In den europäischen Ländern zahlten hauptsächlich die Beschäftigten für eine Krise, die sie selbst nicht verursacht hatten. Während die Unternehmen europaweit Gewinne einfuhren, hat der Druck auf das Lohnniveau in ganz Europa zugenommen.
In Deutschland wurde und wird seit Jahren Lohndumping betrieben. Dass auch der Mindestlohn ausgerechnet im wirtschaftlich stärksten Land in der Europäischen Union niedriger als in den vergleichbaren westeuropäischen Staaten ist, zeigt, dass die Bundesregierung nach wie vor nicht gewillt ist, den Niedriglohnsektor in Deutschland wirksam einzudämmen.
Für die betroffenen Beschäftigten bedeutet der zu niedrige Mindestlohn Armut trotz Vollzeitarbeit, um das Existenzminimum zu erreichen, müssen sie oft aufstocken und später finden sie sich in Altersarmut wieder, weil sie keine ausreichenden Rentenansprüche aufbauen konnten.
Der WSI-Mindestlohnbericht 2017 der Hans-Böckler-Stiftung zeigt die Entwicklung der Mindestlöhne in der EU auf.
„Gesetzliche Mindestlöhne in der EU: Nominal und real kräftige Zuwächse
Die Mindestlöhne in den 22 von 28 EU-Staaten, die über eine allgemeine gesetzliche Untergrenze verfügen, sind zuletzt im Durchschnitt kräftig gewachsen. 21 Staaten haben ihre Lohnuntergrenze zum 1. Januar 2017 oder unterjährig im Jahr 2016 angehoben, lediglich in Griechenland gab es wegen der Vorgaben der Troika keine Erhöhung. Die nominalen Erhöhungen waren die stärksten seit 2007. Da gleichzeitig die Inflation sehr niedrig war, legten die Mindestlöhne in den meisten EU-Ländern auch real deutlich zu. Das zeigt der neue Mindestlohnbericht des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung. Der deutsche Mindestlohn ist mit 8,84 Euro pro Stunde spürbar niedriger als die Lohnuntergrenzen in den westeuropäischen Euro-Staaten, die mindestens 9,25 Euro Stundenlohn vorsehen, in Luxemburg sogar 11,27 Euro. Der Mindestlohn in Großbritannien liegt in Euro umgerechnet mit 8,79 Euro auf dem gleichen Niveau, wäre ohne die jüngste Abwertung des Britischen Pfundes aber deutlich höher.
Nachdem die Sparpolitik in zahlreichen EU-Staaten über längere Zeit auch die Mindestlohnentwicklung ausbremste, habe sich „der bereits seit einigen Jahren andauernden Trend hin zu einer dynamischeren Mindestlohnentwicklung noch einmal beschleunigt“, schreibt WSI-Tarifexperte Prof. Dr. Thorsten Schulten im Mindestlohnbericht, der in der neuen Ausgabe der WSI-Mitteilungen erscheint. Darin zeige sich auch ein „gewisser Nachholbedarf“. Trotzdem sei der Mindestlohn gemessen am mittleren Lohnniveau in vielen Ländern nach wie vor niedrig.
Nominal legten die Mindestlöhne 2016 im Mittel der EU-Länder um 5,0 Prozent zu gegenüber 3,0 Prozent 2015. Dabei gab es weiterhin erhebliche Unterschiede. In West- und Südeuropa reichten die nominalen Anhebungen von 0,9 Prozent in Frankreich über 2,0 Prozent in Belgien und 4,0 Prozent in Deutschland bis zu 7,5 Prozent in Großbritannien und 8,1 Prozent in Spanien. In Osteuropa stiegen die Mindestlöhne überall um nominal mindestens fünf Prozent, in Polen, Tschechien, den meisten baltischen Staaten, Bulgarien, Ungarn und Rumänien sogar zwischen 8,1 und 19 Prozent.
In fast allen EU-Ländern lag die Mindestlohnentwicklung über der – meist sehr niedrigen – Inflationsrate. Die reale mittlere Erhöhung der Mindestlöhne betrug daher 2016 4,6 Prozent, das ist der höchste Zuwachs seit der Jahrtausendwende.
In den westeuropäischen Ländern meist mehr als neun Euro
In den westeuropäischen Ländern betragen die niedrigsten erlaubten Brutto-Stundenlöhne nun zwischen 8,79 Euro in Großbritannien und 11,27 Euro brutto in Luxemburg. In Frankreich liegt die Untergrenze bei 9,76 Euro, in den Niederlanden bei 9,52 Euro, in Belgien bei 9,28 Euro und in Irland bei 9,25 Euro. Die sehr kräftige Erhöhung des britischen Mindestlohns wird bei der Umrechnung in Euro von der 13-prozentigen Abwertung des Pfundes infolge des Brexit-Referendums überlagert. Bei stabilem Umrechnungskurs betrüge der Mindestlohn in Großbritannien heute 9,92 Euro „und würde damit einen europäischen Spitzenwert einnehmen“, schreibt Forscher Schulten.
Die südeuropäischen EU-Staaten haben Lohnuntergrenzen zwischen 3,35 Euro in Griechenland und 4,29 Euro in Spanien. Etwas darüber liegt mit 4,65 Euro Slowenien. In den meisten anderen mittel- und osteuropäischen Staaten sind die Mindestlöhne noch deutlich niedriger. Allerdings haben sie weiter aufgeholt. So müssen etwa in Polen jetzt mindestens 2,65 Euro pro Stunde bezahlt werden. Zudem spiegeln die Niveauunterschiede zum Teil auch unterschiedliche Lebenshaltungskosten wider. Legt man Kaufkraftstandards (KKS) zugrunde, reduziert sich das Verhältnis zwischen dem niedrigsten und dem höchsten gesetzlichen Mindestlohn in der EU von etwa 1:8 auf weniger als 1:4.
Deutscher Mindestlohn weiter moderat
Der deutsche Mindestlohn findet sich nach Schultens Analyse bei der absoluten Höhe „am unteren Ende der ersten, westeuropäischen Gruppe“. Schaut man auf das relative Niveau, rangiert Deutschland im internationalen Mittelfeld: Gemessen am jeweiligen Medianlohn, den Vollzeitbeschäftigte verdienen, hätte die deutsche Lohnuntergrenze im Jahr 2015 – dem letzten, für das derzeit international vergleichbare Daten vorliegen – 48 Prozent betragen. Beim Medianlohn handelt es sich um denjenigen Lohn, bei dem die Hälfte aller Beschäftigten mehr und die andere Hälfte weniger verdient. Ähnlich ist das Niveau in zahlreichen Ländern innerhalb und außerhalb Europas. Nach verbreiteter wissenschaftlicher Klassifikation gelten Löhne unterhalb von zwei Dritteln des Medians als Niedriglöhne. Bei mindestens 55 Prozent des Mittelwerts liegen die Mindestlöhne unter anderem in der Türkei, Frankreich, Luxemburg, Slowenien sowie in Neuseeland. Deutlich niedriger sind unter anderem die nationalen Untergrenzen in Japan, den USA oder Spanien. Setzt man die Lohnuntergrenze ins Verhältnis zu den nationalen Lebenshaltungskosten, profitieren deutsche Mindestlohnbezieher vom relativ günstigen Preisniveau in der Bundesrepublik und haben eine etwas höhere Kaufkraft als etwa Mindestlohnbezieher in den Niederlanden.
Außerhalb der EU verfügen nach Daten der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) rund 80 weitere Staaten über eine allgemeine Untergrenze für Löhne. Exemplarisch betrachtet das WSI die Mindestlöhne in 15 Ländern. Sie reichen von umgerechnet 56 Cent in Moldawien und 1,10 Euro in Brasilien über 2,73 Euro in der Türkei, 6,55 Euro in den USA und 6,85 Euro in Japan bis zu 9,60 Euro in Neuseeland und 11,89 Euro in Australien. Insbesondere in den USA gibt es neben dem nationalen Mindestlohn aber weitere Untergrenzen, die auf der Ebene einzelner Bundesstaaten bindend sind. Der höchste regionale Mindestlohn gilt im District der Hauptstadt Washington (umgerechnet 10,39 Euro). Auch im Bundesstaat Washington und in Massachusetts (jeweils 9,94 Euro) sowie in Kalifornien und drei weiteren Bundesstaaten (Mindestlöhne über neun Euro) konstatiert WSI-Experte Schulten ein mit Westeuropa vergleichbares Niveau. In rund 30 Städten gelten zusätzlich lokale Mindestlöhne. Das bekannteste Beispiel ist Seattle, wo mindestens umgerechnet 13,55 Euro pro Stunde bezahlt werden müssen.
Europa-Parlament plädiert für höheres Niveau
Auch wenn die Mindestlohnentwicklung in vielen EU-Ländern die von Wirtschaftskrise und Austerität im Euroraum verursachte mehrjährige Flaute überwunden habe, sieht Tarifexperte Schulten „sowohl den absoluten als auch den relativen Wert des Mindestlohns in vielen Ländern nach wie vor auf einem eher geringen Niveau, was immer wieder zu Debatten über kräftigere Mindestlohnerhöhungen führt.“ So habe etwa das Europäische Parlament zum wiederholten Male im Herbst 2016 als Ziel formuliert, europaweit „nach Möglichkeit stufenweise ein Niveau von mindestens 60 Prozent des jeweiligen nationalen Durchschnittslohns zu erreichen“. Damit wollten die Parlamentarier erreichen, dass „keine übermäßigen Lohngefälle entstehen und damit die Gesamtnachfrage, die wirtschaftliche Erholung und die soziale Konvergenz auf hohem Niveau gestützt werden.“
Weitere Informationen: Thorsten Schulten: WSI-Mindestlohnbericht 2017: Hohe Zuwächse in Europa (pdf). Quelle: Hans Böckler Stiftung:::: Pressemitteilungen 2017 Bild: ver.di