Wissenschaftler warnen und werden ignoriert: „DRINNEN lauert die Gefahr“ verdeutlichen führende Köpfe der Gesellschaft für Aerosolforschung (GAeF) in einem offen Brief an die Bundesregierung. „Die Übertragung der SARS-CoV-2 Viren findet fast ausnahmslos in Innenräumen statt“, betreffe Schulen oder Büros. Sie fordern ein Umdenken in der Pandemie (www.spiegel.de). Aber auch der neue Regierungsentwurf zum Infektionsschutzgesetz enthält gar keine Vorgaben an Unternehmen zum Arbeitsschutz in Corona-Zeiten. Die Aerosolforscher werden ignoriert – was inzwischen nicht mehr überrascht.
Vielmehr gibt es eine Reihe von Erlassen, die sich als „Papiertiger“ erweisen. So ist zum Beispiel für das Baugewerbe in Baden-Württemberg die Mindestabstandsregel von 1,50 Meter nicht kategorisch vorgeschrieben. Das Landeswirtschaftsministerium legt in einer Corona-Schutzbestimmung fest: „Wo immer möglich“ gelte das „Einhalten eines Abstands zu den Kolleginnen und Kollegen und zu anderen Menschen von mindestens 1,50 m“. Auch heißt es, dass gemeinsame Fahrten der Bauarbeiter in einem Fahrzeug „möglichst vermieden werden sollten“ (https://wm.baden-wuerttemberg.de/de/service/presse-und-oeffentlichkeitsarbeit/pressemitteilung/pid/arbeitsschutzmassnahmen-auf-baustellen/).
Das Risiko tragen die Beschäftigten – es geht um ihre Gesundheit.
Vollmundig verkündete Bundesarbeitsminister Heil im April 2020 den „SARS-CoV-2 Arbeitsschutzstandard“: „Wer in diesen besonderen Zeiten arbeitet, braucht auch besonderen Schutz. Wichtig ist, dass wir bundesweit klare und verbindliche Standards haben“ (www.bmas.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2020/einheitlicher-arbeitsschutz-gegen-coronavirus.html). Schon einen Monat später zeigte eine gerichtliche Prüfung, wie unverbindlich diese Pressemitteilung ist. Das Arbeitsgericht Hamm entschied, dass der SARS-CoV-2 Arbeitsschutzstandard keine wirksame Rechtsnorm sei (ArbG Hamm vom 04.05.2020, Aktenzeichen 2 BVGa 2/20 siehe https://www.dgb.de/themen/++co++0f4006de-e919-11ea-b89c-525400e5a74a).
Erst im August wurde daraufhin die „SARS-CoV-2-Arbeitsschutzregel“ beschlossen (Die SARS-CoV-2-Arbeitsschutzregel wurde unter Koordination der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, BAuA, gemeinsam von den Arbeitsschutzausschüssen beim Bundesarbeitsministerium erstellt und trat am 20.08.2020 in Kraft, siehe www.baua.de/DE/Angebote/Publikationen/Fokus/SARS-Cov-2-Arbeitsschutzregel.pdf?__blob=publicationFile&v=6).
Das verbessert aber die Situation für die Werktätigen nicht. Unter 4.1 Abs. 3 der SARS-CoV-2-Arbeitsschutzregel heißt es: „Soweit arbeitsbedingt die Abstandsregel nicht eingehalten werden kann und technische Maßnahmen wie Abtrennungen zwischen den Arbeitsplätzen nicht umsetzbar sind, müssen die Beschäftigten mindestens MNB zum gegenseitigen Schutz tragen. Entsprechend der Höhe des Infektionsrisikos, das sich aus der Gefährdungsbeurteilung ergibt, sind filtrierende Halbmasken (mindestens FFP2 oder vergleichbar) als persönliche Schutzausrüstung erforderlich.“ In der Praxis bedeutet dies: die Unternehmen behaupten, „arbeitsbedingt“ sind keine Änderungen möglich, deshalb müssen Arbeiter und Angestellte Mund-Nasen-Bedeckung ( „MNB“) tragen.
„Das Coronavirus zwingt uns zur Distanz. Und doch bringt dieser Ausnahmezustand auch Momente von Wärme und Solidarität“, schreibt DER SPIEGEL. Die Beschäftigten machen in den Betrieben andere Erfahrungen – wenn es um das Verhalten von Unternehmen geht. Dass dabei nicht genug gegen die Eindämmung der Corona-Pandemie getan wird, zeigt eine Meldung aus Sachsen im April 2020: „Während das öffentliche Leben größtenteils zum Erliegen gekommen ist, wird in etlichen deutschen Betrieben weiter Schulter an Schulter produziert, als würde es keine Pandemie geben“, bemängelt Thomas Knabel, Bevollmächtigter der IG Metall in Zwickau. „Das gefährdet die Gesundheit der Betroffenen“ (Arbeitsschutz wird oft nicht eingehalten, 15.04.2020, www.neues-deutschland.de/artikel/1135517.schutz-vor-corona-arbeitsschutz-wird-oft-nicht-eingehalten.html).
Obwohl „Social Distancing“ eine der wichtigsten Vorgaben der Landesregierungen ist und Bundeskanzlerin Merkel von einem empfohlenen Abstand von 1,5 Metern zu anderen Menschen spricht, wird dieser Ansatz in Werkshallen oder Büros oft ignoriert. Während manche Angestellte im Homeoffice tätig wurden, lief in vielen Betrieben die Produktion weiter. Berufsgenossenschaften, Ämter für Arbeitsschutz oder Gewerbeaufsicht lassen sich generell selten im Betrieb blicken, erst Recht nicht zur Vorabprüfung von Pandemieplänen. Ob Distanzregeln bei der Arbeit auf der Baustelle, beim Gang zum Drucker in der Verwaltung oder im Großraumbüro eingehalten werden, interessiert Unternehmen wenig. Denn von Behördenseite wird offen zugegeben: Da Corona allen Betrieben Schutzmaßnahmen abverlange, sei derzeit eine breite Überwachung des Arbeitsschutzes nicht möglich, so das sächsische Wirtschaftsministerium. Die behördliche Überwachung beschränke sich darauf, Beschwerden Lohnabhängiger nachzugehen, so die Sprecherin – und gibt zu: „Zu Betriebsschließungen ist es noch nicht gekommen“ (Arbeitsschutz wird oft nicht eingehalten, 15.04.2020, www.neues-deutschland.de/artikel/1135517.schutz-vor-corona-arbeitsschutz-wird-oft-nicht-eingehalten.html). So zeigt sich, dass die Erzählung vom „Lockdown“ nur ein Ziel hat: Durch dieses Storytelling soll das Weiterproduzieren im Unternehmensinteresse durchgesetzt werden.
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Marcus Schwarzbach ist Berater für Betriebsräte und stellt dieses Thema ausführlicher in der neuen Publikation wirtschaftsinfo 59 des isw in München dar:
Corona: Profite zuerst – statt Gesundheit,
isw-wirtschaftsinfo 59, isw München / 2,00 €
www.isw-muenchen.de/produkt/wirtschaftsinfo-59/
Weitere Infos: isw München – Sozial-ökologische Wirtschaftsforschung e.V. (isw-muenchen.de)