Die Mitgliederzahlen der DGB-Gewerkschaften rutschen weiter unter sechs Millionen

Für Gewerkschaften gibt es nichts wichtigeres als Mitglieder. Wenn sie die Unternehmen nicht mit Mitgliedern beeindrucken können, können sie sie auch nicht mit Streikdrohungen erschrecken. Wer nicht einmal mit Streiks drohen kann, der braucht an den Tischen der Tarifverhandlungen gar nicht erst Platz zu nehmen.
Immer zum Jahreswechsel bilanzieren die Gewerkschaften die Entwicklung ihrer Mitgliederzahl. Die acht Mitgliedsgewerkschaften des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) sind dabei sehr genau. Mal aus Eigeninitiative, mal auf Nachfrage teilen sie aufs Mitglied genau den Stand mit.

Die Zahl der Mitglieder, die in den DGB-Gewerkschaften organisiert sind, ist im Jahr 2017 erstmals unter 6 Millionen gesunken. Zum Jahresende 2019 waren es noch 5.934.971 Mitglieder, gegenüber dem Vorjahr ein Minus von 40.000. Zehn Jahre früher lag die Zahl noch bei 6,371 Millionen.

Der DGB Vorsitzende Reiner Hoffmann schiebt diese Entwicklung nur auf die demografische Entwicklung, bei der mehr Menschen aus dem Erwerbsleben ausscheiden, als in die Gewerkschaft eintreten. Doch diese Sichtweise ist mehr als kurzsichtig, die Gründe sind vielfältiger und durch den DGB und seinen Mitgliedsgewerkschaften auch hausgemacht.

Zur Jahrtausendwende hatte der DGB noch knapp 7,8 Millionen Mitglieder. 17 Jahre später rutschte die Zahl der Mitglieder in den DGB-Gewerkschaften erstmals unter die 6 Millionen Grenze.

Die beiden größten Einzelgewerkschaften IG Metall und ver.di haben unterm Strich Verluste an Mitgliedern zu verkraften, ebenso die Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie und Energie (IG BCE) ihre Mitgliederzahl sank auf 618.321. Sind es bei der IG Metall Ende 2019 noch 2.262.571 Mitglieder, ist die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di  Ende 2017 erstmals unter die zwei Millionen Grenze gerutscht und zwei Jahr später waren es noch 1.955.080 Millionen. Geschrumpft sind auch die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG), die Ende vergangenen Jahres  nur noch auf 185.793 Mitglieder kam und die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG), die knapp unter die Marke von 200.000 Mitgliedern gefallen ist und hier waren es Ende 2019 noch 197.791 Mitglieder. Relativ stabil geblieben ist die Mitgliederzahl der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) mit ihren 280.343 Mitgliedern. Zulegen konnte allein die kleinste DGB-Gewerkschaft, die Gewerkschaft der Polizei (GdP), sie verzeichnet unter dem Strich rund 4.000 Zugänge und kommt jetzt auf 194.926 Mitglieder.

Während die Berufsgewerkschaften tendenziell stabil sind oder wachsen, haben die meisten Branchengewerkschaften weiterhin Mühe, die Zahl ihrer Mitglieder zu halten.

Als Gründe für das Schrumpfen der Mitgliederzahlen können,  auch wenn es nicht gern gehört wird, beispielsweise genannt werden:

Hohe verstetigte Arbeitslosigkeit und Abrutschen in Hartz-IV

Um den immens hohen Sockel von langzeitarbeitslosen Menschen zu kaschieren und diejenigen unerwähnt zu lassen, denen der erste Arbeitsmarkt versperrt bleibt und die seit Jahren in Hartz-IV festsitzen, fallen fast eine Million Erwerbslose aus der Statistik heraus. Es wundert kaum, dass in den vergangenen 10 Jahren mehr als 14,5 Millionen Menschen Bekanntschaft mit den Hartz-IV-Gesetzen gemacht haben und diesem System völlig ausgeliefert waren.

Ein Fünftel der Bevölkerung in Deutschland – und damit rund 16,1 Millionen Menschen – war im vergangenen Jahr von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Dieser Anteil ist seit 2008 nahezu unverändert.

Alle DGB-Gewerkschaften waren mit beteiligt an der Einführung der Hartz-IV-Gesetzgebung, deren vorrangiges Ziel die Abschreckung der Beschäftigten in das Hartz-IV-System zu fallen war und sich mit Einkommenseinbußen arrangieren, um den Exportweltmeister Deutschland mit seinen Niedriglöhnen international konkurrenzfähig zu halten und die Abnehmerländer in die Schuldenfalle zu führen.

Für die betroffenen prekär Beschäftigten und Ex- oder Wiederbeschäftigten ist die Gewerkschaft selbst ein Teil des Hartz-IV-Problems, weil diese sie selbst als Gewerkschaftsmitglieder im Regen stehen ließen und sich eher auf die Stammbelegschaft konzentrierte.

Zunahme prekärer Beschäftigung

Ein hoher Sockel von langzeitarbeitslosen Menschen und der massive Ausbau des Niedriglohnbereichs sowie die prekäre, ungesicherte Beschäftigung haben dazu geführt, dass ein großer Teil der Marginalisierten sich abgehängt und überflüssig fühlt.

Mittlerweile arbeiten rund 20 Prozent der Beschäftigten in Deutschland für einen Niedriglohn von unter zehn Euro in der Stunde. In Ostdeutschland liegt ihr Anteil sogar bei 30 Prozent. Minijobs sind mit derzeit rund 7,5 Millionen geringfügig entlohnten Beschäftigten im Arbeitsmarkt fest verankert.

Inzwischen gibt es 50.000 Sklavenhändler, die rund eine Million Arbeitskräfte verleihen, so viele, wie noch nie. Migranten steht auf dem Arbeitsmarkt fast nur der Niedriglohnsektor offen. Der Niedriglohnsektor ist ein geschlossener Arbeitsmarkt, in dem die Beschäftigten kaum eine Chance haben, jemals eine Anstellung mit besseren Bedingungen zu erhalten. Viele hangeln sich von einem miesen Job zum nächsten, gelegentlich unterbrochen von Arbeitslosigkeit, bis man in der nächsten trostlosen Klitsche wieder anfängt.

Es gab noch nie so viel Arbeitnehmerüberlassung wie heute. Je mehr die DGB- Gewerkschaften die Leiharbeit fairer gestalten und regulieren wollten, desto mehr breitete sie sich aus. Für die Beschäftigten in diesen Arbeitsverhältnissen gibt es quasi keine Interessenvertretung und sie sehen die Gewerkschaften als Vertreter der ihrer Meinung nach privilegierten Stammbelegschaften.

Spaltung der Belegschaften

In vielen Betrieben, auch in den großen Konzernen hat die Spaltung der Belegschaft unglaubliche Ausmaße angenommen.

Da gibt es auf der einen Seite die Stammbeschäftigten, darunter die befristet Beschäftigten, unbefristet Beschäftigten und geringfügig Beschäftigten und auf der anderen Seite arbeiten die Leiharbeiter, Dienstleistungsbeschäftigten und Werkvertragsbeschäftigten.

Die Spaltung der Beschäftigten führt zu einem massiven Verlust an Legitimität bei den Betriebsräten und der Gewerkschaft. Ein größer werdender Teil der Belegschaft ist in den Betriebsräten gar nicht mehr vertreten und die Spaltung in Stammbeschäftigte und Fremdbeschäftigte führt zur Spaltung der Tariflandschaft. So werden auch Arbeitskämpfe, aus denen die Gewerkschaftsorganisationen Honig ziehen, praktisch gar nicht mehr möglich. Dabei ist es völlig egal, ob Leiharbeiter als Streikbrecher eingesetzt werden können oder nicht.

Wichtiger für die Gewerkschaften ist, dass die Leiharbeiter einem anderen Unternehmen angehören und anderen Tarifverträgen unterworfen sind oder gar keine Tarifverträge haben, so können sie bei einem Arbeitskampf keine aktive Rolle mehr einnehmen.

Aber dieses Problem ist hausgemacht: Die Regierung unter Gerhard Schröder begann endgültig damit, mit Hilfe der Hartz-Gesetze und Einführung der Leiharbeit die Normalarbeitsverhältnisse anzugreifen und das Sozial- und Arbeitsrecht zu zerschlagen. Dabei gab es einen hässlichen Deal. Der damalige Arbeits- und Sozialminister, Wolfgang Clement (damals noch SPD) machte für das neue Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) zur ausdrücklichen Bedingung, dass der DGB per Tarifvertrag die in § 3 geregelten gleichen Beschäftigungsbedingungen wie Arbeitszeit, Arbeitsentgelt und Urlaubsanspruch unterläuft. Der damalige Bundesvorsitzende des DGB, Michael Sommer, stimmte dieser „stillen Vereinbarung” in aller Stille, auch gegenüber den Millionen von Gewerkschaftsmitgliedern, zu. Darunter haben die fast eine Million Leiharbeiter noch heute zu leiden, sie sind finanziell schlechter gestellt und faktisch rechtlos.

Das Unterlaufen gesetzlicher Standards durch Tarifverträge ist z.B. innerhalb der IG Metall oft anzutreffen und hat nicht nur zur Legalisierung der Zeitarbeit über die im Gesetz vorgesehenen Grenzen geführt, sondern verschärft die Politik des Sozialdumpings. Dazu gehören die Arbeitszeitregelungen mit dem Unwesen der Arbeitszeitkonten und der rigorosen Flexibilisierung der Arbeitszeit.

Bei der Individualisierung kollektiver Rechte hebelt die Gewerkschaft sich selbst aus und schwächt die kollektive Gegenmacht immens. Ganz deutlich wird dies bei den individuellen Zielvereinbarungen, wobei die Gehaltsbestandsteile zur Förderung der Motivation und Leistungsfähigkeit der Beschäftigten individuell festgelegt, die kollektiven Interessenvertretungen entmachtet werden und gewerkschaftliches Bewusstsein auf der Strecke bleibt.

Co-Management

In vielen Betrieben und öffentlichen Institutionen kann die Mitarbeit in der Gewerkschaft oder im Betriebs- oder Personalrat als ein Sprungbrett für eine innerbetriebliche Karriere bieten.

Gerade in Unternehmen mit ausgeprägtem Co-Management sind diese Gewerkschaftsfunktionäre und Betriebs-/Personalräte Teil der Personalstruktur und komplett in die unternehmerische Strategie eingebunden, immer zum Wohl des Ganzen, des Unternehmens.

Im Automobilbereich gibt es auch schon Betriebsräte, die für die Urlaubsgewährung zuständig sind und dafür auf einer „Kostenstelle“ des Unternehmens sitzen.

So etwas hat natürlich Auswirkungen auf die „einfachen“ Gewerkschaftsmitglieder und vor allem abschreckende Wirkung auf die Nichtmitglieder, doch nicht nur das. Das Co-Management der Gewerkschaften schafft neue Notwendigkeiten für den eigenen Machterhalt. Ähnlich wie in der Parteidisziplin gibt es dann eine Gewerkschaftsdisziplin der Betriebsräte. Vor der eigentlichen Betriebsratssitzung wird eine „Fraktionssitzung“ anberaumt, in der Abstimmungsanträge formuliert und das Abstimmungsverhalten bestimmt wird. In der anschließenden Sitzung haben oppositionelle Betriebsräte kaum eine Chance, die Interessen ihrer Wählerschaft ein- geschweige denn durchzubringen.

Für die Gewerkschaftsmitglieder, wie auch für die nicht organisierten Beschäftigten, ist das gegen sie agierende Verhalten des Co-Managements leicht zu durchschauen.

Besonders deutlich wurde dies bei der Abgasmanipulation in der Autoindustrie. Wo keiner den gewerkschaftlichen Vertretern der Beschäftigten abnimmt, nicht zumindest Verdachtsmomente gehabt zu haben und die Gewerkschaften in den Autokonzernen dafür gesorgt haben, dass „Whistleblowing“, um Missstände zu melden und sich zu beschweren erst gar nicht aufkommen konnte. So ein Schweigekartell kann nur mit autoritären Strukturen erklärt werden, die denen auf dem Kasernenhof ähnlich sind und von den Gewerkschaften überwacht werden. Wer aus der Reihe tanzt, wird fertiggemacht. Das ist auch eine Methode, sich als Gewerkschaft selbst zu diskreditieren.

Tariflöhne stiegen zuletzt nominal um 3,0 Prozent, real erzielen die Tarifbeschäftigten ein Plus von 1,6 Prozent

Die Tariflöhne stiegen im Jahr 2019 gegenüber dem Vorjahr um durchschnittlich 3,0 Prozent. Nach Abzug des Verbraucherpreisanstiegs von 1,4 Prozent ergibt sich daraus ein realer Zuwachs der Tarifvergütungen von 1,6 Prozent. Zu diesem Ergebnis kommt die Bilanz der Tarifpolitik des Jahres 2019, die das Tarifarchiv des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung ermittelte.

Eine für die Beschäftigten kämpfende Interessenvertretung sieht anders aus und diese Abschlüsse tragen kaum dazu bei, Mitglieder zu gewinnen, geschweige denn aktiv mit lächerlichen Trillerpfeifen und Warnwesten ausgestattet, gewerkschaftliche Kampfkraft zu markieren.

Dass gewerkschaftliche Lohnpolitik mehr ist als die Ankurbelung der Binnennachfrage dürfte auch den Gewerkschaftseliten klar sein.

Seitens der Gewerkschaften wird folgendes überhaupt nicht kommuniziert:

  • Löhne bzw. Entgelte sind der größte Kostenfaktor für die Unternehmen, deshalb hat die Auseinandersetzung um sie immer einen besonderen Stellenwert für die Gewerkschaftsbewegung. Lohn- und Entgelterhöhungen steigern die Konsumnachfrage, stabilisieren damit die gesamtwirtschaftliche Nachfrage und tragen so zur Sicherung der Arbeitsplätze bei, ohne dass von der Lohnseite inflationstreibende Effekte ausgehen.
  • Wenn die Einkommen durch höhere Tarifabschlüsse steigen, schlägt sich das auch bei den Renten nieder. Entscheidend für die Rentenberechnung ist die Entwicklung der Bruttolöhne. Der Rentenwert ergibt sich aus den Bruttolöhnen des Vorjahres. Steigen diese an, wird auch dieser Wert angehoben.
  • Das Lohndumping der letzten Jahre bei uns mit seinen geringen Lohnstückkosten ist eine der wichtigsten Ursachen für die deutschen Leistungsbilanzüberschüsse, für das Auseinanderlaufen der Wettbewerbsfähigkeit der Mitglieder der Europäischen Währungsunion (EWU), für die Handelsungleichgewichte und somit eine Hauptursache der Eurokrise.
  • Die gesamtwirtschaftliche Lohnentwicklung ist verantwortlich für das Außenhandelsgleichgewicht, d.h. für das Verhältnis von Im- und Exporten. Wenn der Handel auch noch mit Ländern im gleichen Währungsraum stattfindet, sind die gesamtwirtschaftlichen Lohnstückkosten im Vergleich zu denen der Währungspartnerländer der wichtigste verbleibende Faktor dafür, ob es Handelsüberschüsse oder -defizite gibt. Auch der europäische und weltweite Markt funktioniert so: Wächst eine Volkswirtschaft so muss eine andere naturgemäß schwächer werden. Das Vermögen der einen bildet die Schulden der anderen.
  • Das Märchen von der Lohnentwicklung, die im Vakuum der Tarifparteien stattfindet, wird immer wieder erzählt, ist aber nicht zutreffend. Lohnpolitik ist abhängig von der Wirtschaftspolitik der Regierung, was seit der HARTZ-IV-Gesetzgebung ganz einfach zu belegen ist.
  • Die gesamtwirtschaftliche Lohnentwicklung hat einen besonderen Einfluss auf die Entwicklung der Preise, weil die Vorleistungen, die die Industrie neben dem Faktor Arbeit zusätzlich zur Produktion benötigt, aus anderen inländischen Unternehmen stammen, sofern sie nicht importiert werden. Deren Produktpreise werden von den dort anfallenden Kosten bestimmt. Diese Vorleistungen bestehen gesamtwirtschaftlich betrachtet vor allem aus Lohnkosten.
  • Die Lohnentwicklung hat maßgeblich zur Verarmung beigetragen, mit Auswirkungen bis in die sogenannten Mittelschichten hinein.
  • Die Umverteilung von unten nach oben ist als Ursache für die seit nunmehr neun Jahren anhaltende wirtschafts- und finanzpolitische Krise zu sehen. Die wachsende Ungleichheit bei Einkommen und Vermögen hat nachweislich zur Destabilisierung des gesamten Finanzsystems beigetragen.

Den Gewerkschaften sollte das Lob der organisierten Unternehmerschaft im Ohr klingeln, das nach den Tarifabschlüssen der letzten Jahre erklang. Übersetzt lautet der Singsang, dass die Belastungen der Unternehmen deutlich unter denen der Vorjahre liegen, dass die Laufzeit deutlich länger ist und dass den Unternehmen die Möglichkeit gegeben wird, Teile des Abschlusses differenziert anzuwenden.

Die „Niedriglöhner, Auftstocker und Prekären“ oder wie die von Armut und Überschuldung bedrohten Menschen auch immer genannt werden, können sich von dem Lob der Unternehmer und vom Stolz der gewerkschaftlichen Verhandlungsführer nichts kaufen und die Tarifbeschäftigten von dem Plus von real 1,6 Prozent auch nicht viel.

Trend zur Tarifflucht hält an – weniger als die Hälfte der Beschäftigten fallen unter einen Tarifvertrag

Tarifbindung bedeutet erst einmal Sicherheit und ein Tarifvertrag garantiert Mindestbedingungen, die auf keinen Fall unterschritten werden dürfen. Ob es um die Höhe des Arbeitsentgelts geht oder um Regelungen zur Urlaubslänge, Urlaubs- und Weihnachtsgeld: Beschäftigte deren Beschäftigungsverhältnisse ein Tarifvertrag zugrunde liegt, sind durchgängig bessergestellt, als ihre Branchenkollegen ohne Tarifbindung.

Jahrzehntelang war es die Norm, dass die Regelungen, die Gewerkschaft und organisierter Unternehmerschaft aushandelten für eine deutliche Mehrheit der Beschäftigten galt – meist einheitlich für ganze Branchen. Doch nimmt die sogenannte Tarifbindung seit vielen Jahren kontinuierlich ab.

Laut der jährlichen Unternehmensbefragung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), ist die Tarifbindung der Beschäftigten zwischen 1998 und 2018 in den westlichen Bundesländern von 76 auf 46 Prozent gesunken, in den östlichen von 63 auf 35 Prozent. Für rund 46 Prozent der Beschäftigten in Deutschland war das Beschäftigungsverhältnis 2018 durch einen Tarifvertrag geregelt. Allerdings gibt es immer noch große Unterschiede zwischen den alten und neuen Bun­des­län­dern. Für 49 Prozent der Beschäftigten in den alten Bun­des­ländern war das Beschäftigungsverhältnis 2018 durch einen Bran­chen­ta­rif­ver­trag geregelt. Für 8 Prozent der Beschäftigten galten Firmentarifverträge. In den neuen Län­dern war die Tarifvertragsbindung deutlich niedriger. Hier galten für 35 Prozent der Be­schäf­tig­ten Bran­chen­tarif­ver­träge. 11 Prozent arbeiteten in Unternehmen mit Fir­men­ta­rif­ver­trä­gen. Für 44 Prozent der Be­schäf­tig­ten im Westen und 55 Prozent im Osten gab es keinen Tarifvertrag.

Es ist eine Wechselwirkung, dort wo es keine Tarifverträge gibt, ist auch das Interesse für die Mitgliedschaft in der Gewerkschaft gering. In Branchen, in denen der gewerkschaftliche Organisationsgrad hoch ist, gibt es tendenziell häufiger tarifvertragliche Regelungen. Zum Beispiel hat der öffentliche Dienst, die Automobil- und Chemie-Industrie oder der Maschinenbau noch recht gute Werte vorzuweisen. Dagegen sieht es in der Logistik, im Gastgewerbe und im Einzelhandel besonders düster aus. So hatte der Einzelhandel noch bis zur Jahrtausendwende ein nahezu flächendeckendes Tarifsystem, da dort fast alle Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklärt waren.

Traditionelle DGB-Gewerkschaften sind maskulin

Die DGB-Gewerkschaften haben durchweg eine maskulin geprägte Tradition. Das Gehabe der bekannten Gewerkschaftseliten und die von ihnen etablierten Rituale, Werte und Normen sind alle männlich ausgerichtet. Die DGB-Gewerkschaften verbreiten ein Lebensgefühl, das Frauen und Jüngeren oft fremd ist. Diese Gewerkschaften haben vor allem zu Beginn des Jahrhunderts die Interessen spezieller Berufsgruppen ziemlich aus dem Blick verloren. So sind z.B. Ärzte, Lokführer und Flugbegleiter zu den Berufsgewerkschaften abgewandert, fühlen sich dort wohl und werden nicht mehr zurückkommen.

Eine rühmliche Ausnahme macht derzeit die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di mit den Streiks im Einzelhandel und im Erziehungsdienst. Dort haben die Frauen zwar für recht magere Ergebnisse gekämpft, aber wie der Arbeitskampf geführt wurde, war toll. Sie haben während des Streiks im Erziehungsdienst nicht nur an den eingefahrenen Strukturen gekratzt, sondern den Arbeitskampf mit den Streikvollversammlungen und Delegiertenkonferenzen entgegen dem Willen der Hauptamtlichen demokratisiert und erreicht, dass der Schlichterspruch konsequent zurückgewiesen wurde.

Die Frauen im Einzelhandel oder im traditionell gewerkschaftsfernen Dienstleistungs- und Gesundheitsbereich haben eindrucksvolle Arbeitskämpfe geführt, die die männlichen Gewerkschaftsfunktionäre aus den klassischen Blaumannbereichen kalt erwischt haben.

Diese Arbeitskämpfe, mit ihrer Eigendynamik, großer Motivation und Engagement der Streikenden, mit ihrer Frauenpower, ihrer Dramaturgie und mit neuen Erkenntnissen für die Gewerkschaftsführungen, war doch etwas anderes, als das, was bis dahin alle gewohnt waren.

Die Frauen haben gezeigt, dass Arbeitskämpfe etwas ganz Besonderes für die Beschäftigten sind und Solidarität wieder gelebt werden kann.

Keine Umverteilung von Arbeit

Die Beschäftigten in Deutschland haben im ersten Halbjahr 2019 zusammen rund 960 Millionen Überstunden geleistet. Davon waren 490 Millionen Überstunden unbezahlt. Mehr als zwei Drittel der Überstunden leisteten Männer mit 69,2 Prozent, die Frauen waren mit 30,8 Prozent beteiligt.

Das Arbeitsvolumen stieg 2019 auf ein Rekordhoch von 62,7 Milliarden Stunden an,  das entspricht einem Plus von 0,6 Prozent gegenüber dem Vorjahr und ist der höchste Stand seit dem Jahr 1991.

Stark gestiegen ist in den letzten Jahren die Teilzeitarbeit, lag sie im Jahr 2000 noch bei 6,5 Milliarden Stunden, stieg sie im vergangenen Jahr auf fast 12 Milliarden. Über sieben Millionen Menschen in Deutschland waren zu Beginn des Jahres 2020 geringfügig als Minijobber beschäftig.

Rund 1.642 Stunden betrug die durchschnittliche Jahresarbeitszeit von Vollzeiterwerbstätigen in Deutschland im Jahr 2019. Bei teilzeitbeschäftigt Erwerbstätigen betrug die durchschnittliche Arbeitszeit rund 714 Stunden im Jahr. Beide Werte lagen somit leicht über den Vorjahren.

Diese Zahlen würden den Gewerkschaften in allen Verhandlungen und Arbeitskämpfen genügend Rückenwind geben, zu vernehmen ist bei ihnen nur ein laues Lüftchen.

Eine faire Arbeitszeitpolitik könnte das verfügbare Erwerbsarbeitspotential und das entsprechende Arbeitsvolumen so umverteilen, dass die erwerbslosen Menschen eine Arbeit bekämen, aber auch die Teilzeitbeschäftigten ihre Arbeitszeit nach ihren Bedürfnissen erhöhen könnten.

Hier geht es um Umverteilung, vor der die Gewerkschaften regelrecht Angst haben. Würde man die Arbeitszeit der Vollbeschäftigten über fünf Jahre jährlich um fünf Prozent reduzieren, so kämen die 23,5 Millionen Vollzeitbeschäftigten auf eine 30-Stunden-Woche. Dies würde nach und nach 4,7 Millionen zusätzliche Arbeitskräfte oder ein zusätzliches Arbeitsvolumen von 6,6 Milliarden Stunden bedeuten. Zusätzlich müsste es zu einem Ausbau der Beschäftigung im öffentlichen Sektor kommen.

Allein die vollständige Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit würde etwa 80 Milliarden Euro freisetzen, die der Staat jährlich für die Arbeitslosigkeit aufbringt. Eine solidarische Steuerpolitik könnte mit zur Gegenfinanzierung genutzt werden.

Bei den letzten Tarifverhandlungen spielte die kollektive Arbeitszeitverkürzung gar keine Rolle. Doch werden mit der favorisierten „Kurzen Vollzeit für Alle“ der Lohnverfall und die Massenarbeitslosigkeit nicht beseitigt. Im Gegenteil, sie wird noch unter den auf uns zukommenden wirtschaftlichen Änderungsprozessen weiter zunehmen.

Wie dramatisch die Situation schon heute ist, zeigt die Tatsache, dass eine 30-Stunden-Woche für Alle bei vollem Lohn- und Personalausgleich, wenn sie heute eingeführt würde, nicht mehr ausreicht, um eine Vollbeschäftigung zu erreichen.

Auf betriebswirtschaftlicher Ebene, auf der in der Regel viele Gewerkschaften nur noch agieren, kann dieses gesamtwirtschaftliche Problem kaum noch gelöst werden.

Auch stellt sich mittlerweile die Frage, ob die Gewerkschaften auf tariflicher Ebene unter den oben beschriebenen neoliberalen ökonomischen Veränderungsprozessen noch die notwendige Durchsetzungsmacht für eine radikale kollektive Arbeitszeitverkürzung haben und ob ohne eine politische staatliche Intervention überhaupt so etwas gelingen kann.

Die Umverteilung der Arbeit könnte enorme Mobilisierungsmöglichkeiten entwickeln und endlich die Klammer bilden, bei der Beschäftigte und erwerbslose Menschen eine bisher ungeahnte Power entwickeln könnten und das derzeitige Wirtschaftssystem grundsätzlich in Frage gestellt würde.

Gewerkschaften sind die größten Rentnerklubs

Immer wenn die Mitgliederentwicklung zur Sprache kommt, ist der DGB schnell dabei, die demografische Karte zu ziehen.

Vollkommen klar ist, dass die Überalterung ihrer Mitglieder Deutschlands Gewerkschaften gefährlich schrumpfen lässt. Die IG Metall ist zwar stolz darauf, die Zahl der noch im Arbeitsleben stehenden Mitglieder auf den höchsten Wert seit mehr als zehn Jahren gesteigert zu haben. Trotzdem stehen fast 30 Prozent Ruheständler in der Kartei. Bei der besonders vom Strukturwandel betroffenen Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) liegt der Rentneranteil sogar bei rund 40 Prozent.

Nicht redlich ist, dass dieser demografische Faktor als Begründung des Mitgliederschwunds sofort genannt und die anderen Gründe der wachsenden Unattraktivität der Gewerkschaften geflissentlich unterschlagen werden.

Dabei ist die Zahl der abhängig Beschäftigten insgesamt angestiegen, doch handelt es sich hierbei überwiegend um Menschen die ungesicherte, befristete und schlecht bezahlte Arbeitsverhältnisse eingehen müssen, um am oder unter dem Existenzminimum leben zu können.

Diese Menschen scheinen die DGB-Gewerkschaften nur wenig zu interessieren.

 

 

Quellen: statista.de Böckler, WSI, Rolf Geffken, IAB, Heinz-J. Bontrup, Gegenblende 

Bild: dgb.de