‘Meint Ihr, die Russen wollen Krieg’ oder verklärt die ‘traditionelle Linke’ das Russlandbild der Deutschen?

Von Conrad Schuhler

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat nicht nur die Nato und den Westen zu mächtigen Hilfsaktionen für die ukrainische Armee und zu gewaltigen Sanktionen gegen die Wirtschaft Russlands bewogen, er hat zur gleichen Zeit eine ideologische Offensive gegen die „traditionelle Linke“ ausgelöst, die diese endgültig mundtot und politikunfähig machen soll. Die Vorwürfe kommen dabei nicht nur vom Lager der Mainstream-Medien und -Parteien, sie rühren auch von FreundInnen und GenossInnen im Lager der Friedensbewegung und der gesamten Linken. Sie beziehen sich vor allem auf diese zwei Punkte:

  • Wir (ich begreife die Formel „traditionelle Linke“ als auch auf mich und meinesgleichen gemünzt) würden Opfer und Täter vertauschen. Wir würden die Invasion als quasi den Russen aufgezwungen hinstellen. Damit würden wir die Invasion und die Kriegsverbrechen der Russen rechtfertigen. Der anders lautende Satz unserer Erklärungen, der militärische Überfall sei durch nichts zu rechtfertigen, sei eine verlogene Schutzbehauptung.
  • In der Frage der internationalen Auseinandersetzungen seien wir immer noch in einem „letztlich reaktionären Lagerdenken“ befangen, überhaupt würden wir uns in der „Systemkonkurrenz lieber auf die Seite einer rotgelackten national-kapitalistischen Einparteienherrschaft“ stellen (China), anstatt zu sehen, dass im Ukrainekonflikt „nicht die USA und die Nato, sondern Putin und seine Oligarchenclique den Takt in diesem Konflikt angeben“.

Zu 1: Opfer und Täter im Ukraine-Krieg

Unsere Kritiker führen an, die Ukraine-Invasion sei von langer Hand geplant, schon daran könne man erkennen, sie sei nicht ausgelöst worden durch eine aktuelle Bedrohung durch die Nato. Schon 2014 habe Russland mit der Annexion der Krim bewiesen, dass es sich über Völkerrecht und Kriegsrecht jeder Art hinwegsetze und seine Waffen sprechen lasse. Es dürfe nicht heißen: Kriegstreiber Nato, sondern: Kriegstreiber Russland.

Wenn die Kritiker uns vorwerfen, wir unterhielten ein sentimentales Verhältnis zu Russland, voll von Sympathie für die sozialistischen Anstrengungen und voller Schuldgefühl angesichts des Nazi-Überfalls auf die Sowjetunion, die 27 Millionen Sowjet-Menschen das Leben kostete, dann muss ich für meinen Teil sagen: Ja, das stimmt. Ich erinnere mich an das Jahr 1963, kurz nach der Kuba-Krise, als Jewgeni Jewtuschenkow nach Deutschland kam und den Propagandisten der „roten Gefahr“ sein Lied entgegenhielt:

Meinst du, die Russen wollen Krieg?
Befrag die Stille, die da schwieg
Im weiten Feld, im Pappelhain,
Befrag die Birken an dem Rain (…)
Frag Mütter, die seit damals grau,
befrag doch bitte meine Frau.
Die Antwort in der Frage liegt:
Meinst Du, die Russen wollen Krieg?

Der große Saal in den Münchner Kammerspielen quoll über von vielen Hunderten von Menschen, die eben erst die Angst vor einem atomaren Weltkrieg durchgestanden hatten und nun begeistert waren von der ansteckenden und hochpoetischen Friedensleidenschaft, die von dem jungen Sibirier ausstrahlte. Mit einem Tross von Filmern, Schriftstellern, Verlagsleuten zog man dann nach Schwabing, wo der von allen innig gedrückte Jewgeni von der schönen Wirtin „bei Gisela“ zur Begrüßung geküsst wurde, bevor er nach einem kurzen Drink mit der noch schöneren Barbara Rütting in die Schwabinger Nacht entschwand.

Die Begegnung mit Tschingis Aitmatow

Es gab nicht nur solche Begegnungen fast kitschig schöner Gefühlsausbrüche. Mitte der Achtziger Jahre, die Perestroika klopfte schon an Moskaus Türen, war Tschingis Aitmatow zu Gast bei seinem Freund und Übersetzer Frieder Hitzer. Seit seiner Erzählung „Dschamilja“ war Aitmatow der Schriftsteller, der das Schicksal seiner kirgisischen Heimat mit dem Aufbruch in den Sozialismus literarisch packend verwob. Sein Vater war 2. Sekretär der Kommunistischen Partei Kirgisiens gewesen und in den Stalinschen „Säuberungen“ getötet worden. Der Sohn Tschingis war im Zentralkomitee der KP seines Landes, hatte 1968 den Staatspreis der UdSSR erhalten und firmierte als glänzender Vertreter der Kunst der Sowjetunion auf seinen zahlreichen Auslandsreisen. Als ein Freund des Münchner Gastgebers, der Verfasser dieser Zeilen, dem großen, die Menschen seiner kirgisischen Heimat so eindringlich und emphatisch schildernden Schriftsteller entgegenhielt, die Sowjetunion würde ihr Versprechen, den Sozialismus aufzubauen, nicht einhalten, entgegnete Aitmatow: „Wir haben die technologische Struktur für den Sozialismus aufgebaut – die sozialen Bedingungen für das Gedeihen des sozialistischen Menschen müssen wir noch schaffen.“

Auch der erste Teil dieses Eingeständnisses stimmte ja nicht. Die Sowjetunion hatte nicht mithalten können im Kalten Krieg, der das ökonomisch viel kleinere Land zu Rüstungsausgaben zwang, die ihm beim Aufbau der Wirtschaft bitter fehlten. Neben der bürokratischen Verkrustung und der Korruption mancher Bürokraten war dies ein Hauptgrund, warum es 1989/90 zur „Implosion“ des Systems kam – es streckte die Waffen auf allen Gebieten und seine Wirtschaft wurde in einem korrupten Ausverkauf an die cleversten und brutalsten Zugreifer „privatisiert“. Treibende und dirigierende Kraft dieser Art der Überführung in ein kapitalistisches Land waren clevere, sehr anpassungsfähige Teile der alten Eliten („die roten Direktoren“) sowie die Sicherheitsdienste, die ein zuverlässiges Bild über die Verwendungsfähigkeit der Kader besaßen und sich selbst bei der Verteilung der Pfründe nicht vergaßen. Der starke Mann hinter dem trunksüchtigen Jelzin wurde bald Wladimir Putin, Ex-Oberstleutnant des KGB und Ex -Vizebürgermeister von St. Petersburg. Wladimir Putin war 1996 in die Kreml-Verwaltung eingestiegen, 1997 wurde er Vize-Kanzleileiter von Präsident Jelzin, 1998 Direktor des Inlandsgeheimdienstes FSB, 1999 ernennt ihn Jelzin zum Ministerpräsidenten. 2000 wird er mit dem Segen Jelzins mit 52 % der Stimmen zum Präsidenten gewählt.

Wladimir Putins siegreiche Parole im Wahlkampf 2000 lautete „Nie wieder die Neunziger Jahre“. Das erste Jahrzehnt nach dem Einsturz des Sozialismus war eines der rasanten und ebenso chaotischen wie kriminellen Privatisierung, was zu einer Rückentwicklung der Industrie und zu einem sprunghaften Anstieg der Armutsraten führte. Die von der Weltbank durchgezogenen Reformen ließen die Zinsen in die Höhe schießen, der bankrotte Staat stellte seine Lohnzahlungen ein, die wirtschaftlichen Abläufe wurden auf den Tauschhandel zurückgeworfen, der 1998 mehr als 50 % des zwischenbetrieblichen Handels ausmachte. Das Pro-Kopf-Einkommen der Russen stürzte von 1990 bis 2000 um rund 40 % ab. Diesen Absturz konnte Putin im ersten Jahrzehnt seiner Präsidentschaft (er blieb bis 2008 im Präsidentenamt, musste dann der Verfassungsvorschrift von nur zwei aufeinanderfolgenden Amtsperioden einer Person weichen und wurde Ministerpräsident, ehe er 2012 wieder zum Präsidenten gewählt wurde) aufhalten und einen neuen Aufschwung bewirken: Von 2000 bis 2010 wuchs das Pro-Kopf-Einkommen auf fast das Doppelte. Die Reallöhne stiegen jährlich um 10 % und mehr.

Ein wesentlicher Faktor war die Strategie der Putin-Regierung, Exportgewinne zu nutzen, um mit hohen Investitionen in die Wirtschaft einzugreifen und das öffentliche Eigentum wiederzubeleben. Das Tempo der Privatisierung wurde gedrosselt, in einem Präsidialerlass von 2014 wurde eine Liste von 1.064 Unternehmen aufgestellt, die nicht privatisiert werden durften und eine Reihe von Aktiengesellschaften aufgeführt, an denen der Staatsanteil nicht verringert werden durfte. Der damals reichste Oligarch, Chodorkowski, wurde von Putin in einem TV-Streitgespräch heftig angegriffen und schließlich wegen Unterschlagung und Steuerhinterziehung für acht Jahre ins Straflager geschickt (a.a.O.). Der Yukos-Konzern Chodorkowskis wurde aber nicht etwa verstaatlicht, sondern zu einem größeren Teil an Mitglieder der Seilschaft aus dessen St. Petersburger Zeit verhökert.

Putin hat die Oligarchenschar neuformiert – Personen mit öffentlichen Bekenntnissen zum Westen wie Chordorkowsky wurden inhaftiert oder ins Exil getrieben, St. Petersburg-Gefolgsleute wie die Brüder Rotenberg, Georgi Timotschenko und Waleri Golubow bemächtigten sich u.a. des Gazprom-Konzerns, der deutsche Ex-Kanzler Schröder wird sie gut kennen.

Ziel der Putin-Mannschaft war – neben der Selbstbedienung an staatlichem Vermögen – die Umstrukturierung der Produktionsmittel: die Gewinne aus der Rohstoffvermarktung sollten genutzt werden, um „Bereiche der Metallurgie, Luftfahrt, Automobile, Nanotechnologie, Kernkraft und natürlich Militärausrüstung wettbewerbsfähig“ zu machen.

Dieses Ziel, die weitgehend verrottete industrielle Basis zu modernisieren und so sich gegenüber der internationalen Konkurrenz behaupten zu können, ist gründlich verfehlt worden. Aus dem Absturz im Gefolge der Finanzkrise 2008-2009 hat sich die Wirtschaft nie richtig erholt. Auf die Depression der Neunziger Jahre und dem kräftigen Aufschwung des ersten Jahrzehnts des neuen Jahrhunderts folgte der Einbruch im Gefolge der Finanzkrise 2008/2009 mit der seitdem anhaltenden Stagnation. Dieser Trend untergräbt die Zustimmung der Bevölkerung zum Putin-Regime und verstärkt dessen Tendenz, mit nationalistischen Manövern die Russen hinter der nationalen Flagge zu versammeln.

Das Problem heute rührt nicht nur von den unzufriedenen Massen her, sondern auch von den Oligarchen, deren Kapitale durch die Sanktionen des Westens nicht mehr die gewohnten Profite abwerfen und die sich deshalb ihre Haltung zu Putin neu überlegen. Sollte Putin seine Kriegsziele spektakulär verfehlen, müsste er eine „nationale Demütigung“ erleiden, bekäme er kontra von allen bedeutenden politischen Seiten. Bei den Massen würde seine nationalistische Demagogie, da er seine Ziele verfehlt, sich gegen ihn wenden, bei den Oligarchen, den Wirtschaftskapitänen, verlöre er an Unterstützung.

Wer sind die Oligarchen?

Entstanden sind die Oligarchen als Eigentümer und Dirigenten der großen Kapitale in der Präsidentschaft Jelzins. Dessen Vizepremier Vladimir Potanin legte 1995 seinen Plan „Share for Loans“ (Aktien gegen Kredite“) vor. Ein Konsortium von Banken bot dem Staat einen Kredit über 1,8 Milliarden Dollar an, der durch Anteile an Staatskonzernen abgesichert wurde. Nach einjähriger Laufzeit sollte der Staat die Anteile zurückkaufen können. Das konnte er planmäßig nicht, auf sogenannten Auktionen wurden die Anteile an Günstlinge aus Wirtschafts-, Sicherheits- und sonstigen Politikbehörden gezielt und preisgünstig verhökert. Die Politikmaschine gebar die neue Wirtschaftselite selbst. Wie korrumpiert dieser Mechanismus war, zeigt sich schon darin, dass der größte Nutznießer dieser Verscherbelung des Volkseigentums an die Oligarchen Potanin selbst war, der Organisator des Prozesses.

Das Beispiel Roman Abramovich

Ein Musterbeispiel dieser neuen Herrschaftskaste ist der Aufstieg von Roman Abramovich, des bis vor kurzem umjubelten Eigner des Londoner Fußballklubs FC Chelsea. Abramovich wurde schon als Student Eigentümer einiger Kleinunternehmen, bevor er von 1993 bis 1996 Büroleiter eines Schweizer Rohölhändlers wurde. Seine wichtigste Qualifikation aber war seine Freundschaft mit Jelzins Tochter. In der zweiten Präsidentschaft Jelzins wurde der smarte, von Westspezialisten geschulte Ölhändler dann Chef von zahlreichen Öl- und Stahlunternehmen, die heute bei Forbes mit rund 15 Milliarden Dollar zu Buch stehen.

Unter den Oligarchen mag Abramovich die längste Luxusyacht besitzen, andere haben aber ein weitaus größeres Vermögen. Potanin wird mit 28 Milliarden Dollar verbucht, Alekperow und Bogdanow, zwei „rote Direktoren“ (früher im Kollektiv der Direktor, jetzt im privaten Kapitalbereich ganz vorne), spielten in der Potanin-Liga, auch der Sibneft-Chef Beresowski zählt dazu und vor allem einer: der Yukos-Eigner Chodorkowski, die bestimmende Figur, bis ihn Putin 2004 absägte und sein Vermögen neu verteilen ließ, und der Petersburger Clan greift in großem Stil ins Volksvermögen.

Und Putin? Ist in keiner Reichenliste zu finden, auch nicht das kleinste bisschen Vermögen ist irgendwo auf seinen Namen notiert. Was zeigt, dass Putin offenbar zu den politisch Klügsten seiner Kleptokratenschar zählt, die in Russland gezeigt hat, dass es noch einen schnelleren Weg zum Super-Reichtum gibt als die Ausbeutung der Arbeit: Man stiehlt den vorhandenen Reichtum und nennt das Ganze dann Überführung in Demokratie und Leistungsgesellschaft. Diese Schar der Oligarchen, die Herrschaft der wenigen und supergroßen Kapitalbesitzer mit ihrem Frontmann Putin besteht aus einem Geflecht von Personen aus Politik, Verwaltung und Sicherheitsinstitutionen, die in Russland eine bestimmende Rolle spielen und denen auch der vormalige KGB-Oberstleutnant Wladimir Putin entspringt. Die sich den Zugriff auf die sozialistische Erbmasse sicherten, besitzen heute Energie- und sonstige Rohstoffe, auch die Stahl- und Metallproduktion sowie Chemie und Düngermittel, das Transportwesen und große Bereich der neuen Technologien. Also Bereiche, die in der globalen Wirtschaft unterschiedlich angesiedelt sind und deshalb auch unterschiedliche Interessen entwickeln.

Der Druck des Westens hält die Oligarchen zusammen

Dass diese Unterschiedlichkeit nicht längst aufgebrochen ist, ist auf die Politik des Westens zurückzuführen. Denn statt 1990 eine friedliche Koexistenz mit Russland anzustreben, worin die Interessen der beiden Seiten ihren Platz hätten, entwickelte die Nato ihr Programm der Osterweiterung.

In knapp 20 Jahren wurden in regelmäßigen Abständen Polen, Ungarn, die Tschechische Republik, Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, die Slowakei, Slowenien, Albanien, Kroatien, Montenegro und Nord-Mazedonien in die Nato aufgenommen – und die DDR wurde der BRD einverleibt und damit auch zum Nato-Gelände gemacht. Gemessen an dem Versprechen an Gorbatschow, die Nato würde sich keinen Inch weit nach Osten verlagern, ist das ein gewaltiger und die Russen aufs Äußerste beängstigender Vertrauensbruch.

Auf diese Tatsache hinzuweisen, ist fundamental für eine Friedenspolitik klarer Orientierung. Wer die stets engere Umklammerung Russlands durch die westliche Militärmacht als entscheidenden Hintergrund der russischen Aktion leugnet, leistet dem weiteren Marsch der Nato und der USA nach Osten und der damit verbundenen Hochrüstung und Kriegsgefahr Vorschub. Die Beschlüsse des deutschen Bundestags, die jährlichen Rüstungsausgaben um ein Drittel zu erhöhen und dazu noch ein „Sondervermögen“ von 100 Mrd. Euro für die Rüstung anzulegen, weist ebenso in die Richtung weiteren Vormarschs nach Osten wie die Aufstellung einer „schnellen militärischen Eingreiftruppe“ durch die EU, zu der Deutschland „das militärische Herzstück“ stellen soll.

Die Ukraine zieht die einheimische korrupte Machtgruppe dem System Putin vor

Dass Putin und Russland bei diesem Marsch „den Takt angibt“, ist ein schlimmes Missverstehen der Lage. Wladimir Putin hat an der Spitze seiner räuberkapitalistischen Oligarchenclique der Nato ein donnerndes „Bis hierher und nicht weiter“ entgegengerufen. Selbst dies verhallt im Knirschen seiner „militärischen Spezialoperation“. Die Waffenhilfe der Nato und der Widerstand der ukrainischen Bevölkerung, die den dreisten Brudervolksanspruch von Anfang an durchschaute und ihre eigene korrupte Herrschaftsclique einer russischen Militär-Vormacht immer noch vorzieht, führt jede Blitzkrieg-Phantasie ad absurdum. Putin steckt fest. Die Frage ist, wie er aus dieser Lage herauskommt, die offenbar in einen Dauerbeschuss der Großstädte übergeht, bevor eine vertragliche Lösung möglich wird. Deren Bestandteile müssten sein: Die Ukraine bleibt selbständig und neutral, wird kein Nato-Mitglied; Russland zieht seine Truppen ab, die Krim bleibt russisch, in den beiden autonomen Regionen des Donbass werden Volksabstimmungen über ihre staatliche Zugehörigkeit durchgeführt; ein System von Friedensregeln für Mittel- und Osteuropa wird angestrebt.

Die Reihe der von den Oligarchen kontrollierten Kapitale, die von stabilen Außenbeziehungen abhängt, ist relativ groß. Wer Öl und Gas verkauft, wie viele von ihnen, ist an den riesigen Märkten des Westens interessiert. Andererseits ist der Weltmarkt auch außerhalb des Dollarraums groß genug, um Absatzeinbußen im Westen auszugleichen. Eher sind Kapitalisten betroffen, die von der einheimischen Nachfrage abhängen. Die Inflation greift um sich, mit ihr die Armut und der allgemeine Rückgang der kaufkräftigen Nachfrage. So hat Oleg Tinkow, ein typischer Oligarch mit einem Milliardenvermögen vor allem im Handel und mit Kindern auf englischen Internaten und Universitäten, auf Instagram den Krieg und die Tötung unschuldiger Menschen als „undenkbar und inakzeptabel“ bezeichnet. Der vielzitierte Evgeny Lebedev – offener Brief an Putin, den Bruderkrieg sofort zu beenden – ist der Sohn eines KGB-Agenten, der es nicht nur zur britischen Staatsbürgerschaft, sondern auch zum Lord gebracht hat. Er besitzt zwar Milliarden und gewiss auch einige in Russland, aber er gehört mit Sicherheit nicht zum Zirkel, der in Moskau die Politik lenkt.

Das System Putin: Oligarchen und Sicherheitsapparat

Dieser Zirkel, diese Nomenklatura aus korrupten Sicherheitsleuten, Wirtschaftsfunktionären, Militärs und fungierenden Kapitalisten hat die Ukraine-Aktion geplant, vorbereitet und durchgeführt. Deren Ziel war offenbar der schnelle Sieg über das Kiew-Regime, die Installierung einer Marionettenregierung mit der Erwartung, die Ukrainer stimmen dem „regime change“, wenn auch nicht begeistert, aber doch duldend zu. Der gesamte Plan war unrealistisch und er hat verhindert, dass man sich auf ein längerfristiges Vorhaben eingestellt hat. Weder klappt der Nachschub, noch primitivste Formen der Versorgung der Truppen.

Der von vielen herbeigesehnte Sturz Putins von innen, durch den eigenen, nun enttäuschten und besorgten Machtapparat scheint dennoch eher unwahrscheinlich. Begonnen hat die Benennung der Verantwortlichen im Sicherheits- und Militärapparat, einschließlich höchster „Würdenträger“, und ihre öffentliche Demütigung durch Putin bei landesweit ausgestrahlten Fernsehprogrammen. Eine „Säuberungswelle“ steht bevor, die von der großen Mehrheit der neuen Eliten getragen wird, die sich ihrer prekären Lage gegenüber ihren kapitalistischen Konkurrenten im Westen bewusst sind. Sollte das Putin-System stürzen, wird es zu einer Neuverteilung der Reichtümer Russlands kommen – diese Befürchtung hält die Oligarchenclique zusammen und bei Putin, bei aller Kritik an dessen kriminellen, aber auch dilettantischen Vorgehen in der Ukraine. Auch die Jagd des Westens auf Vermögensteile der Oligarchen im Westen treibt sie eher Richtung Putin-Russland. Doch auch wenn es in Moskau nicht zu einem Personen-Wechsel an der Spitze kommt, wird sich Russland schließlich, da die Ukraine militärisch nicht zur Aufgabe gezwungen wird, auf eine Verhandlungslösung einstellen müssen. Und Russland kann froh sein, wenn China dabei eine bestimmende Rolle spielt.

 

Womit wir zu unserem zweiten Komplex kommen, der in einem weiteren Teil dargestellt wird.

 

Wir (die traditionelle Linke), seien nach wie vor im „reaktionären Lagerdenken“ gefangen, stellten uns in der „Systemkonkurrenz lieber auf die Seite einer rotgelackten national-kapitalistischen Einparteienherrschaft“ statt auf die der bürgerlichen Demokratie des Westens. So lauten die Vorwürfe aus dem Lager der Mainstream-Medien und -Parteien, sie rühren aber auch von FreundInnen und GenossInnen im Lager der Friedensbewegung und der gesamten Linken.

Frank Deppe, marxistischer Politikprofessor emeritus der Uni Marburg, nennt ein Verständnis der internationalen Konfliktlinien in Begriffen des Kalten Krieges „naiv“. Es ist mehr als das – es ist falsch und kann gegebenenfalls gefährlich sein. Der alte Block des Westens ist zwar immer noch ein von den USA dominierter Block, dessen Einheit aber erst durch eine Bedrohung von außen, wie jetzt im Fall der Ukraine, hergestellt wird.

Europa, vor allem Frankreich und Deutschland, betonen eine größere Eigenständigkeit Europas, eine eigene Armee, ein größeres Gewicht in der Nato. Und selbst jetzt drücken sich die Widersprüche aus im Beharren der Deutschen auf ihren Importen von Energierohstoffen aus Russland. Der Versuch der deutschen Regierung, die Energieabhängigkeit von Russland zu beheben durch vermehrte Importe aus den arabischen Despotien demonstriert, wie gehaltlos das Gerede der US-Regierung ist, es ginge weltweit um das Gegenüber von Demokratien gegen Autokratien. Das diese Epoche kennzeichnende Kriterium ist nicht die Haltung zur „Demokratie“, sondern die realpolitische Erwägung der Länder, ihr Interesse lieber beim Stärkepol USA zu suchen oder aber bei der am schnellsten wachsenden Supermacht China. Nach Kaufkraft gemessen produzieren die USA ein gutes Fünftel des gesamten Weltprodukts. US-Kapitalisten besitzen erhebliche Teile des Kapitals in anderen entwickelten Ländern des Kapitalismus, sie besitzen den größeren Teil der weltweiten Lieferketten. Diese stellen die neue Form der internationalen Ausbeutung der Länder des Südens dar.

Das Beispiel Apple: Die neue Form der globalen Ausbeutung

Ein Beispiel dafür ist das Produktionsnetzwerk des Apple-iPhone. In den USA und in China sind etwa gleichviele Menschen für seine Produktion beschäftigt. Auf die Beschäftigten in den USA entfällt das Dreißigfache der Lohnsumme ihrer chinesischen Kollegen. In den USA sind Händler- und Produktentwickler beschäftigt, in China ArbeiterInnen am Fließband[1].

Das Beispiel Apple demonstriert mehrere Seiten der neuen internationalen Ordnung. Das westliche Kapital ist in großem Ausmaß involviert in Ländern quer über den Globus, weithin ungeachtet des Umstands, zu welchem Lager

sie gehören mögen, „Demokratie“ oder „Autokratie“, USA-Block oder China-Block. Die Länder des Südens, selbst China, werden systematisch benachteiligt bei dieser Art von internationaler Arbeitsteilung. Diese benachteiligten Länder werden im internationalen Magnetfeld vom Pol China angezogen, um dessen Belt & Road-Initiative (die Neue Seidenstraße) herum wächst ein stärker werdender Faktor, der sich nach und nach zu einem „Block“ entwickeln kann. Heute indes ist seine Kohäsion längst nicht mit der Festigkeit eines Blocks zu vergleichen.

Wie fragil die Gruppe ist, lässt sich ablesen am Abstimmungsverhalten der Staaten, als in den Vereinten Nationen das Verhalten Russlands gegenüber der Ukraine zur Abstimmung stand. Fünf Länder haben die Verurteilung Russlands abgelehnt, 141 Länder haben, angeführt von den USA, ihm zugestimmt, 35 Länder haben ihn abgelehnt. In dieser Gruppe zeichnet sich die Kontur einer Anti-US-Kraft ab. Es wäre aber völlig verfrüht, es wäre falsch, hier schon von einem Block zu sprechen, der sich um China herum gebildet hätte. Es waren Länder, die ihre Erfahrungen gemacht haben mit dem westlichen Imperialismus: Vietnam und Kuba, Nicaragua und El Salvador, vom Kongo und Zimbabwe, von Algerien und Angola, von Tansania und Irak. Selbst einige dieser Länder schwanken je nach Konfliktstoff zwischen dem Angebot des Westens und dem Chinas. Sie sind auch unterschiedlich eingebunden in die Globalisierungsstrukturen von wirtschaftlicher Produktion, Handel, Kultur, Militär.

Indien und Pakistan – nicht mehr „Sklave des Westens“?

Ein Musterbeispiel liefern Indien und Pakistan, zwei Länder, die für die Machtverteilung in Zentral- und Südasien von enormer Bedeutung sind. Beide haben sich wie China bei der Abstimmung enthalten und damit signalisiert, dass sie sich weder von der Propaganda des Westens noch von der Russlands einspannen lassen. Auf die Mahnung der EU, man solle eine kritischere Haltung einnehmen, entgegnete Pakistans Premierminister Imran Khan mit der Abfuhr, dass man kein Sklave des Westens sei. Im Krieg in Afghanistan noch Partner der USA, bahnt sich nun eine chinesisch-russisch-pakistanische Dreiecksbeziehung an. Russland kann die dringend benötigten Energierohstoffe liefern, der „China Pakistan Economic Corridor“ bringt enorme Investitionen in Häfen, Straßen und Energiesysteme. Dem über das Unrecht in der Ukraine klagenden Westen halten die pakistanischen Eliten seine Doppelmoral vor, der gerade das von ihm zerstörte und zerbombte Afghanistan verlassen musste.

Noch bedeutsamer für die internationale Machtverteilung ist die künftige Haltung Indiens, die Nr.2 der Welt an Bevölkerungsreichtum, die Nr. 3 nach dem Bruttoinlandsprodukt (BIP – nach Kaufkraftparitäten). Das Land, das einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat anstrebt, versucht in einem schwierigen Balanceakt Äquidistanz zu den großen Polen China und USA zu erringen und zu halten. Es gehört einerseits dem Quadrilateralen Sicherheitsdialog mit Australien, Japan und den USA (Quad) an, verweigert aber die Teilnahme am gegen China gerichteten Militärbündnis AUKUS (Autralien, United Kingdom=England, USA). Vielmehr ist Indien Mitglied in der von China dominierten Shanghai Cooperation Organisation und auch von BRICS (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika), die größte moderne Organisation der „Blockfreien“, die schon 2009 auf ihrem damaligen Gipfel in Jekaterinburg kundtaten: „Wir wollen eine demokratischere und gerechte multipolare Welt auf der Grundlage des Völkerrechts, der Gleichheit, des gegenseitigen Respekts, der Zusammenarbeit, des gemeinsamen Handelns und kollektiver Entscheidungen aller Staaten.

Putin-Russland hat mit dem Militärüberfall auf die Ukraine diese Prinzipien grob verletzt, Indien will sie aber geltend machen beim Versuch der Äquidistanz zu China und zu den USA. Indien hat sich mit den BRICS-Grundsätzen gegen die USA gestellt, deren Präsident Joe Biden den Dominanzanspruch formuliert hat: „Ich will dafür sorgen, dass Amerika wieder die Welt führt“, weil „keine andere Nation die Fähigkeit dazu hat.“[2] Hingegen finden die Inder Zustimmung beim chinesischen Staats- und Parteichef Xi: „Wir dürfen die Regeln nicht durch ein oder einige weniger Länder festlegen lassen, die sie den anderen aufzwingen oder Unilateralismus von gewissen Ländern festlegen lassen, die der ganzen Welt die Richtung vorgeben wollen.

Die Gegenpole USA und China

Nach dieser Sicht haben wir eine Zweiteilung der Welt in einen USA-Pol, um den herum sich die anderen entwickelten Volkswirtschaften gruppieren, und in ein gegnerisches Feld um den Pol China, der die weniger entwickelten Nationen anzieht. Das Feld China umfasst die mit Abstand meiste Bevölkerung (die fünf BICS-Länder allein stellen 42 % der Weltbevölkerung), aber es bringt nur die Hälfte des BIP der Gegenseite auf. Der schwache Zustand ihrer Volkswirtschaften produziert in einer globalisierten Weltwirtschaft spezifische Interessen gegenüber den reichen Ländern, die sie in der globalen Auseinandersetzung eher an die Seite Chinas führen. Mit dem Ausbau der Road & Belt-Initiative, der „neuen Seidenstraße“, bietet China eine Möglichkeit vom Zugriff der entwickelten kapitalistischen Gesellschaften geschützter wirtschaftlicher Entwicklung, die bereits von über 100 Nationen genutzt wird. Das bedeutet nicht, dass sie sich bereits zu einem Block formieren. Aber sie stärken das Gewicht Chinas, das als einzige Atommacht nicht den Einsatz von Atomwaffen in seiner Militärplanung vorsieht; und dass sich in seiner Außenpolitik strikt an die Gebote der friedlichen Koexistenz hält, die ausdrücklich die friedliche Kooperation auch systemischer Alternativen verlangt. Eine Friedensordnung taugt nur etwas, wenn sie unterschiedliche, ja konträre Auffassungen aushält und auf der friedlichen Austragung der Konflikte besteht.

Die Vorstellungen der USA, sie seien eine außergewöhnliche, alle anderen überragende Nation“, der „Exzeptionalismus“, unterscheiden sich fundamental von der chinesischen, es geht um friedliche Koexistenz, für „ein gutes Leben für alle“.

Was aber ist mit Russland?

Russland spielt bei diesem Aufeinandertreffen internationaler Kräfte eine große Rolle. Nach den BIP-Zahlen nach Kaufkraftparitäten (also ohne die Umrechnung in Dollar), nimmt Russland den sechsten Rang ein, direkt hinter Deutschland. Seine Diffamierung durch den damaligen bundesdeutschen Kanzler Schmidt als „Obervolta mit Atomraketen“ ist also einerseits neiderfüllte Häme. Andererseits ein richtiger Hinweis: Es sind die Atomraketen, die den besonderen Rang Russlands ausmachen. Das Atomwaffen-Arsenal – Raketen und Sprengköpfe – hält mit dem der USA mit. Die USA haben einen zwölfmal höheren Rüstungsetat als Russland, China hat einen viermal größeren, doch Russland hat den höchsten Standard und dieselbe Menge an Atomwaffen wie die USA. Russland garantiert das Patt der beiden großen „Machtblöcke“, liefert den Schutzraum für die eigenständige Entwicklung junger Nationen. Machte man sowjetische Kollegen in internationalen Organisationen früher aufmerksam darauf, dass sie in ziemlich abgerissener Kleidung daherkämen, dann sagten sie: „Entschuldigen Sie bitte, mein zweiter Anzug hängt in Angola, der dritte in Kuba.“ Diese objektive Schutzfunktion nimmt Russland immer noch wahr.

Aber der Anspruch, man arbeite an einem System friedlicher Koexistenz, an einem guten Leben für alle, ist angesichts der Flüchtlinge, der verzweifelten Menschen in Bunkern, der Leichensäcke, die nach dem russischen Angriff herausgetragen werden – dieser Anspruch ist für das Russland Putins dahin.

Als die Fragen von Autonomie und Selbstbestimmung der vielen Völkerschaften in die junge Sowjetrepublik hineinstießen, wandte sich Lenin 1922 vehement gegen die großrussischen Tendenzen auch in seiner Partei: „Dem großrussischen Chauvinismus erkläre ich hiermit den Kampf auf Leben und Tod.“[3]

Putin, alles andere als ein Marxist, hat die Worte des alten Bolschewiken in den Wind geschlagen. Und er hat sich völlig verrannt – militärstrategisch, politisch, auch ideologisch. Diese krude These, die Ukraine habe keine nationale Identität, sie sei eine künstliche Schöpfung der frühen Sowjetunion, war noch nie haltbar, und Putins Invasion hat das Nationalbewusstsein noch geschärft. Russland muss, wie schon dargelegt, zu einer Friedensregelung bereit sein, die die nationale Selbstbestimmung der Ukraine festhält und dagegen den von den USA und der Nato bestätigten Verzicht der Ukraine auf Nato-Mitgliedschaft festlegt. Die Bevölkerung der Regionen Krim und Donbass werden in Abstimmungen über ihre staatliche Zugehörigkeit entscheiden. Im Rahmen der KSZE werden Regelungen der Friedenssicherung und der Abrüstung in Europa angestrebt. China, mit dem Russland in vielen Verträgen als ein prinzipieller Partner verbunden ist, sollte auf den westlichen Nachbarn einwirken, zu Positionen des Völkerrechts, wie sie auch von BRICS bekräftigt wurden, zurückzukehren. Mehr noch als die Sanktionen des Westens wird das Gewicht Chinas das Putin-Russland zu einer Position bewegen, die sowohl das Selbstbestimmungsrecht der Ukrainer wie auch das Sicherheitsbedürfnis Russlands zur Geltung bringt.

 

Anmerkungen:

[1] Fischer/Reiner/Staritz (Hrsg.), Globale Warenketten und Ungleiche Entwicklung. Wien 2021, S. 11
[2] Peter Wahl, Der Ukraine-Krieg und seine geopolitischen Hintergründe. Attac, AG Globalisierung & Krieg; Conrad Schuhler, Das Neue Amerika des Joseph R. Biden, S. 111 ff
[3] Helmut Dahmer, Stalin, Putin und eine chauvinistische „Halt‘s Maul-Politik“. Lunapark 21, 57/03/2022, S. 52

 

 

 

 

 

Der Beitrag erschien beim https://www.isw-muenchen.de/ isw – Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung e.V., Johann-von-Werth-Straße 3, 80639 München und wird mit freundlicher Genehmigung hier gespiegelt.

Bildbearbeitung: L.N.