Ungleichheit in der Pandemie

Von Jeffrey Sachs

Je größer die soziale Ungleichheit in einem Land ist, desto höher sind die Corona-Opferzahlen. Wir brauchen vernünftige und vertrauenswürdige Regierungen mit gerechten und nachhaltigen Strategien, sonst scheitern wir nicht nur jetzt, sondern werden immer öfter vergleichbare Krisen erleben.

Drei Länder – die Vereinigten Staaten, Brasilien und Mexiko – vereinen fast die Hälfte der weltweit bekannten Covid-19-Todesfälle auf sich, obwohl dort nur 8,6 Prozent der Weltbevölkerung leben. Und etwa 60 Prozent der europäischen Todesfälle konzentrieren sich auf nur drei Staaten – Italien, Spanien und Großbritannien –, in denen 38 Prozent der Europäer wohnen. In den meisten nord- und zentraleuropäischen Ländern sind die Todesraten niedriger.

Die Covid-19-Sterblichkeit wird in jedem Land von mehreren Faktoren bestimmt: der Qualität der politischen Führung, der Stimmigkeit der staatlichen Reaktionen, der Verfügbarkeit von Krankenhausbetten, dem Ausmaß des internationalen Reiseverkehrs und der Altersstruktur der Einwohner. Aber die Rolle all dieser Faktoren scheint von einem tiefen strukturellen Merkmal geprägt zu werden: der Einkommens- und Wohlstandsverteilung im Land.Auch vergleichsweise soziale Länder wie Schweden lagen in der Corona-Politik schlicht falsch

In den USA, in Brasilien und in Mexiko herrscht eine sehr hohe Einkommens- und Wohlstandsungleichheit. Sie wird von der Weltbank mit Gini-Koeffizienten verdeutlicht. Auf einer Skala von 100 Punkten bedeutet ein Wert von 100 eine völlige Ungleichheit, bei der Einkommen und Wohlstand ausschließlich auf eine Person fallen, und Null bedeutet eine völlig gleiche Verteilung über alle Personen und Haushalte hinweg. Laut Weltbank lag der Gini-Koeffizient der letzten Jahre (2016 – 2018) in den USA bei 41,4, in Brasilien bei 53,5 und in Mexiko bei 45,9.).

Unter den Industriestaaten haben die USA den höchsten Gini-Koeffizienten, während Brasilien und Mexiko zu den weltweit ungleichsten Ländern gehören. In Europa sind Italien, Spanien und das Großbritannien – mit Gini-Werten von 35,6, 35,3, und 34,8 – ungleicher als ihre nördlichen und östlichen Nachbarn wie Finnland (27,3), Norwegen (28,5), Deutschland (29,5), Polen (30,5) und Ungarn (30,5).

Die Korrelation der Todesfälle pro Million Einwohner und der Einkommensungleichheit ist keineswegs perfekt. Auch andere Faktoren spielen eine große Rolle. So entspricht Frankreichs Ungleichheit derjenigen Deutschlands, aber die Covid-19-Sterblichkeit ist dort erheblich höher. Die Todesrate im relativ gleichen Schweden ist viel höher als bei seinen Nachbarn, da die soziale Distanzierung im Land nicht vorgeschrieben war, sondern freiwillig. Das relativ gleiche Belgien verzeichnete offiziell sehr hohe Todesraten, was teilweise an der Entscheidung der Behörden lag, nicht nur bestätigte Covid-19-Todesfälle zu melden, sondern auch wahrscheinliche.

Hohe Einkommensungleichheit ist in vielerlei Hinsicht eine soziale Geißel: Wie Kate Pickett und Richard Wilkinson in ihrem wichtigen Buch „Gleichheit ist Glück: Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind“ überzeugend darlegen, führt höhere Ungleichheit allgemein zu schlechterer Gesundheit, was die Wahrscheinlichkeit, an Covid-19 zu sterben, erheblich erhöht.

Darüber hinaus verringert höhere Ungleichheit den sozialen Zusammenhalt und das soziale Vertrauen, steigert aber die politische Polarisierung. All dies beeinträchtigt die Fähigkeit und Bereitschaft der Regierungen, strenge Kontrollmechanismen einzuführen. Höhere Ungleichheit bedeutet, dass viel mehr niedrig bezahlte Arbeiter ihr tägliches Leben auch bei erhöhtem Infektionsrisiko fortführen müssen – so etwa Reinigungskräfte, Kassiererinnen, Wachleute und Lieferpersonal bis hin zu Hygiene-, Bau- und Fabrikarbeiter. Mehr Ungleichheit bedeutet zudem, dass mehr Menschen in beengten Lebensverhältnissen leben und damit keinen geschützten Raum haben.

Populisten lehnen wissenschaftliche Erkenntnisse ab – zum Schaden ihrer WählerInnen

Die enormen Kosten der Ungleichheit werden durch populistische Politiker noch verstärkt. US-Präsident Donald Trump, der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro und der britische Premierminister Boris Johnson wurden in ungleichen und sozial gespaltenen Gesellschaften gewählt, unterstützt von vielen verärgerten Wählern der Arbeiterklasse – typischerweise weißen, schlecht ausgebildeten Männern, die unter ihrem sinkenden sozialen und wirtschaftlichen Status leiden. Doch die Politik der Verbitterung dieser Politik ist fast das Gegenteil der Politik der Seuchenkontrolle: Sie lehnt Experten ab, verhöhnt wissenschaftliche Beweise und wendet sich gegen die Eliten, die den Arbeitnehmern, die nicht zu Hause arbeiten können, sagen, sie sollen zu Hause bleiben.

Die USA sind unter Trump so ungleich, politisch gespalten und schlecht regiert, dass sie jegliche zusammenhängende Strategie gegen die Pandemie bereits aufgegeben haben. Sämtliche Verantwortung wurde auf die bundesstaatlichen und kommunalen Regierungen geschoben, die diesen Kampf nun auf sich allein gestellt führen müssen. Gelegentlich wurden die Hauptstädte der Bundesstaaten von schwer bewaffneten rechten Demonstranten bedrängt, die sich gegen die Einschränkungen der unternehmerischen Aktivitäten und ihrer Bewegungsfreiheit wehrten. Sogar Gesichtsmasken wurden politisiert: Trump weigert sich lange, eine zu tragen, und kürzlich noch sagte er, Menschen, die das tun, würden sich damit persönlich gegen ihn wenden. So kommt es, dass sich seine Anhänger strikt weigern, Masken zu tragen, und das Virus, das zunächst in den „blauen“ (demokratischen) Küstenstaaten wütete, nun über Trumps Wählerbasis in den „roten“ (republikanischen) Städten herfällt.

Brasilien und Mexiko kopieren die Politik der USA. Bolsonaro und der mexikanische Präsident Andrés Manuel López Obrador sind reinrassige Populisten nach dem Vorbild Trumps. Sie machen sich über das Virus lustig, verachten den Rat von Experten, spielen die Risiken herunter und lehnen persönliche Schutzmaßnahmen öffentlich ab. Auch sie führen ihre Länder in eine Katastrophe.

Mit Ausnahme von Kanada und nur wenigen anderen werden die nord- und südamerikanischen Länder deshalb vom Virus verwüstet, weil fast die gesamte westliche Hemisphäre eine Tradition der Massenungleichheit und Rassendiskriminierung miteinander teilt. Sogar das gut regierte Chile fiel letztes Jahr aufgrund hoher und chronischer Ungleichheit der Gewalt und Instabilität zum Opfer. Und dieses Jahr leidet Chile (gemeinsam mit Brasilien, Ecuador und Peru) unter einer der weltweit höchsten Covid-19-Todesraten.

Ungleichheit ist sicherlich keine Todesstrafe. China ist (mit einem Gini-Wert von 38,5) ziemlich ungleich, aber seine Staats- und Provinzregierungen haben nach dem ersten Ausbruch in Wuhan rigorose Kontrollmechanismen eingeführt und das Virus letztlich in den Griff bekommen. Nach Wochen ohne neue offizielle Fälle führte allerdings der jüngste Ausbruch in Peking zu neuen Lockdowns und massiven Tests.

Die Reichen arbeiten online, die Armen riskieren ihre Gesundheit

In den meisten anderen Ländern werden wir allerdings erneut Zeugen der enormen Kosten der Massenungleichheit: unbeholfene Regierungen, soziales Misstrauen und massenweise verletzliche Menschen, die sich selbst nicht mehr schützen können. Schlimm ist dabei, dass die Ungleichheiten durch die Epidemie selbst noch weiter verstärkt werden.

Die Reichen arbeiten nun online und profitieren davon – der Reichtum von Amazon-Gründer Jeff Bezos ist dank dem florierenden Online-Handel seit Beginn des Jahres um 49 Milliarden Dollar gestiegen. Die Armen dagegen verlieren oft ihre Arbeit – und auch ihre Gesundheit oder gar ihr Leben. Die Kosten der Ungleichheit werden mit Sicherheit noch steigen, da die einkommensschwachen Regierungen ihre Haushalte und die Sozialleistungen für Arme kürzen werden.

Die Rechnung müssen wir alle zahlen. Ohne vernünftige, fähige und vertrauenswürdige Regierungen mit gerechten und nachhaltigen Strategien gegen die Pandemie werden immer mehr globale Krisen kommen, und die Welt wird unter immer weiteren Wellen der Instabilität leiden.

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Jeffrey D. Sachs ist Ökonom und seit 2002 Sonderberater der Millennium Development Goals. Er ist Direktor des UN Sustainable Development Solutions Network sowie Direktor des Earth Institute an der Columbia University.

 

 

 

Quelle:  https://gegenblende.dgb.de
Bildbearbeitung: L.N.