Karl Marx und die digitale Revolution oder Befreit „Industrie 4.0“ endlich die Menschen von der Arbeit?

Von  Wolf Stammnitz

Seit einigen Jahren geistert durch die Medien das Schlagwort „Industrie 4.0“. In einem weit gefassten Sinn soll es eine neue „technologische Revolution“ verkünden: nach der Dampfmaschine, der Eisenbahn, der Elektrizität und Großchemie, dem Automobil jetzt die digitale Vernetzung aller Lebensbereiche über das Internet. Und mit ihr einen weiteren tiefgreifenden Strukturwandel der Wirtschaft und Gesellschaft.

Im engeren Sinn bezeichnet „Industrie 4.0“ ein Programm, mit dem die Bundesregierung, gemeinsam mit Großunternehmen, Verbänden und Forschungseinrichtungen die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen und europäischen Wirtschaft steigern will.

Dies Regierungsprojekt hat sich inzwischen auch bis Dortmund herumgesprochen.

Vor anderthalb Jahren (im Februar 2016) sprang der Stadtrat auf den Zug auf, den die (NRW-) Landesregierung mit Fördermitteln der EU auf die Schiene setzte, und beschloss ein Modellprojekt „Kompetenznetzwerk Digitale Produktion“.

Im Juli 2016 folgte ein „Masterplan Digitales Dortmund“. Er soll, weit über die Industrie hinaus, „Dortmund als bundesweite Modellregion für intelligente Vernetzung von Basissektoren (Bildung, Gesundheit, Energie, Verkehr und Verwaltung) etablieren.“

Inzwischen scheint sich das zu einem Mammutvorhaben auszuwachsen, für das der Stadtvorstand jetzt nicht weniger als drei eigenständige Masterpläne auflegt.

Soeben, am 1.Juni beschloss der Stadtrat, aus unserer Stadt eine „Smart City“ zu machen. Der Normal-Bürger schüttelt den Kopf und schaut vorsichtshalber im Duden nach, was das neue Modewort der Marketingstrategen bedeutet: clever, gewitzt, listig, raffiniert, schlau, trickreich, gewieft, geschäftstüchtig, gerissen, schlitzohrig, durchtrieben, ausgekocht. – Und so soll unser Dortmund werden???

Zitat aus dem Ratsbeschluss: „Gemeinsam mit Wissenschaft, Wirtschaft und Zivilgesellschaft sollen Projekte zur intelligenten und vernetzten Stadtentwicklung initiiert und umgesetzt werden, die die Stadt zum Innovationslabor für neue Konzepte und Projekte machen…“

Wird Dortmund neu erfunden?

Um die Tragweite und die sozialen Folgen dieses Projekts abschätzen zu können, müssen wir uns zunächst klar machen, mit welchem Ziel und in welchen Grenzen kapitalistische Unternehmen technische Innovationen nutzen. – Das ist ja für sie nicht selbstverständlich.

Ihre Konkurrenz am Markt zwingt sie, preisgünstigere und/oder bessere Produkte anzubieten. Da jedoch technische Neuerungen regelmäßig zusätzliches Kapital erfordern, sind Investoren dazu nur bereit, soweit sich das für sie „rechnet“, das heißt: wenn der erwartete Zusatznutzen die Kapitalkosten übersteigt. Ihre Innovationsbereitschaft wird also von ihrer Marktposition, den Strategien ihrer Konkurrenten und der aktuellen Konjunktur bestimmt und zugleich begrenzt. Es sind (und es waren)  immer tiefe, die ganze Wirtschaft erschütternde Strukturkrisen, in denen die Unternehmer massenhaft zu neuen Technologien greifen, auch wenn diese schon länger erfunden und entwickelt bereit gelegen hatten….

Alle früheren großtechnischen Revolutionen wälzten die kapitalistische Wirtschaft auf doppelte Weise um. Nicht nur mit neuen Produktionsverfahren, Energiesystemen (Dampfkraft, Elektrizität, Verbrennungsmotor, Atomkraft) und Transportmitteln (Eisenbahn, Automobil, Flugzeug) senkten sie die Produktionskosten, sondern zugleich fluteten sie den Markt jeweils mit gewaltigen Mengen neuartiger Güter des Massenkonsums, ja sie erzeugten geradezu ihre eigenen neuen Märkte und konnten auch so wirtschaftliche Depressionen überwinden und die Kapitalverwertung in vorher ungeahnte Dimensionen steigern.

Heute sehen wir uns wieder mit einer umfassenden, tiefgreifenden Strukturkrise der kapitalistischen Wirtschaft konfrontiert:

Seit dem Ende des Nachkriegsaufschwungs in den 60 Jahren sinken in den kapitalistischen Ländern die Wachstumsraten des BIP. Als Reaktion auf die Krise der 1970er Jahre führten neoklassische und monetaristische Strategien zum Auseinanderdriften von Supergewinnen aus großen Vermögen einerseits und Masseneinkommen anderseits.

Mit diesem Programm gelang es in den 80er und 90er Jahren, die Profite des Kapitals massiv anzuheben.

Geld, das in der Güterproduktion wegen mangelnder Nachfrage nicht mehr genügend Gewinne versprach, wurde in riskante Finanzspekulationen investiert. Das Finanzsystem wurde von der Realwirtschaft abgekoppelt.

Am Ende stand dann die katastrophale Krise von 2008.Nun wird Kapital abgeschrieben durch Bankrotte, Bad Banks, Strafzinsen.

Das grundlegende Problem besteht jedoch bis heute weiter: Die Anhäufung gigantischer Vermögen hat ein Überangebot an Kapital zur Folge, das aufgrund der strukturellen Nachfrageschwäche in der Massenproduktion nicht mehr profitabel genug investiert werden kann.

Die Profitraten in der Realwirtschaft sinken wieder. Die Konkurrenz- und Machtkämpfe zwischen den kapitalistischen Blöcken nehmen an Schärfe zu.

Dieser Krisenkonstellation will man mit Industrie 4.0 entkommen:

durch aggressive Kostensenkung neue Märkte erobern;

– die menschliche Arbeit produktiver machen und so die Lohnstückkosten senken;

– auch unterhalb der Ebene der Massenproduktion neue Profitquellen erschließen.

Von der Krise sind in allen kapitalistischen Ländern die Kommunen besonders stark betroffen, und am meisten ehemalige Industriestandorte wie Dortmund.

Der „Masterplan Digitalisierung“ erinnert da an den Versuch des Barons Münchhausen, sich am eigenen Zopf mitsamt dem Pferd aus dem Sumpf zu heben.

Mit Industrie 4.0 aus der Krise

Neu an den Digitalisierungskonzepten ist nicht der Einsatz von Computern in der Industrie, ihn gibt es schon seit den 1950er Jahren, auch nicht der Einsatz von Robotern.

Als „Industrie 4.0“ wird die Verzahnung ganzer Wertschöpfungsketten mit Informations- und Kommunikationstechnik im Internet bezeichnet. Damit soll es möglich werden, Einzelstücke nach individuellen Kundenwünschen in höchster Qualität zum Preis von Massenware herzustellen. Und zwar in einem Netzwerk, das es Maschinen ermöglicht, am Produkt angebrachte Codes mit Produktionsanweisungen auszulesen und ohne menschlichen Eingriff durchzuführen, selbständig miteinander zu kommunizieren, also in einem „Internet der Dinge“. Technische Bausteine hierfür sind „intelligente“ (? – das meint in bestimmten Grenzen lernfähige) „cyber-physische Systeme“ (CPS, z.B. Bearbeitungszentren, Roboter, Logistiksysteme usw.) Industrie 4.0 erfasst den ganzen Lebenszyklus der Produkte, von der Entwicklung über die Fertigung, Nutzung und Wartung bis zum Recycling.

Zutreffend an der Bezeichnung „4.0“ ist, dass die Vernetzung industrieller Prozesse über das Internet einen neuen technologischen Schub auslösen kann, eine Weiterentwicklung der Produktivkräfte der kapitalistischen Wirtschaft. Die begleitende Medienpropaganda erklärt nun „Big Data“ zum „Rohöl des 21.Jahrhunderts“; die Dortmunder Stadtverwaltung setzt auf „Data Mining“ als krisenfestes Zukunftsgeschäft.

Dabei steht man nun aber vor einem neuen Problem:

Der „Rohstoff Information“ eignet sich als Handelsware denkbar schlecht. Im Unterschied zum Öl und den meisten anderen Waren besitzt Information nämlich keine stoffliche Substanz und erfordert daher, einmal ans Tageslicht befördert, fast keine Produktions- oder Distributionsarbeit mehr. Im Sinne der klassischen Volkswirtschaftslehre (Smith, Ricardo, Marx) hat Information folglich nur geringen Wert, also auch einen geringen Kostpreis, ist auch kein „knappes Gut“, sondern in beliebigen Mengen überall verfügbar und reproduzierbar. Um überhaupt am Markt gehandelt zu werden, muss sie künstlich verknappt, monopolisiert, patentiert und vor „unbefugter“ Nutzung „geschützt“ werden. (Das ist allerdings ein bombiges Geschäft für die wenigen ganz großen, marktbeherrschenden IKT-Konzerne wie Microsoft, Google, facebook, Amazon ua., siehe unten.)

Aus dieser besonderen Eigenschaft der Informationsware ergeben sich wesentliche Unterschiede zu allen vorhergegangenen Basisinnovationen.

–      Erstens: Weil Informationen so gut wie kostenfrei multipliziert werden können, wachsen in „rasendem“ Tempo die Speicherleistung und die Betriebsgeschwindigkeit der Hardware, und  genauso schnell fallen Herstellungskosten und verkürzen sich die Produktzyklen.

–      Zweitens: Weil Information fast nichts kostet, entwickelt sich neben ihrer kapitalistischen Verwertung eine markt-unabhängige Informationsverarbeitung und –verbreitung. „Social Media“, Freie Software-Szene, Wikipedia usw. unterlaufen die Marktwirtschaft, setzen sie partiell außer Kraft und etablieren neben ihr eine kooperative Share-Ökonomie (darauf komme ich noch zurück).

–      Drittens: Ein weiterer Unterschied zu den vorangegangenen Technikwellen besteht darin, dass die Informatik ihren wirtschaftlichen Nutzen weitgehend in der Optimierung von Verfahren entfaltet und nur relativ geringwertige Massenkonsumgüter hervorbrachte.

(Zwar hat die IKT mittels Computern, Druckern, Fax, Mobiltelefonen usw. eigene Märkte geschaffen. Aber diese Märkte sind schon weitgehend gesättigt und werfen aufgrund des rapiden Preisverfalls nur noch durch brutale monopolistische Marktbeherrschung Gewinne ab.

Gewiss kann es noch einige gewinnträchtige Entwicklungen geben. – Aber das ändert nichts daran, dass die Informatik wesentlich als Rationalisierungstechnik zur Einsparung lebendiger Arbeit dient.)

Der Gebrauchswert der Digitaltechnik besteht  gerade darin, dass sie die Herstellung und Verteilung anderer Waren enorm beschleunigt, ohne zusätzliche Arbeit zu erfordern (vom Programmier- und Wartungsaufwand der Netzwerke abgesehen). Dadurch sollen auf breiter Front die Herstellungskosten von Konsumgütern, Maschinen, Bauten, Dienstleistungen usw. sinken –

– somit aber auch die Reproduktionskosten der Arbeitskraft, und, diesen folgend, sinkt allgemein die Kaufkraft und Nachfrage auf den Warenmärkten.

(Zwar wird darauf spekuliert, die Nachfragelücke auf neu zu erschließenden Märkten ausgleichen zu können. Wie realistisch die Spekulation auf eine noch aggressivere Exportoffensive gerade der deutschen Wirtschaft heute ist, lassen wir offen.)                           Doch mit dem in der einzelnen Ware vergegenständlichten Arbeitsvolumen sinkt auch der Warenwert, die Quelle des Profits auf das eingesetzte Kapital.

Daher stellt weder für den einzelnen Unternehmer noch für seine ganze Klasse die Einsparung von Arbeit einen Selbstzweck ihres Wirtschaftens dar. Vielmehr sehen sie den Wert der Arbeitsprodukte immer im Verhältnis zum eingesetzten Kapital; als Messlatte ihrer Investitionsentscheidungen dient ihnen die Profitrate.

Selbst wenn es gelingen würde, das eingesparte Arbeitsvolumen durch Ausweitung der Produktion auszugleichen und so die Gesamtsumme der produzierten Werte stabil zu halten, bleibt die Gesamtsumme des Profits ebenfalls gleich. –

– Was sie an den sinkenden Arbeitslöhnen an „variablem Kapital“ sparen, steht nun aber im Verhältnis zum vergrößerten „konstanten Kapital“, dem um die neuen Digitalisierungskosten vermehrten Anlagenkapital. D.h. im günstigeren Fall bleibt ihre Profitrate dieselbe wie vor der Digitalisierung, ein schlechtes Geschäft, eine Investition, die sich nicht „rechnet“.

Für das Problem, dem sie mit „Industrie 4.0“ entkommen wollten, nämlich für den krisenbedingten Fall der Profitrate bietet technische Rationalisierung allein also keine Lösung.

Die Antwort der Unternehmer darauf ist

–  erstens: große Monopole zu bilden, mit denen sie Marktpreise weit über den Produktionskosten stabilisieren können.

Zuerst mit besonderem Druck in den Branchen, die unmittelbar von der technischen Entwertung ihrer Produkte am meisten betroffen sind: In der IKT-Wirtschaft selbst entstanden Monopole einer Größenordnung, die vor diesem technologischen Sprung noch niemand ahnte (Microsoft, Apple, Google, Samsung, Amazon, Facebook u.a.)

Die großen deutschen und europäischen Technologiekonzerne wie Siemens, Bosch, SAP u.a. bemühen sich mit Hochdruck, den Anschluss nicht zu verlieren. Dies ist vor allem das Ziel des deutschen Regierungsprogramms „Industrie 4.0“.

An der ganzen Digitalisierung mindestens ebenso wichtig wie die Verbilligung der Waren ist für die Großkonzerne die vollständige Unterordnung der kompletten Lieferketten einschließlich des gesamten wirtschaftlichen Mittelbaus.

Anders gesagt, beschleunigt die digitale Revolution die Umwandlung der „Marktwirtschaft“ in eine Monopolherrschaft.

Die Dortmunder Masterplaner beunruhigt das. So wenig die Ware Information als solche kostet, erfordert doch die komplette Umrüstung der Betriebe auf automatische Produktion und internetbasierte Kommunikation zunächst einen hohen Investitions- und Organisationsaufwand. Aus diesem Grund stehen viele mittelständische Unternehmer dem Projekt „Industrie 4.0“ noch skeptisch abwartend gegenüber. Sie können und wollen diesen Sprung nicht wagen. (Was übrigens nicht nur mit ihrer Kreditfähigkeit, sondern auch mit Traditionen, Unternehmenskulturen, ungeklärten Nachfolgefragen usw. zusammenhängt.)

Weil die Dortmunder Wirtschaft inzwischen überwiegend mittelständisch geprägt ist, erklärt es die Stadtspitze zum Hauptziel ihres Masterplans, die lokale Unternehmerschaft für das Wagnis Digitalisierung zu motivieren, um im „Standortwettbewerb“ nicht zurück zu fallen. Dennoch werden auch in dieser technologischen Revolution, wie in jeder vor ihr, die Großen, Starken gewinnen und viele kleine und mittlere Unternehmen ruiniert auf der Strecke bleiben. Auch in Dortmund.

–  Zweitens: Was es bedeutet, wenn flächendeckend menschliche Arbeitskraft durch automatische Prozesse ersetzt wird, erwähnen unsere „Masterplaner“ mit keinem Wort. Auf gesamtwirtschaftlicher Ebene liegen allerdings Expertisen vor, die massive Arbeitsplatzverluste ankündigen.                                                                               -4-

(Eine Berechnung für die ING-DIBA Direktbank sieht in Deutschland bis zu 59 % (!) aller heutigen Arbeitsplätze als rationalisierungsgefährdet (18 Millionen)! Andere Quellen rechnen „nur“ mit 5 bis 9 Millionen bedrohten Stellen.

Selbst wenn man gegenrechnet (wie das wirtschaftsnahe Institut RWI oder die Porsche-eigene Unternehmensberatung MHP), dass der digitale Umbau mehrere Millionen Jobs für Informatiker und Automatisierungstechniker neu zu schaffen verspricht, verliert nach eher vorsichtigen Schätzungen jeder zehnte der heute noch Erwerbstätigen innerhalb der nächsten 5 bis 15 Jahre die Arbeit. Und zwar über alle Wirtschaftszweige hinweg, besonders auch bei unternehmensnahen Dienstleistungen.)

–  Einig sind die meisten Experten darin, dass die Digitalisierung so gut wie sämtliche gering qualifizierten Tätigkeiten vernichtet, denn gerade sie lassen sich am einfachsten automatisch erledigen.

In Dortmund betrifft das ca. 30.000 noch vorhandene Helferstellen und Einfacharbeitsplätze. Auf Dortmund herunter gebrochen bedeutet das die Verdoppelung der jetzigen Arbeitslosigkeit. Und entsprechende Zunahme der Bedarfsgemeinschaften in Hartz IV.

Das aktuell dringendste Problem am Dortmunder Arbeitsmarkt, die Langzeitarbeitslosigkeit der Gering-Qualifizierten, wird sich folglich dramatisch weiter verschärfen.

Wie die neue Technik sich auf die mittlere Qualifikationsebene auswirkt, beurteilen die Experten gegensätzlich. Einige versprechen ein flächendeckendes „Upgrading“ (Aufwertung) einfacher Arbeiten. Andere sehen das, je nachdem wie „intelligent“ (selbständig ohne menschliche Eingriffe) die Automatik funktionieren wird, eher skeptisch.

–  Drittens: Informationstechnologie untergräbt alle noch bestehenden Arbeitszeitgrenzen und Verhältnisse zwischen Arbeitszeit und Lohn. Die Deregulierung der Arbeitseinkommen und Arbeitsbedingungen wird sich dramatisch beschleunigen.

Weltumspannende Produktions- und Kommunikationsnetze sprengen die Grenzen von Tag und Nacht. Computer-Netzwerke müssen weder essen noch sich erholen. Was wir noch mit dem Normalarbeitsverhältnis verbinden, die geregelte Trennung zwischen Arbeit und Freizeit, wird aufgehoben; die Menschen werden zu jeder Tages- und Nachtzeit verfügbar. Wenn eine Störung eintritt, muss der Techniker oder Programmierer auf Abruf bereit stehen, um sie zu beheben.

Jederzeitige Erreichbarkeit ist auch das Schicksal der Millionen „Cloud-worker“, die schon jetzt als selbständige „Ich-AG“-Freelancer weltweit im Internet nach kleinen und kleinsten Teilaufträgen von Großunternehmen fischen, nach Termin rund um die Uhr liefern müssen und sich dabei gegenseitig unterbieten, der deutsche Programmierer gegen den indischen, japanischen, amerikanischen oder koreanischen.

Zum schon vorhandenen Prekariat der Lieferdienste, Pizza-Ausfahrer, Pflegehelferinnen, Aushilfen in Handel und Gastronomie kommen dann unzählige gut qualifizierte IT-Spezialisten, die als Dienstleister von der Hand in den Mund leben, eine weltumspannende scheinselbständige Tagelöhnerschicht, nicht sozialversichert und ohne gesetzlichen Schutz dem Preisdumping der mächtigen Auftraggeber ausgeliefert.

„Smart“ ist nicht klug genug: Die Maschine überlistet ihre Eigentümer

Ob diese Horrorvision wahr wird, schreibt allerdings kein Naturgesetz vor, sondern das wird politisch entschieden. Fragen wir zum Schluss nach den Kräften, die das entscheiden. In der kapitalistischen Gesellschaft hängt Macht, die politische wie ökonomische, vor allem vom Eigentum bzw. Nicht-Eigentum an den Produktionsmitteln ab. In letzter Instanz lässt sie sich an der Kapitalgröße messen.

Die digitale Vernetzung der Wirtschaft stärkt aber zwei Triebkräfte, die sich nicht nur als Kapital in Geld ausdrücken lassen, sondern alle Beziehungen zwischen den Menschen beeinflussen. Karl Marx fand heraus:

–   zum einen die Arbeitsteilung und Kooperation,

–   zum anderen Wissen, Information und Wissenschaft,

diese beiden Produktivkräfte erscheinen heute zwar als Eigenschaft des Kapitals, dessen Eigentümer sie sich zunutze macht,

– aber keine von beiden gehört rechtmäßig zu seinem Eigentum wie Maschinen, Grundstücke, Waren. Der Kapitalist verfügt über sie nur in dem Maß, wie er sie an sein Eigentum an Produktionsmitteln fesseln kann.

Auch „Wissen ist Macht.“ Wissen erwerben und mit anderen arbeitsteilig kooperieren kann jeder arbeitsfähige Mensch.

Eine Gesellschaft, in der Information (= geteiltes Wissen) zur wichtigsten Produktivkraft wird, lässt sich nicht mehr an’s Privateigentum fesseln.

Eine Gesellschaft, in der die Wertschöpfung in hohem Maß von der Wissenschaft, vom gesellschaftlichen Informationsniveau, vom allgemeinen Bildungsstand abhängt, in einer solchen Gesellschaft wird, so Marx, „die Schöpfung des Reichtums unabhängig von der auf sie angewandten Arbeitszeit“. – Und wird somit unabhängig von der Kapitalverwertung.

Da fragt man sich: Eine Technik „4.0“, die die arbeitsteilige Kooperation steigert, Information zur wichtigsten Produktivkraft macht, so die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit verringert und die kapitalistische Verwertungslogik sprengt – warum lassen Kapitalisten sich auf so etwas ein?

Die Antwort haben wir oben schon gegeben: Von der Notwendigkeit der Konkurrenz und einer fallenden Profitrate getrieben, können sie nicht anders, als eine technische Entwicklung befördern, die unentrinnbar über den Kapitalismus hinaus führt.

Bis jetzt hat das kapitalistische System sich mit jedem neuen Innovationsschub immer wieder verjüngt. Ob dies mit der jetzt anrollenden Technologiewelle noch einmal gelingt, ist nach allem was wir heute sehen eher unwahrscheinlich. Der Preis dafür wird immer höher. Das Wachstum flacht ab, neue große Massengütermärkte sind nicht in Sicht, die anschwellende Zahl der Überflüssigen untergräbt die Lohnarbeit, mit ihr das System sozialer Sicherungen und die Legitimität der politisch herrschenden Klasse.

Einerseits sind die großen Kapitale bestrebt, sich unsere ganze freie Zeit und unser Wissen anzueignen. Sie bedienen sich der Informationstechnologie zur Intensivierung, Kontrolle und Verbilligung der Arbeit, zur Monopolisierung ihrer „geistigen Eigentumsrechte“ und zur Verwertung der Konsumentendaten, auch zu neuen Formen der Ausbeutung, etwa durch Crowd-Working.

Andrerseits aber bewirkt die Informationstechnologie die Entstehung freier, kooperativer Geschäftsmodelle außerhalb des Marktmechanismus: eine Share-economy, eine „Allmende“-Produktion.

Zunächst im Bereich der Information selbst. In Netzwerken, in denen kostenlose Informationsgüter die kommerziell erzeugten verdrängen. Mehr und mehr auch darüber hinaus in Dienstleistungssektoren, Energieversorgung, Landwirtschaft, Handwerk usw. Die Hitech-Monopole werden eingekreist und aufgebrochen.

Technologisch sind wir auf dem Weg zu kostenlosen Gütern und zur Automatisierung belastender und entnervender Arbeit.

Gesellschaftlich sind wir noch Gefangene einer Welt, die von Krisen, vermachteten Märkten und der Ausbreitung prekärer Armutsjobs beherrscht ist. Der entscheidende innere Widerspruch des heutigen Kapitalismus ist der zwischen der Möglichkeit kostenloser, im Überfluss vorhandener Allmendeprodukte und einem System von Monopolen, Banken und Regierungen, die versuchen, ihre Kontrolle über die Informationen aufrecht zu erhalten.

Es stimmt also, worin Karl Marx die entscheidende Triebkraft der Geschichte sah: Der Fortschritt der Produktivkräfte sprengt die alten Produktionsverhältnisse. Mit dem Aufkommen einer auf Informationstechnik basierenden Ökonomie erhält der Widerspruch zwischen den Produktivkräften und den kapitalistischen Eigentumsverhältnissen eine neue Dynamik. Das Ziel, auf das die Digitalisierung zutreibt, ist also nicht die Abschaffung der Arbeit, sondern die Befreiung des schöpferischen Menschen von der geschichtlich überholten Lohnarbeit.

Es bleibt jedenfalls Klassenkampf:

– zwischen der alten Eigentümerklasse (und ihrem politischen Apparat) und der um das anwachsende Heer der „Wissensarbeiter“ verstärkten Klasse der abhängig-Beschäftigten.

Und es bleibt ein Kampf um die politische Macht.

– Die ersten Versuche einer kooperativen Wirtschaftsweise, die Herstellung und Verbreitung allgemeiner, von allen nutzbarer Güter – sie werden nur Bestand haben und sich weiter entfalten können, wenn der Staat diese neuen Formen des Wirtschaftens unterstützt, sichert und fördert.

– Und wenn er die Privatisierung lebenswichtiger Produktionsmittel für die Daseinsvorsorge, wie Energieversorgung, Verkehr, Gesundheitswesen usw. rückgängig macht und sie wieder in gemeinschaftlicher Regie betreibt.

Eine solche Sicht auf die Zukunft liegt natürlich weit außerhalb des Horizonts unserer Stadtspitzen. Dennoch kommt auch ihre „Smart City“ nicht umhin, das Tor zur nicht-kapitalistischen Zukunft einen schmalen Spalt weit aufzustoßen.

Karl Marx fordert uns auf, unsere Politik, auch unsere Kommunalpolitik zu nutzen, um den Spalt zu erweitern – und zugleich unser Arbeiten und Leben vor den negativen Folgen der digitalen Revolution zu schützen.

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Wir spiegeln ihn mit freundlicher Genehmigung.

Bild: ver.di