Nichts Neues in der „Neuen Klassenpolitik“?

Von Mag Wompel (LabourNet Germany)

Die radikale Linke hat die „soziale Frage“ wiederentdeckt und ein Zauberwort gefunden: Es lautet „Neue Klassenpolitik“ und soll wahre Wunder vollbringen, nämlich die politische Entwicklung der letzten 30 Jahre zurückdrehen und die Fehler dieser Zeit wieder gut machen. Nötig ist es tatsächlich, die breite Akzeptanz neoliberaler Denk- und Handlungsmuster aufzubrechen sowie den wachsenden rechtspopulistischen Tendenzen etwas entgegen zu setzen. Das „Neue“ daran auszumachen, fällt allerdings schwer.

Die geforderte Integration der „klassischen Klassenpolitik“ mit den Kämpfen gegen Rassismus, Sexismus und Nationalismus und den übrigen sozialen Kämpfen um gute Lebensbedingungen entspricht einem Konzept, das seit drei Jahrzehnten als „Social Movement Unionism“ bezeichnet wird: Gewerkschaftsbewegung als soziale Bewegung oder zumindest als Teil davon. Dieses ganzheitliche, breite Verständnis des gewerkschaftlichen Engagements liegt seit mehr als 20 Jahren auch der Arbeit des LabourNet Germany zugrunde. Die grundlegenden Annahmen sollen nachfolgend erläutert werden.

Wer ist hier die Klasse?

Der Begriff Klasse wird von vielen immer noch mit ArbeiterInnenklasse gleichgesetzt und diese sehr eng als diejenige der ArbeiterInnen und nicht die der Angestellten definiert. Wer argumentiert, dass die klassische Arbeiterklasse schrumpft,[1] verkennt, dass immer mehr produktionsbezogene Tätigkeiten im Dienstleistungsbereich verrichtet werden und andererseits die ArbeiterInnenklasse noch nie nur eine industrielle war. Die Unterscheidung in ArbeiterInnen und Angestellte war schon immer eine, die gleiche Ausbeutungsstrukturen verschleiert. Ob produktive oder immaterielle Arbeit von gering- oder hochqualifizierten Menschen — veränderte Arbeitsorganisation und Technikeinsatz führen dazu, dass sich ihre Arbeitsbedingungen angleichen. Körperlich schwere Arbeit stirbt keinesfalls aus, aber zu alten Belastungen kommen neue, psychische und stressbedingte hinzu. Der Einsatz von Mikroelektronik macht aus Arbeitsmitteln auch Lenkungs- und Kontrollmittel und führt zur Standardisierung der Tätigkeiten durch die Aneignung des Produzentenwissens. Dies intensiviert die Ausbeutung auch in Büroberufen und ermöglicht hoch verdichtete sowie zugleich emotionelle Arbeit wie in Callcentern. Gleichzeitig müssen ArbeiterInnen in der Autoindustrie auch am Fließband zugleich mitdenken und sich selbst ständig (weg)optimieren.

Unabhängig von der kapitalistischen Nivellierung der Arbeitsbedingungen halten wir die Tatsache der abhängigen Beschäftigung und damit der prekären Existenz im Kapitalismus für ausschlaggebend und sprechen daher von der Klasse der Lohnabhängigen. Dies nicht zuletzt, weil immer mehr Menschen regelmäßig zwischen der Position als Erwerbstätige und als Erwerbslose wechseln müssen. Wenn zudem der Interessenwiderspruch von Kapital und Arbeit als grundlegend für das Kriterium Lohnabhängigkeit betrachtet wird, gehören die Erwerbslosen ebenso dazu, wie Rentner oder SchülerInnen und StudentInnen. Auch ihre Lebensbedingungen werden durch kommende oder abgeschlossene Erwerbstätigkeit definiert.

Diese breite Definition sehen wir durch die Aufkündigung des — bisher den Interessengegensatz verwischenden — Klassenkompromisses von oben bestätigt. Durch die verstärkten sozialen Polarisierungsprozesse ist der Klassenwiderspruch offensichtlicher geworden und niemand ist vor dem Abstieg sicher. Hier verbergen sich jenseits einer zynischen Verelendungsstrategie auch positive Potentiale der Desillusionierung und Radikalisierung sowie zur Überwindung dessen, was Klaus Dörre zu Recht als „exklusive Solidarität“ kritisiert.

Die Klasse der Lohnabhängigen besteht aus Menschen unterschiedlichen Geschlechts, unterschiedlicher Herkunft mit durchaus unterschiedlichen Vorlieben und Interessen. Was sie eint, ist das notgedrungene und legitime Interesse, ihre Arbeitskraft möglichst gesundheits- und zeitschonend möglichst gut zu verkaufen. Sind die lohnabhängigen Menschen sich dieser Gemeinsamkeit bewusst, können sie sich als Klasse begreifen und bestenfalls auch so agieren, gemeinsam gegenüber dem Kapital, dem Gegner ihrer Interessen. Damit dürfte auch selbstverständlich werden, dass Sexismus, Rassismus und Nationalismus ihrer Spaltung dienen, weshalb jede Klassen- oder Gewerkschaftspolitik unbedingt internationalistisch, antirassistisch und feministisch zugleich sein muss.

Klassenpolitik vs. Individualisierung?

Besonders heftige Vorbehalte gegen die traditionelle Klassenpolitik haben emanzipatorische Linke, denen wir uns zurechnen. Dies liegt nicht nur an der sehr kritikwürdigen Heroisierung und Fetischisierung der Lohnarbeit, sondern auch an der anachronistischen Kollektivierung der Menschen, über ihre Gemeinsamkeit der Lohnabhängigkeit hinaus, bei fehlender strategischer Begründung.

Natürlich wurde die politisch und kulturell erkämpfte, emanzipierende Individualisierung durch das Kapital angeeignet, um die Vermarktlichung der Beziehungen in der Gesellschaft und auch innerhalb einer Belegschaft voran zu treiben und ihren Arbeitseinsatz zu flexibilisieren. Doch den Zwang zur Konkurrenz untereinander hat es schon immer genauso gegeben wie die „freiwillige“ (ethnische) und kulturelle Spaltungen. Eine homogene Arbeiterklasse gab es schließlich noch nie. Die verstärkte Entsolidarisierung und Spaltung der Belegschaften ist allerdings gelungen, weil das Unternehmertum am Arbeitsplatz als positive, von kollektiven Zwängen befreiende Individualisierung verkauft werden konnte und solidarisches Handeln als Zwang zur Aufgabe persönlicher Freiheit begriffen wurde. Wir hingegen begreifen Individualisierung als Bereicherung des Klassenbegriffes um die banale Tatsache, dass jedes Kollektiv aus der Summe durchaus vielfältiger Menschen besteht. Das ersetzt Klassenkämpfe, aber nicht durch Kulturkämpfe.

Die Einsicht in gemeinsame Interessen darf keinesfalls vorhandene Differenzen nivellieren. Der erweiterte Begriff der Klasse der Lohnabhängigen hilft beide Dimensionen beizubehalten; sowohl den Kampf um die Freiheit auf gesellschaftspolitischer, kultureller Ebene als auch um die Gleichheit der Interessen auf sozialer und ökonomischer Ebene.

Soziale Kämpfe des „ganzen Menschen“

Noch lange bevor es dem neoliberalen Kapitalismus gelang, die Dominanz ökonomischer Verwertungskriterien über die Lebensbedürfnisse der Menschen, also die Ökonomisierung aller Lebensbereiche, durchzusetzen, wurde dies in der Lohnarbeit durchgespielt. Unter dem Label „Lean Production“ begann Ende der 1970er Jahre der Kampf um die Optimierung aller Ressourcen. Auf menschlicher Ebene bedeutete dies, möglichst keine Sekunde ohne 100%ige Arbeitsleistung bezahlen zu müssen und möglichst viel aus der Arbeitskraft herauszupressen. Der maßlose Anspruch des Kapitals lautete, für die durch externen und internen Wettbewerb zu reduzierende Entlohnung die ganze Person, ihre Ideen und Gefühle zu verwerten. Die ursprünglich emanzipatorischen Aspekte der Individualisierung wurden okkupiert und intrinsische Motivierungsstrategien eingesetzt, um die traditionellen Widerstände gegen die Enteignung des Produzentenwissens und Optimierungsideen zu brechen. Diese Management- und Herrschaftsstrategie hat mittlerweile nicht nur Dienstleistungsberufe durchdrungen, sondern unser gesamtes Leben, alle sozialen Beziehungen kolonialisiert. Wenn aber das Kapital den gesamten Menschen verschlingen und alle Lebensbereiche ökonomisieren will, dann muss sich auch die klassische Gewerkschaftsarbeit um den gesamten Menschen und um all seine ökonomisierten Lebensbereiche kümmern — zumal die Grenzen zwischen Leben und Lohnarbeit längst verschwimmen.

Da die Lohnhöhe noch nie unabhängig von der Höhe der Reproduktionskosten betrachtet wurde, haben sich selbst klassische Gewerkschaften auch bisher um beispielsweise Renten- oder Gesundheitspolitik gekümmert. In Deutschland wurde dies in der Nachkriegszeit jedoch immer mehr an den politischen Arm, die parteiförmige Sozialdemokratie, delegiert – mit den bekannten Folgen: Steigenden Reproduktionskosten z.B. bei den Mieten oder im Gesundheitsbereich  stehen keinesfalls entsprechende Tariferhöhungen gegenüber. Sie werden z.B. durch Verzicht auf gesunde Ernährung kompensiert. Tarifforderungen für Nettolöhne, als mögliche Antwort, werden jedoch noch von den Gewerkschaften als politische Forderungen abgelehnt.

Nicht von ungefähr ist daher der Ansatz des „Social Movement Unionism“ in nicht sozialpartnerschaftlich organisierten Ländern entstanden. Der Ansatz des „ganzen Menschen“ besagt, dass Lohnabhängige zugleich auch Eltern, KonsumentInnen und PatientInnen sind. Auf der Konsumebene trägt auch der digitale Kapitalismus dazu bei, die bisher künstlichen Grenzen in jedem von uns aufzulösen, wenn KundInnen als unbezahlter MitarbeiterInnen oder „Prosumer“ ausgenutzt werden. Dies könnte dazu beitragen die gewollte Trennung im Selbst- und Menschenbild zu überwinden, die dem Kapitalismus dadurch hilft, dass wir in unserer Rolle als ProduzentInnen davon abstrahieren, zugleich KundInnen und PatientInnen etc. „unserer“ Produkte und Dienstleistungen zu sein.

Wandel und Erweiterung von Arbeitskämpfen

Innerhalb alltäglicher Arbeitskämpfe zu berücksichtigen, dass ProduzentInnen auch KundInnen sind, verändert nicht nur den gesellschaftlichen Anspruch an das Produkt, sondern auch Form und Inhalt der Arbeitskämpfe. Berühmt ist das Beispiel der französischen KollegInnen im Nah- und Fernverkehr. Statt diesen lahmzulegen, verzichteten sie auf die Fahrscheinkontrollen und debattierten über Gratismobilität. Vergleichbar ist die Idee, den Armen den Strom wieder frei zu schalten, um ihn PolitikerInnen abzudrehen. Aktuell will die französische Regierung schärfere Repressionen gegen MigrantInnen durchsetzen, doch einige Gewerkschaften verweigern ihre Beteiligung daran. So wie es früher Arbeitsamtsangestellte verweigerten, Erwerbslose zu schikanieren.

Derart positive Beispiele „ganzheitlichen“ Handelns gibt es nicht nur in Frankreich. In den letzten Jahren verstärken sich Kämpfe gegen Privatisierung im Gesundheitswesen. Streiks unabhängig von den eigenen Arbeitsbedingungen und Entlassungen gab es z.B. in Kenia durch KrankenpflegerInnen und ÄrztInnen, aber auch auf Malta, in Portugal oder in Großbritannien. In Polen traten kürzlich ÄrztInnen für ein besseres Gesundheitssystem sogar in den Hungerstreik. Ähnliche „unegoistische“, gesellschaftspolitisch orientierte Arbeitskämpfe gibt es auch für ein gutes öffentliches Bildungswesen in Mexiko, Italien, Argentinien, Kolumbien und Portugal.

Solidarisierungsprozesse können auch über die „eigene“ Branche hinausweisen, wenn z.B. Gewerkschaften zum Streik gegen das „Hartz IV“-Modell der finnischen Rechtsregierung aufrufen, die griechische besetzte Fabrik VIO.ME die Zweigstelle der Sozialklinik der Solidarität von Thessaloniki auf ihrem Gelände beherbergt oder der Gewerkschaftsbund UGTT in Sfax zum Proteststreik gegen die Flüchtlingsjagd der tunesischen Marine mobilisiert und die spanische CGT ein Gelände besetzt, das für ein neues Flüchtlingsgefängnis vorgesehen ist. Die alternative Gewerkschaft leistet in Israel Widerstand gegen Massenabschiebungen afrikanischer Flüchtlinge, während die New Yorker Taxigewerkschaft streikte, als Zehntausende an US-Flughäfen gegen Trumps Einreiseverbot für Muslime protestierten.

Solche solidarischen Kämpfe werden durch die sozialen Bewegungen erwidert: So z.B. in Argentinien, wo ein riesiger Solidaritätsaufmarsch der Bevölkerung den geplanten Überfall der Polizei auf die besetzte Druckerei AGR-Clarín in Buenos Aires verhinderte. Oder im April 2017 als auch die sozialen Bewegungen für den Generalstreik in Brasilien mobilisierten. Die sozialen Bewegungen in Deutschland stehen hier keinesfalls zurück. Auch aufgrund der Passivität der DGB-Gewerkschaften unterstützen sie viele Arbeitskämpfe. So geschehen bei der Betriebsbesetzung des Fahrradwerkes Bike Systems in Nordhausen (»Strike Bike«), bei den Streiks bei Neupack in Hamburg und Rotenburg – oder aktuell immer noch an den einzelnen Standorten von Amazon. Natürlich darf dabei nicht verschwiegen werden, dass sich viele Gewerkschaftsmitglieder ohne die Unterstützung ihrer Gewerkschaften an sozialen und solidarischen Aktionen beteiligen.

Identitätspolitik und Klassenkampf

Die aufgeführten Beispiele machen deutlich, dass das Verbinden der eigenen Rollen und Funktionen im individuellen Selbstbild auch den postulierten Widerspruch zwischen sogenannten Identitätspolitiken und Klassenkämpfen verschwinden lässt. Klassenauseinandersetzungen finden, nicht nur in der Wohnungsfrage, auch im Reproduktionsbereich statt. Kämpfe um Anerkennung, Teilhabe und Mitsprache sind auch im Kontext ökonomischer Ausbeutungsverhältnisse zu verstehen und zu führen.

Wenn die Berücksichtigung jeweils konkreter und teilweise durchaus unterschiedlicher Interessen oder Identifikationen als „Identitätspolitik“ erscheint, so kann es helfen, punktuell unterschiedliche Interessen zu identifizieren — um sie zu akzeptieren. Wenn es gilt, den identifizierten gemeinsamen Gegner zu stellen, unterstelle ich jedoch dieser Bezeichnung ein drohendes Spaltungspotenzial. Auch als Frau und Migrantin bleibe ich (mehrfach ausgebeutete) Lohnabhängige.

Demgegenüber: Wenn wir Lohnabhängigkeit als den größten gemeinsamen Nenner akzeptieren, der über die Bedingungen der Lohnarbeit oder die Chancen auf dem Arbeitsmarkt hinaus auch unsere Position und Lebenslage als KundInnen, MieterInnen, PatientInnen und BeziehungspartnerInnen diverser Geschlechter und Nationalitäten definiert, dürfte es uns kaum noch gelingen, beim Kampf um bestmögliche Gesundheitsversorgung im Krankheitsfalle z.B. gegen die Interessen der im Gesundheitswesen arbeitenden Menschen zu agieren. Oder andersherum: Wenn der Kapitalismus alle Lebensbereiche durchdringt und prägt, so sind auch alle Kämpfe gegen Diskriminierung nach Herkunft, Geschlecht und Religion internationalistische, antinationalistische und antikapitalistische Kämpfe.

Linkssein im Alltag …

Wenn Kapitalismus tagtäglich durch unsere Akzeptanz und unser Mitmachen reproduziert wird, kann diese Reproduktion kapitalistischer Herrschaftsverhältnisse in allen Lebensbereichen verweigert und gestört werden. Es setzt „Linkssein im Alltag“ voraus, als Aufhebung des Widerspruchs zwischen der politischen Orientierung nach Feierabend oder am Wochenende und einem bestenfalls unpolitischen Alltagsverhalten in Ausbildung, als Lohnabhängige oder als KonsumentIn. Es geht dabei um Rücksichtnahme und um den Respekt anderen Mitmenschen der eigenen Klasse gegenüber.

Und damit geht es um Alltagswiderstand und Ungehorsam. „Jeder ist seines Glückes Schmied“ – das Motto der derzeitigen Ellenbogengesellschaft, die immer mehr auch gesetzlich betoniert wird, muss im alltäglichen Umgang miteinander widerlegt und bekämpft werden. Dieses „neoliberale“ Motto führt dazu, dass z.B. Menschen, die am Arbeitsplatz vor dem Vorgesetzten kriechen, nach Feierabend die Brötchenverkäuferin und nicht den Chef der Bäckerei für lange Wartezeiten niedermachen. Oder allzu viele vermeintlich sichere „BesitzerInnen“ „ihres“ Arbeitsplatzes erst aufschreien, wenn sie selbst von den Hartz-Gesetzen betroffen sind. Und viele radikale Linke merken nicht, wie sie auf dem Weg zur Uni, in der Kantine oder im Supermarkt anderen Lohnabhängigen begegnen und ihre Arbeit respektlos konsumieren. Sich demgegenüber als KundIn zugleich als Lohnabhängige zu begreifen ist ein kleiner, Akt der Selbstermächtigung, der Regelverletzung – und ein Angriff auf den Kapitalismus durch die Verletzung von dessen Spielregeln.

Um die Verweigerung kapitalistischer Spielregeln kommen aber spätestens mittelfristig auch sozialpartnerschaftlich orientierte Gewerkschaften nicht herum, wurde doch die Sozialpartnerschaft längst einseitig von oben gekündigt. Wollen sie sich nicht an überholten und unsolidarischen Wettbewerbskorporatismus klammern, müssen sie ihre Selbstbeschränkung auf kuschelige Umverteilungspolitik aufgeben und für den ganzen Menschen und gegen den ganzen Kapitalismus kämpfen. Und für den ganzen lohnabhängigen Menschen kämpfen heißt natürlich, gegen die Lohnabhängigkeit zu kämpfen. Oder für den Frieden statt für Arbeitsplätze in der Rüstungsindustrie, für die Umwelt statt für die Braunkohle.

Auch zögernden Gewerkschaften sollten die Vorteile angesichts zunehmend zersplitternder Betriebseinheiten einleuchten: Organisierung im Betrieb wirkte sich schon immer zu wenig außerhalb der Lohnarbeit aus, gewerkschaftliche und soziale Organisierung im Stadtteil kann hingegen in den Betrieb hinein wirken und die Spaltung der Belegschaften aufheben helfen. Inklusive Solidarisierung wiederum trägt zur Verbreitung der Kämpfe bei, was wir dringend brauchen, wenn wir die Klassenpolitik nicht den „weißen, hart arbeitenden Männern“ des Trump oder der AfD überlassen wollen.

Ganzheitliches Menschenbild und entsprechend ganzheitliche Kampfformen verpuffen jedoch wirkungslos gegenüber dem allumfassenden globalen Kapitalismus und weltweit um sich greifenden Rassismus und Nationalismus, wenn sie nicht bedingungslos für alle sind — das Gegenteil jeglicher Standortpolitik.

… statt Akzeptanz kapitalistischer Hierarchien

Zu den auch bereits auf nationales Ebene wirkenden und bekannten Spaltungslinien, gesellen sich zwei weitere, zu denen leider sogar auch Gewerkschaftslinke neigen: Akzeptanz kapitalistischer Hierarchien und Fetischisierung der Lohnarbeit.

Wenn wir zulassen, Menschen nach ihrer funktionalen Wertschätzung, nach kapitalistischen Verwertungskriterien zu bewerten, akzeptieren und reproduzieren wir Hierarchien, die sich eben nicht nach gesellschaftlicher Bedeutung einer Tätigkeit richten. Wenn Manager der Rüstungsindustrie höhergestellt sind, mehr verdienen, eine bessere Gesundheitsversorgung genießen, länger leben und höhere Rente beziehen als eine Pflegekraft, ist dies augenfällig. Potenzielles Spaltungsinstrument — und leider weltweit anzutreffen — ist auch der unsolidarische Umgang mit dem Begriff „Privileg“. Wenn er auf Belegschaften oder Berufsgruppen angewandt wird, die höhere Löhne oder bessere Arbeitsbedingungen „genießen“, wird dabei nicht nur vergessen, dass diese erkämpft wurden. Oft wird damit auch zugelassen, dass diese „Privilegien“ weggenommen werden, statt Kämpfe dagegen zu unterstützen und hohe Standards für alle zu fordern. So hat im letzten Jahr die spanische Regierung – erfolglos – versucht, den Kampf der spanischen Docker als Verteidigung von Privilegien zu isolieren. Es ging dabei um Privilegien wie ein einigermaßen ausreichender Lohn, Jahresurlaub und Krankenversicherung.

Fetischisierung der Lohnarbeit meint eine breit vertretene Position, die aus der Not der Lohnabhängigkeit eine alternativlose Tugend gemacht hat. Die Verteidigung „hart“ arbeitender Menschen — in Verbindung mit ihrer Schwester, der Illusion der Leistungsgerechtigkeit — hat nicht nur dem Widerstand gegen die Hartz-Gesetze das Genick gebrochen und Schikanen gegen Erwerbslose ermöglicht. Sie ist im Kern ausgrenzend gegen alle, die keine „Helden der Arbeit“ sein können oder wollen. Sie richtet sich gegen Menschen in nicht lohnförmigen Arbeitsformen und potenziell gegen alles Andere. Globale Solidarität und Verteilungsgerechtigkeit muss aber auch feministisch, antirassistisch – und internationalistisch erkämpft werden – auch gegen rassistische und nationalistische „Konkurrenz“-Gewerkschaften.

Für das Neue an der „neuen“ Klassenpolitik

Es ist begrüßenswert, wenn sich radikale Linke und soziale Bewegungen der Klassenfrage, sprich den lohnarbeitenden Menschen zuwenden. Wie hoffentlich schlüssig dargelegt, kommt es dabei darauf an, dass dieses Linkssein im eigenen Alltag und in der eigenen Erwerbstätigkeit fortgesetzt wird. Wie auch die berufstätigen Lohnabhängigen ihre Rollen als PatientIn, KundIn ebenso wenig am Betriebseingang abgeben sollten, wie ihre Lage in der Gesellschaft als Frau, StudentIn oder MigrantIn.

Die weitaus größeren Defizite liegen leider noch bei den Gewerkschaftsapparaten, die — stark verkürzt formuliert — nicht mitbekommen haben, dass der Klassenkompromiss von oben, durch das Kapital gekündigt wurde. Sie bekommen die Konsequenzen oft genug zu spüren, wenn die Arbeitgeber durch das berühmte „letzte Mittel“ Streikandrohung nicht mehr zu beeindrucken sind. Auch das zeigt: Es gibt kein Zurück zu den vermeintlich goldenen 1970er Jahren, die auch nur für den männlichen deutschen Facharbeiter vergoldet schienen.

Und ein letzter wichtiger Aspekt, der den Gewerkschaftsapparaten nicht oft genug nahegelegt werden kann: Auch die Art der Kämpfe und ihre organisatorische Verfasstheit muss die Gesellschaft widerspiegeln, die wir anstreben und sie dabei einüben. Mit undemokratischen, hierarchischen und gehorsamen Stellvertreterstrukturen kann die Pluralität von Bewegungen nicht als Partner (schon gar nicht gleichberechtigter) gewonnen werden, so geht es wirklich nur zurück in die 1970er – oder den sog. Rechtspopulisten in die Arme. Horizontale Solidarität aller Lohnabhängigen weltweit ist hingegen die beste Medizin gegen Faschismus, der damit beginnt, den Klassenkampf zwischen oben und unten zu negieren und zur Seite zu treten.

Wir meinen: Grundlegende Versäumnisse in der Vergangenheit erfordern nicht unbedingt eine »Neue Klassenpolitik«, es reicht eine, die ihren Namen verdient. Denn jeder Alltag kann der Tag sein, an dem die Revolution beginnt.

 

 

Der Artikel erschien zuerst auf prager frühling - Magazin für Freiheit und Sozialismus http://www.prager-fruehling-magazin.de/ und wird mit freundlicher Genehmigung hier gespiegelt.

Mag Wompel ist bei LabourNet Germany aktiv. Dieser Text ist dort in leicht geänderter Fassung nachzulesen. LabourNet finanziert sich fast ausschließlich aus Spenden.

 Bitte unterstützt den Verein nach Möglichkeit mit einem finanziellen Beitrag. 

Bild: Nick Normal (CC BY-NC-ND 2.0)

 

 Anmerkung:

[1] Wobei dies global gesehen sehr viel weniger geschieht als oft behauptet.