Offene Ganztagsschule (OGS): Bei der bildungspolitischen Fehlkonstruktion wird über 20 Jahre lang der Mangel verwaltet und armen Kindern der Bildungszugang bewusst versperrt

Anfang dieses Jahrhunderts hatte man die Offene Ganztagsschule (OGS) als Übergangslösung zum gebundenen Ganztag (Schulpflicht am Nachmittag) eingerichtet. 20 Jahre danach gilt die Übergangslösung immer noch. Böse Zungen behaupten, dass dies auch so gewollt sei, um das dreigliedrige Schulsystem mit seinen perfekten Selektionsmechanismen aufrecht zu halten und den Kindern der Unterschicht eine chancengleiche Bildung zu verwehren.

Es gibt immer noch keine landesweiten Regeln oder Standards z.B. zu Kosten, Betreuungsschlüssel, Qualifikation des Betreuungspersonals, Konzept, Räume und Verpflegung. Alles ist von der Kommune oder dem jeweiligen Träger der OGS und deren finanziellem Zuschuss abhängig. Die Kommunen schließen mit den freien Trägern Leistungsvereinbarungen, die in der Regel nur den Umfang der Betreuung festschreiben, den Trägern aber das programmatische und personelle Planen komplett überlässt.

Einen Rechtsanspruch auf einen Platz ihrer Kinder in der Tagesbetreuung, wie in den Vorschuleinrichtungen, haben die Eltern in der Grundschule erst im Jahr 2025. Der geplante Rechtsanspruch auf einen Ganztagsplatz soll dann stufenweise eingeführt werden und man hofft, bis zum Jahr 2029, so das Ziel, ist der Anspruch dann jahrgangsweise „aufwachsend“ in ganz Deutschland umgesetzt.

Bis dahin wird man weiter mit diesem pädagogischen Modell vor sich hin eiern, auf Kosten der Kinder, Eltern und der Beschäftigten im Erziehungsdienst.

Im gesamten Bundesgebiet besucht jedes zweite Kind eine Betreuung in Ganztagsgrundschulen bei einem Bedarf von 73 Prozent der Familien. In Zahlen ausgedrückt, fehlen derzeit rund 645.000 Ganztags-Betreuungsplätze für Grundschulkinder in dem antiquierten pädagogischen Modell.

Konzipiert hatte man Anfang dieses Jahrhunderts die Offene Ganztagsschule (OGS) als Übergangslösung zum gebundenen Ganztag (Schulpflicht am Nachmittag), aber fast 20 Jahre danach gilt die Übergangslösung immer noch.

Schon zu Beginn stand nicht der Ausbau der öffentlichen Bildung in den Tageseinrichtungen unter Federführung der Jugendhilfe und mit Standards wie im Tagesstättenbereich im Vordergrund, sondern, dass möglichst billig, möglichst viele Kinder „versorgt“ werden.

So wurde eine bildungspolitische Konstruktion gewählt, bei der Probleme, besonders für die pädagogischen Fachkräfte, Kinder und Eltern vorprogrammiert sind.

Skandalös ist, dass einerseits in den vergangenen Jahren die Zuschüsse des Landes nur selten erhöht wurden und der Kostenentwicklung hinterher liefen, andererseits die Städte in einzelnen Jahren Mittel im zweistelligen Millionen-Euro-Bereich erst gar nicht vom Land abgerufen haben – die Städte rechtfertigen sich damit, dass mit dem U3-Ausbau die OGS vernachlässigt werden musste! So ist es kein Wunder, dass vor allem bei den freien Anstellungsträgern bei den Personalkosten gespart wird. Mit der Folge, dass die Ferienbetreuung nicht mehr gewährleistet ist, das Angebot eingeschränkt, die Fluktuation des Personals immer höher und der Arbeitsplatz in der OGS immer unattraktiver wird.

Aktueller Stand der Versorgung am Beispiel Dortmund

Schon seit Jahren hat der Rat der Stadt Dortmund Geld für den weiteren Ausbau von OGS-Plätzen bereitgestellt, aber die vorgegebene Zielmarke zur Versorgung der Kinder nicht erreicht, auch weil in vielen Grundschulen kein Platz für eigene Räume der OGS ist.

Beim Mittagessen muss seit zwei Jahrzehnten wegen mangelnder Räumlichkeiten im „Schichtverfahren“ gegessen werden und das Raumproblem wird erstmals bleiben: An mehr als der Hälfte der Schulen, die die Verwaltung überprüfte, sind größere Um- oder Anbauten erforderlich. Der Zeitrahmen für Bauprüfung und Bauanträge liegt für Neubauten bei  drei Jahren und aufgrund der aktuellen Lage in der Bauwirtschaft ist mit nicht übersehbaren zeitlichen Verlängerungen der Fertigstellung der Gebäude und mit erheblichen Kostensteigerungen zu rechnen.

Hier wird von der Stadt Dortmund als Notlösung die Kurzbetreuung bis 14 Uhr empfohlen – derzeit sind schon über 1.100 Kinder in dieser kurzen Betreuung an 24 Schulen, für die berufstätigen Eltern ein Unding.

Auch bei den Bedarfszahlen gibt es Unstimmigkeiten: Die Verwaltung geht bei ihren über die Schulen ermittelten Bedarfe zwischen jährlich 11.150 und 11.500 Plätzen aus. Die Stadtelternvereinigung empört sich seit Jahren darüber, dass die Zahl der benötigten Plätze weit höher liegt und die Schulen von vorneherein die Hürden für eine Bewerbung um einen Platz bewusst zu hoch ansetzen.

Zuletzt hatte man 2019 ein Ausbauprogramm mit eigenen finanziellen Kommunalmitteln beschlossen, das pro Jahr 900 zusätzliche Plätze ermöglichen sollte. Doch wuchs die Zahl der OGS-Plätze im vergangenen Schuljahr nur um 481 an.

Die erreichte Versorgungsquote liegt in Dortmund mit den aktuell 12.333 Plätzen (Februar 2022) lediglich bei 58,4 Prozent und da drängt die Zeit. Denn Bund und Länder haben beschlossen, wie bei den Kitas, auch für Kinder an Grund- und Förderschulen, einen Ganztagsplatz vorzuhalten.  Das gilt für alle Kinder, die bis zum Jahr 2026 eingeschult  werden, d.h. alle Jahrgänge müssen dann bis 2029 voll versorgt werden. Allgemein wird davon ausgegangen, dass allerdings nur eine Bedarfsdeckung von 80 Prozent erreicht werden muss, um den Rechtsanspruch erfüllen zu können, weil angeblich 20 Prozent der Eltern keinen Bedarf haben. Die 80 Prozent Bedarfsdeckung beläuft sich in Zahlen ausgedrückt bei rund 20.000 Kindern im entsprechenden Alter auf 16.000 Plätze, das macht einen Fehlbetrag von knapp 4.000 Plätzen.

Finanziell gesehen hangelt man sich von Jahr zu Jahr mit dem Sponsoring des Dauerprovisoriums entlang und wieder einmal ist das zigste Förderprogramm aufgelegt, um die größten Mängel zu verkleinern. Dieses Mal kommt das Geld vom Bund, daraus hat die Stadt Dortmund 4.133.813,00 Euro genehmigt bekommen. Das Gros des Geldes wird in die maue Infrastruktur der OGS gesteckt, dort, wo es auch am heftigsten brennt, wie dem Ausbau der Betreuungsräume und Küchen, sowie den dringlichsten Baumaßnahmen.

Fehlende gesetzliche Grundlagen

Die Grundlage für die Arbeit und Rahmenbedingungen der OGS bilden lediglich Erlasse und Förderrichtlinien, jeder Anstellungsträger kann in der tagtäglichen Praxis machen, was er will.

In der Rahmenvereinbarung der Stadt Dortmund steht: „Schulen und Jugendhilfe bilden eine Verantwortungsgemeinschaft zur Umsetzung der vereinbarten Maßnahmen, die zweckmäßig und wirtschaftlich und in ihrer Ausgestaltung nach Art, Umfang und Qualität darauf ausgerichtet sind, Kindern und deren Eltern ein bedarfsgerechtes, differenziertes und integriertes Ganztagsangebot auf der Grundlage des jeweiligen Schulprogramms anzubieten“.

Es geht also um eine „Verantwortungsgemeinschaft“, die in der Praxis aber kaum existiert.

Im Gegenteil, es besteht dringender Handlungsbedarf, um die Arbeitssituation der pädagogischen Fachkräfte zu verbessern, im Einzelnen z.B. bei

  • Arbeitszeiten, Urlaubsregelungen
  • Personalschlüssel
  • Pausenregelung
  • körperliche und psychische Belastung
  • räumliche Situation und Ausstattung
  • Transparenz und Informationsfluss
  • Arbeits- und Gesundheitsschutz
  • Zuständigkeiten Schule – freie Träger
  • Regelung Fach- und Dienstaufsicht
  • konzeptionelle Weiterentwicklung
  • Koordination und Kooperation
  • Mitbestimmung und Mitwirkung
  • Einhaltung von Mindeststandards
  • Supervision und Weiterbildung

und Regelungen für Honorarkräfte.

Diese Rahmenbedingungen in Verbindung mit zunehmender Belastung und unangemessener Entlohnung führen mit dazu, dass der Beruf der Erzieherinnen und Erzieher immer unattraktiver wird. Hinzu kommt die Diskussion um den Einsatz von langzeitarbeitslosen Menschen und die Kurzumschulung von früheren Einzelhandelskaufleuten, um die Fachkräftelücke zu schließen. Eine Diskussion, die das Berufsbild der Erziehungsfachkräfte schon jetzt nachhaltig beschädigt hat.

Umfragen geben der Mangelverwaltung recht

Eine Studie des Deutschen Instituts für Pädagogische Forschung, an der auch das Deutsche Jugendinstitut, das Institut für Schulentwicklungsforschung der Technischen Universität Dortmund sowie die Justus-Liebig-Universität Gießen mitgewirkt haben, kam schon vor einigen Jahren zu dem Schluss, dass viele Ganztagsschulen die pädagogischen Ansprüche, vor allem in der Nachmittagsbetreuung, nicht erfüllen.

Das ist schade, weil gerade Ganztagsschulen und deren Angebote dazu beitragen können, die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen im psychosozialen Bereich zu unterstützen.

Insbesondere bei der Leseförderung und dem sozialen Lernen kommen die Wissenschaftler zu dem Ergebnis, dass die Persönlichkeitsentwicklung durch die Ganztagsschule nur dann positiv beeinflusst werden kann, wenn die pädagogische Qualität der Angebote stimmt.

Gerade in den Großstädten mangelt es aber an der räumlichen Ausstattung, dem richtigen Personal und adäquate Kooperationspartner stehen dort nicht immer zur Verfügung.

Den meisten Ganztagsschulen fehlt überhaupt ein Konzept, so das Fazit der Studie.

Der WDR hatte einen digitalen Fragebogen an alle Grundschulen in NRW geschickt und um eine Bewertung der OGS gebeten. Von insgesamt 2.812 Schulen haben sich 754 Grundschulleiter an der Umfrage beteiligt. Auch hier ein erschreckendes Ergebnis: Es fehlt an qualifiziertem Personal, Räumen und Geld. Das Fazit der Umfrage nennt der WDR so: Gute OGS ist Glückssache.

Da die gesetzlichen Grundlagen fehlen, wird häufig mit Erlassen gearbeitet.

Die freiwillige Nachmittagsbetreuung soll laut Erlass ein hochwertiges und umfassendes Bildungs- und Erziehungsangebot liefern, für individuelle Förderung und Chancengleichheit sorgen. Eingelöst hat die Politik dieses Versprechen bisher nicht, ein kind- und elterngerechtes Bildungsangebot für Kinder und Eltern anzubieten.

Während es im Vorschulbereich der Jugendhilfe einen Rechtsanspruch auf einen Platz mit gleichen Standards gibt, existiert in der OGS nichts Vergleichbares. Die „Verantwortungsgemeinschaft“ hat in der Praxis schon längst ausgedient – hier muss der Gesetzgeber ran und etwas Grundsätzliches ändern.

Schulen sind keine Orte des sozialen Glücks

Wer sich die Schulen von innen anschaut, sieht schnell, dass Schulen keine Orte des sozialen Glücks für Kinder sind, sondern mit notdürftigen Mitteln betriebene Institutionen, die junge Menschen arbeitsmarkttauglich machen sollen und jede Menge von ihnen aussondert, da ohnehin nicht genug bezahlte Arbeit vorhanden ist.

Schulen sind Orte in einem katastrophalen baulichen Zustand, schlechter Ausstattung und mit kontinuierlichem Personalmangel, an denen Kinder verwahrt und dem Leistungsdruck und Sozialkampf ausgesetzt werden.

Das Provisorium Offene Ganztagsschule sollte als Übergangslösung zum gebundenen Ganztag, mit der Schulpflicht am Nachmittag, fungieren – warum richtet man nicht gleich alle Schulen als integrierte Gesamtschule aus, von denen es heißt: Sie ist eine Schule, in der alle Schüler, ob mit Hauptschul-, Realschul- oder Gymnasialempfehlung, gemeinsam unterrichtet werden. Ziel der integrierten Gesamtschule ist es, dass die Schüler das gemeinsame Lernen und den sozialen Umgang miteinander erleben und zugleich ihrem individuellen Leistungsvermögen gemäß unterrichtet und gefördert werden.

 

 

 

 

 

Quellen: Stadt Dortmund, WAZ; WDR

Bildbearbeitung: L. N.