In schwerer See. Europäische Gewerkschaften in Krisenzeiten

„Die Gewerkschaften in Europa befinden sich in schwerer See. Arbeitslosigkeit, prekäre Beschäftigung sowie die Zunahme sozialer Ungleichheit stellen sie vor ähnliche Herausforderungen. Zugleich haben sich ihre jeweiligen nationalen Handlungsmöglichkeiten im Gefolge der Krisenpolitik innerhalb der EU seit 2008 sehr unterschiedlich entwickelt. Dies ist der Hintergrund, vor dem wir neben Deutschland Wissenschaftler_innen aus Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Italien, den Niederlanden, Österreich, Polen, Schweden, Spanien sowie Ungarn für ein gemeinsames Forschungsprojekt interessieren konnten. Der vorliegende Bericht gibt einen Überblick über einige uns besonders interessant erscheinende Aspekte dieser Analysen und stellt diese in den Zusammenhang anderer aktueller Veröffentlichungen zu diesem Thema.

Wenn heute in Europa über „die“ Krise gesprochen wird, können damit ganz verschiedene Dinge gemeint sein. Die meisten Menschen würden an den Beinahe-Zusammenbruch des Finanzsystems im Jahre 2008 und die größte Weltwirtschaftskrise seit den 1930er Jahren denken, deren unmittelbare wirtschaftliche und soziale Folgen zunächst mit massiven Regierungsprogrammen aufgefangen wurden. Viele denken auch an die „Eurokrise“, die seit 2010 die Schlagzeilen in Europa dominiert hat. Je nach nationalem Kontext sind dabei die Krisenwahrnehmungen höchst unterschiedlich: In Deutschland z. B. erscheint die Eurokrise als etwas, das sich in anderen Ländern abspielt, vor allem in Südeuropa. Dort wiederum beschreibt das Wort „Krise“ eine noch nicht beendete Geschichte. Das deprimierendste Beispiel hierfür ist Griechenland, wo nur mit großem Optimismus nach zehn Jahren der Krise Licht am Ende des Tunnels zu entdecken ist. Die meisten europäischen Länder befinden sich irgendwo zwischen diesen beiden Polen. Auch wenn die Wirtschaft mittlerweile überall wieder wächst, ist keines der Probleme gelöst, die diese Länder in die Krise hineingeführt habe.

Die Europäische Währungsunion bleibt ein höchst fragiles Gebilde, während der Internationale Währungsfond vor den nach wie vor bestehenden Risiken in der globalen Finanzwirtschaft warnt (IMF 2018a). Zugleich sind durch die Krisenpolitik in Europa in vielen Ländern insbesondere auf den Arbeitsmärkten und bei der sozialen Ungleichheit noch größere, langfristig wirkende Schäden entstanden (Lübker/Schulten 2018, Sablowski u. a. 2018). Angesichts der Vielfalt der Krisenphänomene in Europa – sowohl im Hinblick auf deren zeitliche Abfolge als auch deren politische, wirtschaftliche, soziale oder kulturelle Aspekte – ist es angemessen, nicht von der Krise, sondern von Krisen im Plural zu sprechen.

Eine Schlüsselrolle spielt hier die so genannte „stille Revolution“, als die der damalige EU-Kommissionspräsident Barroso den 2010 eingeleiteten Übergang zu einer strafferen Kontrolle der nationalen Haushalts- und Wirtschaftspolitik durch die EU-Institutionen bezeichnet hat (EUObserver 2011), die heute mit dem Begriff der neuen europäischen „Economic Governance“ bezeichnet wird (Müller et.al. 2016). Die zum Zweck der ausdrücklich so genannten „wirtschaftlichen Überwachung“ eingeführten Instrumente und Prozeduren können als Versuch betrachtet werden, neoliberale Wirtschaftspolitik im Rahmen des europäischen Binnenmarktes und insbesondere seinem Kern, der Europäischen Währungsunion, zu institutionalisieren, nachdem der Europäische Gerichtshof dieser mit verschiedenen Urteilen de facto sogar Verfassungsrang gegeben hat (Bieling 2013; Höpner 2017). Das A & O dieser Strategie, in deren Zentrum die Stärkung der internationalen preislichen Wettbewerbsfähigkeit steht, sind die Austeritätspolitik und die Senkung der Arbeitskosten. In der Konsequenz hat diese Politik allerdings nicht nur die wirtschaftliche Erholung gebremst, sondern die europäischen Länder aus- und gegeneinander getrieben und nicht zuletzt wegen der schwachen demokratischen Legitimation und der politischen Ausbeutbarkeit durch nationalistische Parteien wesentlich dazu beigetragen, dass sich die EU heute in ihrer bislang tiefsten politischen Krise befindet.

Dieser Prozess der „spaltenden Integration“ (Lehndorff 2014) hat auch die Gewerkschaften in eine äußerst schwierige Situation gebracht. Die meisten von ihnen sind weitaus stärker als in früheren Jahrzehnten mit einer neoliberalen Politik ihrer jeweiligen Regierungen konfrontiert. Sie stehen – wenn auch in unterschiedlichem Maße – ähnlichen Herausforderungen gegenüber: der Arbeitslosigkeit, der gewachsenen Bedeutung prekärer Beschäftigung, der Zunahme von sozialer Ungleichheit, der Schwächung von Tarifvertragssystemen und Arbeitnehmerrechten. Aber die Lage ist paradox: Einerseits ist heute die Verbindung zwischen den jeweiligen national- oder branchenspezifischen Konfliktfeldern und der auf EU-Ebene betriebenen Politik so eng wie noch nie zuvor. Andererseits scheint Europa für die meisten Gewerkschaften nach wie vor weit weg von ihrem politischen Tagesgeschäft zu sein. Während die Gewerkschaften in der „Peripherie“ zuletzt dramatische Verluste ihres politischen und institutionellen Einflusses erleiden mussten, haben es die Gewerkschaften in einigen der „Kern-Länder“ West- und NordEuropas in der jüngsten Vergangenheit sogar geschafft, etwas von der zuvor verlorenen Kraft zurück zu gewinnen und neue Initiativen zu entwickeln. Im Ergebnis kann in den europäischen Gewerkschaften durchaus der Eindruck entstehen, sie kämpften in verschiedenen Welten.

Den vorliegenden Überblick haben wir mit der Bemerkung eingeleitet, dass in der zunehmend zerklüfteter werdenden europäischen Gewerkschaftslandschaft bei vielen Gewerkschaften durchaus der Eindruck entstehen könne, sie kämpften in verschiedenen Welten. Deshalb haben wir uns nicht primär für länderspezifische Unterschiede zwischen den Gewerkschaften interessiert, sondern vor allem für Parallelen inmitten dieser Kontraste. Die wichtigste Parallele, die sich aus unserem Überblick ergibt, ist die dringender werdende Notwendigkeit, die gewerkschaftlichen Fähigkeiten als autonome gesellschaftspolitische Akteure zu entwickeln.

Wenn dies nicht gelingt, geraten die traditionellen institutionellen Pfeiler ihres Einflusses in den Betrieben und der Gesellschaft immer stärker in Gefahr zu erodieren oder demontiert zu werden. Und auch, wenn diese Institutionen äußerlich unbeschädigt erhalten bleiben, drohen sie doch immer stärker ausgehöhlt zu werden und an Wirksamkeit einzubüßen.

Angesichts der immer noch hohen Arbeitslosigkeit in einer Reihe von Ländern und der Ausbreitung prekärer Beschäftigungsverhältnisse wird es schwieriger, den Verlust an institutionellen Machtressourcen durch strukturelle, also auf Arbeitsmarkt und Arbeitsprozesse gründende Machtressourcen zu kompensieren. Diese Schwierigkeit wird von einigen Gewerkschaften (z. B. in Italien, Deutschland oder den Niederlanden) durch Organising-Kampagnen unter – vor allem jungen – prekär Beschäftigten teilweise erfolgreich angegangen. Aber überwunden werden kann sie letztlich nur, wenn die Gewerkschaften praktisch demonstrieren können, dass sie sich sowohl um einzelne Beschäftigtengruppen als auch um die Gesellschaft als ganze kümmern. Ein solches Profil kann dann wiederum auch den Erfolg von Organising-Kampagnen beflügeln. Die Entwicklung der Gewerkschaften zu politisch autonomen Akteuren verleiht damit der Revitalisierung gewerkschaftlicher Machtressourcen auf allen Tätigkeitsfeldern Rückenwind – ihrer Verankerung auf dem Arbeitsmarkt, der Stärke ihrer Organisation, ihrer Rolle in den Institutionen des Arbeitsmarkts und ihrem Einfluss in einem größeren gesellschaftlichen und politischen Zusammenhang“.

 

 

 

Quelle und weitere Infos:  http://www.iaq.uni-due.de/iaq-forschung/2018/fo2018-05.pdf

Bild: böckler.de