Durch ALG-II-Sanktionen werden weiterhin tausende Menschen in Existenznot geraten – Sanktion ist zugleich Strafe und Legitimation

Zuletzt lehnte Anfang Oktober 2015 der Bundestag mit der Mehrheit der Regierungskoalition die Abschaffung von Sanktionen bei dem HARTZ -IV-Bezug ab. Auch die Gewerkschaften konnten sich bisher nicht dazu durchringen, sich eindeutig gegen die Sanktionspraxis zu positionieren.

Das ändert aber nichts daran, dass die Sanktionen weiterhin verfassungsrechtlich und ethisch äußerst umstritten bleiben.

Trotz aktueller Diskussion, in der Vorschläge von der vollständigen Abschaffung der Sanktionen in HARTZ-IV, über die Herausnahme von einzelnen Personengruppen bis hin zu gedämpften Sanktionierungen, werden die Jobcenter auch weiterhin Sanktionen verhängen, wenn die Erwerbslosen gegen ihre Pflichten verstoßen.

Das geschah im vergangenen Jahr rund 953.000 mal. Das waren fast 14.000 Strafen mehr als im Vorjahr, wie die Bundesagentur für Arbeit (BA) kürzlich mitteilte. Demnach waren ständig rund 3,1 Prozent der 4,3 Millionen erwerbsfähigen Leistungsberechtigten, also knapp 140.000 Menschen, sanktioniert. Tatsächlich mussten 2017 bundesweit rund 420.000 Menschen teils mehrfach jeweils drei Monate mit gekürzter Grundsicherung leben. Das betraf etwa jeden zehnten Leistungsberechtigten zwischen 15 und 65 Jahren.

Es wird aber ein Scheingefecht mit der Abschaffung der Sanktionen im Rahmen der HARTZ- Gesetzgebung geführt. Ohne HARTZ-IV gibt es keine Sanktionen und ohne Sanktionen gibt es kein HARTZ-IV, denn Sanktion ist immer Strafe und Legitimation zugleich. Einmal wird bestraft und zum anderen den Menschen gezeigt, dass der Staat dazu das Recht hat, dass er das tun darf. Ohne Sanktionen würde das HARTZ-IV-System seine Effektivität und Abschreckung als Mittel zur Lohnsenkung verlieren.

Fallen Sanktionen weg, fallen auch die Strafen und die Legitimität von HARTZ-IV weg.

Sozialberatungsstellen berichten zunehmend von Menschen, die aufgrund der Sanktionen in Nöte geraten, die ihre Existenz bedrohen oder von jüngeren Ratsuchenden, die eine Zeit lang obdachlos und ganz unten angelangt waren. Wenn man sich deren Biografie genauer anschaut, sind viele von ihnen Opfer der Sanktionen, die von den Jobcentern auf der Grundlage des Sozialgesetzbuch II (SGB II) ausgesprochen wurden. Da eine Überlappung der Sanktionszeiträume möglich ist, können die zusammengerechneten Sanktionen bewirken, dass gar keine Auszahlung mehr erfolgt und diese jungen Menschen über keinerlei Einkommen mehr verfügen.

Tatsächlich mussten 2017 bundesweit rund 420.000 Menschen teils mehrfach jeweils drei Monate mit gekürzter Grundsicherung leben. Das betraf etwa jeden zehnten Leistungsberechtigten zwischen 15 und 65 Jahren.

Auch wird das Mittel in den Bundesländern unterschiedlich streng angewendet. Am härtesten straften Berliner Jobcenter. In der Hauptstadt lag die Sanktionsquote im Dezember bei 5,3 Prozent, gefolgt von Sachsen (3,8 Prozent) sowie Thüringen, Sachsen-Anhalt, Rheinland-Pfalz und Hamburg mit je 3,4 Prozent. Nur jeder zehnte Sanktionierte hatte indes eine Maßnahme oder einen Job abgelehnt oder abgebrochen. In knapp 83.400 Fällen attestierten Jobcenter einen Verstoß gegen die Eingliederungsvereinbarung, beispielsweise, dass weniger Bewerbungen nachgewiesen wurden als verlangt. Mehr als drei Viertel aller Sanktionen (733.800) verhängten Jobcenter hingegen wegen eines versäumten Termins.

In den Jahren 2009 bis 2017 ist die Zahl der jährlich neu ausgesprochenen Sanktionen um 300.000 auf rund eine Million angestiegen.

Im Paragraf  31 des SGB II ist regelt, welche Strafmaßnahmen für welche Verfehlungen vorgesehen sind, mit fatalen Auswirkungen.

Bei den unter 25-jährigen liegt der Anteil „Sanktionierten“ bei 26 Prozent und hier wird die Frage der Legitimität der Strafmaßnahmen für diese Gruppe der Leistungsbezieher besonders deutlich. Bei den jungen Leuten will man verhindern, dass Arbeitslosigkeit besonders schwere Folgen für das weitere Erwerbsleben des betreffenden Menschen hat, die auch langfristig zu hohen gesellschaftlichen Kosten führen können.

Die einzelnen Regelungen sehen vor, dass Sanktionen bei Pflichtverletzungen und Meldeversäumnissen möglich sind:

Pflichtverletzungen

Zu den Pflichtverletzungen gehören beispielweise

  • Weigerung zur Erfüllung der Pflichten, die in der Eingliederungsvereinbarung festgelegt wurden
  • nicht genug Bewerbungen schreiben
  • Maßnahmen zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt dürfen nicht abgelehnt werden. Ablehnung, Abbruch oder Vereitelung der Aufnahme einer zumutbaren Arbeit, Ausbildung, Arbeitsgelegenheit oder geförderten Arbeit
  • Ablehnung, Abbruch oder Veranlassung für den Abbruch einer zumutbaren Maßnahme zur Arbeitseingliederung.

Weitere Minderungstatbestände sind beispielsweise eine zielgerichtete Verarmung oder Forstsetzung unwirtschaftlichen Verhaltens und Sperrzeiten.

Für die unter 25-jährigen wird das Arbeitslosengel II bei einer Pflichtverletzung auf die Bedarfe für Unterkunft und Heizung beschränkt, bei der ersten Wiederholung wird die Regelleistung ganz gestrichen. Nach Ermessen kann wieder für Unterkunft und Heizung gezahlt werden, wenn der junge Mensch sich bereit erklärt, seinen Pflichten nachzukommen.

Meldeversäumnisse

  • Sanktionen für ein Meldeversäumnis können ausgesprochen werden, wenn der Leistungsberechtigte einen Termin beim Jobcenter oder beim ärztlichen oder psychologischen Dienst ohne wichtigen Grund versäumt. Hier werden für drei Monate um zehn Prozent und bei weiterem Verstoß weitere zehn Prozent für weitere drei Monate einbehalten.
  • Da eine Überlappung der Sanktionszeiträume möglich ist, können auch die zusammengerechneten Sanktionen keine Auszahlung mehr bewirken. Auch wenn man die Meldung nachholt, führt das nicht zur Beendigung des Sanktionszeitraums. Die Meldeversäumnisse haben den größten Anteil mit 68 Prozent an den Sanktionen.

Mittlerweile wehren sich die Betroffenen gegen die menschenfeindlichen Sanktionen. Der Berliner Ralph Boes ist in den Hungerstreik getreten und mehr und mehr Erwerbslose organisieren sich und gehen gegen die Sanktionen auf die Straße, wie die Initiative „AufRecht“ es tut. Sie machen darauf aufmerksam, dass vom „Fördern und Fordern“ nur noch das „Fordern“ übrig geblieben ist, auch weil die Mittel für Eingliederungshilfen fast halbiert wurden.

Das Sozialgericht in Gotha ist seit einiger Zeit schon der Meinung, dass einem HARTZ-IV-Bezieher das Arbeitslosengeld nicht gekürzt werden darf, weil er ein Arbeitsangebot abgelehnt hat und erklärt die bisherige Praxis als verfassungswidrig, weil sie die Menschenwürde des Betroffenen antastet, sowie Leib und Leben gefährden kann. Das Gericht ist der Auffassung, dass die im Sozialgesetzbuch festgeschriebenen Sanktionsmöglichkeiten der Jobcenter gleich gegen mehrere Artikel des Grundgesetzes verstoßen. Das Gothaer Gericht ist bundesweit das erste Gericht, das die Frage aufwirft, ob die Sanktionsmöglichkeiten der Jobcenter mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Es fragt, ob auch neben der Verletzung der Gewährleistungspflicht des Existenzminimums und damit auch des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit, gleichfalls noch die grundgesetzlich garantierte Berufsfreiheit durch die Sanktionen ausgehebelt wird.

Der Aspekt der grundgesetzlich garantierten Berufsfreiheit hat in den seit Jahren geführten Diskussionen um die Sanktionsmechanismen praktisch so gut wie nie eine Rolle gespielt. Die Menschen, die im HARTZ-IV-Bezug sind, stehen permanent unter Druck möglicher Sanktionen, weil jeder Vermittlungsvorschlag des Jobcenters ein „nicht ablehnbares Angebot“ sein kann. Die Freiheit der Berufswahl gibt es für sie nicht. Das Bundesverfassungsgericht muss nun entscheiden.

Sanktion ist immer Strafe und Legitimation zugleich. Einmal wird bestraft und zum anderen den Menschen gezeigt, dass der Staat dazu das Recht hat, dass er das tun darf.

Ohne Sanktionen würde das HARTZ-IV-System seine Effektivität und Abschreckung als Mittel zur Lohnsenkung verlieren. Fallen Sanktionen weg, fallen auch die Strafen und die Legitimität von HARTZ-IV weg.

Auch deshalb gibt es für das Ende der Sanktionen auf der politischen Eben keine Mehrheiten und das derzeitige Trommeln wird schon bald wieder verstummen.

 

 

Quellen: tacheles, Sozialgericht Gotha, BA,

Bild: Wilfried Kahrs (WiKa) / QPress