Der Begriff der Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen ist bei den meisten Beschäftigten schon wieder aus dem Kopf, viele hörten während der Tarifauseinandersetzung im Handel davon zum ersten Mal. Die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) hatte seit Beginn der Auseinandersetzung mit den Handelsunternehmen auch die Forderung erhoben, die Tarifverträge des Einzelhandels für allgemeinverbindlich zu erklären.
Noch bis Ende der 1990er Jahre waren die wesentlichen Tarifverträge im Einzelhandel für allgemeinverbindlich erklärt. Damit galten ihre Bestimmungen auch für Unternehmen der Branche, die nicht den Arbeitgeberverbänden angeschlossen waren und für die nicht gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten.
Seither ist die Tarifbindung im Handel dramatisch zurückgegangen. Ende 2019 waren nur noch 28 Prozent der Beschäftigten im Einzelhandel und 33 Prozent der im Großhandel durch einen Branchen- oder Haustarifvertrag erfasst. Für die nicht tarifgebundenen Arbeitskräfte im Handel bedeutet das materiell unter anderem, Entgelte, die um bis zu einem Drittel unter denen der Beschäftigten liegen, die in tarifgebunden Unternehmen arbeiten.
Nur ein Drittel der Betriebe im Handel ist noch tarifgebunden – 80 Prozent wenden keinen Tarifvertrag an
Seit nun mehr über 20 Jahren fliehen im Riesenwirtschaftsbereich Handel mit seinen 5,1 Millionen Beschäftigten immer mehr Betriebe aus der Tarifbindung. Waren im Jahr 2000 in NRW noch 56 Prozent der Betriebe und 74 Prozent der dort arbeitenden Menschen tarifgebunden, so sank die Zahl bis heute auf 32 Prozent der Betriebe und 60 Prozent der Beschäftigten. Nur knapp ein Drittel der Betriebe im Handel ist bundesweit noch tarifgebunden und 80 Prozent der Betriebe im Einzelhandel wenden keinen Tarifvertrag an, auch weil die Tarifverträge seit dem Jahr 2000 nicht mehr allgemeinverbindlich für die gesamte Branche sind.
Tarifverträge des Einzelhandels sind für allgemeinverbindlich zu erklären
Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales kann nach § 5 des Tarifvertragsgesetzes einen Tarifvertrag im Einvernehmen mit einem aus je drei Vertretern der Spitzenorganisationen der Unternehmen und der Beschäftigten bestehenden Ausschuss (Tarifausschuss) auf gemeinsamen Antrag der Tarifvertragsparteien für allgemeinverbindlich erklären.
Von den zurzeit rund 73.000 als gültig in das Tarifregister eingetragenen Tarifverträgen sind zurzeit noch 443 allgemeinverbindlich, darunter 230 Ursprungs- und 213 Änderungs- bzw. Ergänzungstarifverträge und 125, die auch in den neuen Bundesländern gelten.
Bei den allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträgen im Einzelhandel galten die Bestimmungen auch für die nicht den Arbeitgeberverbänden angeschlossenen Unternehmen der Branche und für die nicht gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten.
Mit dem Jahr 2000 begann sich diese Situation zu ändern.
Die Arbeitgeberverbände des Handels – der Handelsverband Deutschland (HDE) und der Bundesverband Großhandel, Außenhandel, Dienstleistungen e. V. (BGA) führten Mitgliedschaften „ohne Tarifbindung“ (OT-Mitgliedschaften) ein. Außerdem lehnt die Unternehmerseite es seither ab, gemeinsam mit ver.di die Allgemeinverbindlichkeit der ausgehandelten Tarifverträge zu beantragen.
Auf Druck der organisierten Unternehmerschaft hatte damals die rot-grüne Bundesregierung die Allgemeinverbindlichkeit aufgehoben und öffnete im beinharten Konkurrenzkampf im Handel den Unternehmen Tür und Tor, sich aus der Tarifbindung zu verabschieden und sich so durch niedrigere Löhne und längere Öffnungszeiten Kostenvorteile zu schaffen. Mittlerweile sind nur noch knapp ein Drittel der Betriebe im Handel bundesweit tarifgebunden und 80 Prozent der Betriebe im Einzelhandel wenden keinen Tarifvertrag an. Auch bundesweit agierende große Ketten wie Edeka, REWE, dm, Rossmann, Obi, Thalia, Amazon, Zalando, Hornbach, C&A, Kik und Woolworth sind nicht mehr in der Tarifbindung.
Im Jahr 2014 erfolgte ein Versuch, durch das Gesetz zur Stärkung der Tarifautonomie die Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen zu vereinfachen, der Vorstoß hatte jedoch zu keinen spürbaren Verbesserungen geführt.
Zwar ist die Vorschrift entfallen, dass für eine Allgemeinverbindlichkeit die tarifgebundenen Unternehmen mindestens die Hälfte der in der Branche oder dem jeweiligen Tarifgebiet Beschäftigten tätig sind, aber seither müssen nun beide Tarifparteien einen Antrag auf Allgemeinverbindlichkeit stellen. Zuvor war dafür nur eine Partei erforderlich und im paritätisch besetzten Tarifausschuss ist weiterhin eine Stimmenmehrheit notwendig, was letztlich der Unternehmerseite de facto ein Vetorecht verschafft.
Die Neuregelung im Jahr 2015 hat dazu geführt, dass keine neuen Anträge auf Allgemeinverbindlichkeitserklärung auf der Unternehmerseite zu verzeichnen waren. Aufgrund dieser Entwicklung hatte der Bundesrat im Juni 2019 in einer Entschließung die Bundesregierung zu „Überlegungen“ aufgefordert, „wie die Rahmenbedingungen des Verfahrens zur Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen verbessert werden können“. Ein Antrag der Bundesländer Bremen, Berlin, Thüringen und Hamburg zur Verbesserung des Verfahrens wurde 2021 im Bundesrat jedoch abgelehnt.
Vor diesem Hintergrund trat ver.di in den Tarifrunden 2021 und im Bundestagswahlkampf für eine Stärkung der Tarifbindung und die Rückkehr zur Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen im Einzel- wie im Großhandel ein, auch um die schlechten Arbeitsbedingungen zu thematisieren und die Altersarmut der heute Beschäftigten zu verhindern. Dazu forderte die Gewerkschaft eine Änderung der geltenden Gesetze, um die Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen zu erleichtern und vor allem eine Abschaffung des Vetorechts der Unternehmen.
Ergebnisse der Tarifrunde im Handel 2021 im Detail…
„Die Entgelte werden rückwirkend zum 1. August bzw. zum 1. September in NRW dieses Jahres um 3 Prozent und zum 1. April 2022 (1. Mai 2022 in NRW) um weitere 1,7 Prozent angehoben. Die Ausbildungsvergütungen steigen in beiden Tarifjahren in allen drei Ausbildungsjahren um jeweils 30 Euro. Dies entspricht einer durchschnittlichen Steigerung je Tarifjahr um 2,5 bis 3 Prozent.
In der Tarifrunde im Einzel- und Versandhandel haben mehrere zehntausend Kolleg*innen für einen Tarifabschluss gekämpft. Mit dem Abschluss in Hessen wurde der erste Durchbruch erzielt. In Sachsen, Sachsen Anhalt und Thüringen konnte am 4. Oktober in der 5. Verhandlungsrunde ein identischer Abschluss für die 280.000 Beschäftigten im Einzel- und Versandhandel dort erzielt werden ebenso wie für die Beschäftigten im bayerischen Groß- und Außenhandel nach 100 Streikaktionen. Dort steigen die Ausbildungsvergütungen allerdings jeweils nur um 20 Euro. Am 18. Oktober wurden in Niedersachsen/Bremen und in Hamburg die nächsten Abschlüsse erreicht. Dort steigen die Löhne rückwirkend zum 1. September um 3 Prozent, zum 1. Mai 2022 steigen die Löhne um weitere 1,7 Prozent. Die Ausbildungsvergütungen steigen zum 1. September 2021 und 2022 jeweils um 30 Euro.
Einen Tag später wurde in Berlin und Brandenburg die Tarifrunde mit einem Abschluss beendet. Die Löhne und Gehälter für die Beschäftigten steigen zum 1. November 2021 um 3 Prozent. Für die Auszubildenden steigen die Vergütungen jeweils zum 1. September in diesem und im darauffolgenden Jahr um 30 Euro. Ab dem 1. Juli 2022 erhalten alle Beschäftigten des Einzelhandels weitere 1,7 Prozent. Und inzwischen konnten in Baden-Württemberg, dem Saarland, in Schleswig-Holstein, in Rheinland-Pfalz und zu guter Letzt in Mecklenburg-Vorpommern am 27. Oktober nahezu identische Abschlüsse erzielt werden. Im Groß- und Außenhandel wurden ebenfalls erste Abschlüsse erzielt, Details zu den Abschlüssen finden sich weiter unten für jedes einzelne Bundesland.
Die neuen Gehalts- und Lohntarifverträge haben eine Laufzeit von 24 Monaten“. (Quelle: ver.di)
…und was ist mit der Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen?
Die Umsetzung der Forderung der Gewerkschaft, die tarifvertraglich festgesetzten Einkommen durch das Arbeitsministerium für allgemeinverbindlich erklären zu lassen, ist am Veto der Unternehmerseite gescheitert.
Quellen: ver.di, BR, WAZ Bild: ver.di/dgb