschriften, bin pro-aktiv und gehe gleich hin, wenn etwas nicht in Ordnung ist.“ Abel ist wie Fritz und Krähling aktives ver.di-Mitglied. Sein Eindruck, was die Überwachung betrifft, ist: „Bei den Langjährigen, fest Überzeugten, versuchen die es gar nicht mehr.“
Amazon will es aber erst gar nicht mehr so weit kommen lassen, dass sich Gewerkschaften an seinen neuen Standorten einmischen. Im Mutterland, den USA, gibt es bis heute keine einzige zuständige Gewerkschaft für die Amazon-Beschäftigten. Dass es sich dennoch lohnt, zu streiken und für bessere Arbeitsbedingungen zu kämpfen, haben die Amazon-Beschäftigten in Deutschland in den vergangenen Jahren mehrfach gezeigt. Christian Krähling sagt, die Löhne hätten sich um gut 20 Prozent erhöht, auch wenn damit noch nicht der Level des Einzelhandelstarifvertrags erreicht worden sei. Weihnachtsgeld gebe es inzwischen und ein Gesundheitsmanagement. „Das hätte es ohne uns alles nicht gegeben“, betont er.
Bei ihnen in Bad Hersfeld sei die Belegschaft nach wie vor komplett aufmüpfig. „Ich kenne meinen Arbeitsplatz gar nicht mehr ohne Arbeitskampf“, sagt Krähling. Und er werde auch nicht müde zu kämpfen. „Wir haben uns von Anfang an auf eine lange Auseinandersetzung eingestellt.“
Erste Anzeichen dafür, dass sich Amazon eines Tages womöglich auf seine Beschäftigten und ver.di wird zubewegen müssen, zeigen sich in der aktuellen Krise. Es falle Amazon immer schwerer, Saisonkräfte zu finden, sagt Krähling. Zu manchen Zeiten fehlten über 30 Prozent der Beschäftigten wegen Corona. Das wirke sich schon aufs Geschäft aus. Aber das Image von Amazon als Arbeitgeber sei angekratzt und die Bezahlung nicht gut. Dazu kommen die Befristungen. „Nur für drei Monate, das macht heute niemand mehr“, sagt Krähling. Die Bewerberquote sei zwar immer noch hoch, aber nur noch wenige sagten dann auch tatsächlich zu.
„Betrachtet man die Werbekampagnen von Amazon genau, dann stellt man sehr schnell fest, dass man mit einem Klick nicht nur einen Artikel kauft, sondern die volle Emotionspalette gleich mit. Man fühlt sich geborgen und umsorgt. Ob es Amazon wahrhaben will oder nicht, die Wahrheit ist, dass die Arbeitsbedingungen in Corona-Zeiten in Graben nicht gut sind“, sagt die ver.di-Sekretärin Sylwia Lech. Die Amtsärztin in Koblenz lässt inzwischen täglich kontrollieren, ob die Amazon-Beschäftigten auf dem gesamten Gelände und am Arbeitsplatz einen Mund-Nasen-Schutz tragen und Abstände eingehalten werden. „Die machen Amazon das Leben gerade schon schwer“, sagt Petra Kusenberg. Und auch die organisierten Beschäftigten werden das weiterhin tun.
Anmerkung. der Redaktion: Nach Andruck der ver.di publik ist Christian Krähling, der in diesem Text mehrfach zitiert wird, plötzlich und unerwartet gestorben. Unsere Gedanken sind bei seiner Familie, seinen Freunden und Kolle*ginnen.
Quelle: https://publik.verdi.de Ausgabe 08/2020 Bild: ver.di