Internationales Investitionsrecht in Krisenzeiten: Wirtschaftsabkommen und Schiedsgerichte können demokratische Rechte aushebeln und Staaten zu Schadensersatz heranziehen

In den nächsten Monaten werden sich Investoren und findige Rechtsanwälte die Verträge mit einzelnen Staaten noch einmal genauer anschauen. Das haben einige Kanzleien schon kurz nach dem ersten Lockdown zu Beginn der Corona-Pandemie getan. Sie dachten damals schon über mögliche Konzernklagen gegen staatliche Notfall-Maßnahmen zur Eindämmung des Virus und der entsprechenden wirtschaftlichen Folgen. Sie bastelten daran,  welche Maßnahmen der Regierungen in den Geltungsbereich internationaler Investitionsabkommen fallen und zu einer Flut von teuren Schadenersatzklagen gegen Regierungen vor privaten Schiedsgerichten führen können.

Ihnen spielt in die Hände, dass im Investitionsrecht unter bestimmten Umständen nicht nur tatsächlich investierte Beträge schadensersatzpflichtig, wie die tatsächlichen Kosten des Investors sind, sondern auch entgangene Gewinne in der Zukunft. Im Gegensatz zum Investitionsrecht sehen andere Rechtssysteme in der Regel keinen Schadensersatz für völlig hypothetisch  entgangene zukünftige Gewinne vor, deshalb sind die Schiedssprüche im Streit zwischen Investoren und Staaten für die Unternehmen in jedem Fall lukrativer, weil im Ergebnis der Schadensersatz viel höher ist, als Entscheidungen ordentlicher Gerichte. Weltweit ermöglichen über 2.600 Handels- und Investitionsabkommen ausländischen Investoren einzelne Staaten vor privaten Schiedsgerichten zu verklagen, wenn sie ihre weitreichenden Rechte in den meist tausende Seiten umfassenden Verträgen als verletzt ansehen. Dabei können Konzerne schwindelerregende Summen an Schadensersatz für angebliche Investitionseinbußen fordern, auch infolge indirekter Schäden.

Die Corona-Pandemie könnte nun eine Klagewelle auslösen, weil den Regierungen unterstellt wird, dass sie auf Covid-19 mit einer Reihe von Maßnahmen, wie Reisebeschränkungen, Einschränkungen der Geschäftstätigkeit und Steuervorteile reagiert haben, die sich negativ auf die Unternehmen auswirkten, weil sie die Rentabilität verringerten, den Produktionsablauf verzögerten oder die Betriebe nicht mit staatlichen Leistungen bedacht wurden.

In den vergangenen 30 Jahren haben die Klagen von Investoren gegen Staaten vor Investitionsschiedsgerichten sprunghaft zugenommen. Geklagt haben vor allem Rohstoffkonzerne, die Schadensersatz für entgangene Gewinnerwartungen oder die Rücknahme von Lizenzen verlangen. Da wird keine Rücksicht auf nationale Rechtsprechung oder politische Entscheidungen von demokratisch gewählten Regierungen genommen, selbst wenn die sich für den Schutz von Menschenrechten und der Umwelt aussprechen.

Bis zum Beginn der 1990er Jahre hatte kaum jemand etwas von Schiedsverfahren gehört. Ursprünglich waren sie ein Instrument zur Schlichtung zwischen Staaten. Erst gegen Ende der Kolonialzeit wurden sie auch in der Wirtschaft populär. Aus Schlichtungsklauseln wurden Standards in Verträgen und Konzessionen zwischen Unternehmen und den ehemaligen Kolonien. Daraus hat sich dann ein ganzes System an Prinzipien und Doktrinen entwickelt.

Damals ging es immer noch um kommerzielle Schiedsverfahren, die auf normalen Verträgen beruhten und keine Investor-Staat-Schiedsverfahren, die durch völkerrechtliche Abkommen geregelt werden.

Im Jahr 1987 änderte sich dies. Damals zog ein englischer Investor vor die ICSID (Internationales Zentrum zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten), das der Weltbankgruppe angehört. Seine Garnelenfarm war im Bürgerkrieg für eine tamilische Basis gehalten und vollkommen zerstört worden. Der Investor wollte sein Geld zurück und berief sich auf das Investitionsabkommen zwischen England und Sri Lanka.

Seit dieser Zeit ist die Zahl der Klagen von Konzernen gegen Staaten ständig angestiegen. Die Anwälte verdienen mittlerweile tausende Euro pro Stunde, die Kanzleien scheffeln bis zu 50 Millionen Euro pro Klage. Entschieden werden die Fälle von anderen Anwälten, die sich vielleicht Richter nennen, aber keine sind.

Anstelle den Menschen vor Ort Unterstützung oder zumindest Schutz und politischen Protestraum zu gewähren, wird auf dem internationalen Parkett immer heftiger die Ausweitung dieser Konzernklagerechte diskutiert.

Die Konzerne können sich auf schwammige und undefinierte Rechtsbegriffe stützen. „Faire und billige Behandlung“ ist genauso wie der häufig verwendete Terminus „willkürlich“ eine Auslegungssache. Diese Auslegung wird nicht von staatlichen Gerichten getroffen, sondern von den Schiedsgerichten. Dabei haben die Schiedsrichter ein ökonomisches Interesse daran, dass Verhandlungen lange dauern, denn sie erhalten feste Tagessätze. Auch möchten sie, dass es weitere Klagen gibt, denn sie verdienen nur, wenn sie auch konsultiert werden.

Außerdem ist das Klagerecht völlig einseitig, nur Staaten können angeklagt werden. Die Mehrheit der Prozesse wird laut aktuellen Studien von den Unternehmen gewonnen, die UNCTAD (Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung) geht von 60 Prozent der Fälle aus. Ein überschaubares Risiko also für Unternehmen, die sich mittlerweile sogar gegen eine Niederlage vor einem Schiedsgericht versichern können. Die Konzerne sind die Gewinner und nehmen sich alles und die Staaten verlieren auf jeden Fall, entweder den ganzen Prozess oder zumindest zahlen sie die Prozesskosten zu ihrer Verteidigung.

Diese Kosten können sich schnell, wie bei der Klage von Fraport gegen die Philippinen gezeigt wurde, bis zu 58 Millionen Euro belaufen, die dem armen Land in Rechnung gestellt wurden.

Die Konzerne klagen auf Teufel komm raus, gegen neue Gesetze, die ihr Geschäft beeinträchtigen könnten oder weil die Regierung ihnen Lizenzen entzieht oder Subventionen aberkennt oder wegen vermeintlicher Unregelmäßigkeiten in öffentlichen Ausschreibungen.

Zwei Drittel der Klagen richteten sich gegen so genannte Schwellen- oder Entwicklungsländer, weil die alten Verträge, die den Klagen zugrunde liegen, ursprünglich dazu gedacht waren, Investitionen aus Industrieländern in Entwicklungsländern zu schützen, da dort vermeintlich weniger Rechtssicherheit herrscht.

An dem Beispiel Vattenfall wird deutlich, wie fortschrittliche Politik, von der die Gesellschaft insgesamt profitiert, von Konzernen kaputtgeklagt werden kann. 

Vattenfall gegen die Bundesrepublik Deutschland

Im Jahr 2000 beschloss die rot-grüne Bundesregierung den Atomausstieg. Den Betreibern der einzelnen Atomkraftwerke wurden Restlaufzeiten zugestanden, die sicherstellen sollten, dass die Betreiberfirmen zumindest ihre Investitionen wieder einspielen und von vorneherein mögliche Schadensersatzansprüche ausschließen. Im Herbst 2010 wurde die beschlossene Laufzeit wieder verlängert. Dann aber, als Reaktion auf die Katastrophe von Fukushima, hatte die schwarz-gelbe Regierung dies wiederum 2011 gekippt und sich auf einen Fahrplan für einen endgültigen Ausstieg aus der Kernkraft geeinigt. Bis spätestens Ende 2022 müssen alle Meiler zu festen Terminen vom Netz gegangen sein. Dann ist Schluss mit der Atomkraft.

Das Bundesverfassungsgericht hatte 2016 nach Klagen von E.ON, RWE und Vattenfall geurteilt, dass die Gesetzesnovelle, die diese Kehrtwende besiegelte, zwar im Wesentlichen mit dem Grundgesetz vereinbar war, den Energiekonzernen aber für sinnlos gewordene Investitionen und verfallene Produktionsrechte ein angemessener Ausgleich zusteht.

Davon profitiert unter anderem Vattenfall.

Der Energiekonzern verklagte den deutschen Staat auf Schadensersatz in Höhe von mehr als vier Milliarden Euro. Er behauptet, dieses Geld habe man wegen der deutschen Energiewende verloren. Vattenfall leitet seine Schadensersatzansprüche daraus ab, dass eines seiner Atomkraftwerke nicht mehr ans Netz gehören sollte, während Kraftwerke ähnlichen Alters hingegen länger laufen dürfen.

Vattenfall beruft sich auf die Energiecharta, einem internationalen Vertrag, der unter anderem die Investitionen im Energiesektor regelt. Deutschland hatte diesen Vertrag im Jahr 1994 unterzeichnet und verpflichtet sich darin, ausländische Investoren für gewisse Gewinnausfälle zu entschädigen. Darauf pocht der Energiekonzern jetzt.

Weil der Energiekonzern aus Schweden stammt, kann er Deutschland, anders als die deutschen Energiekonzerne E.ON, EnBW und RWE vor dem internationalen Schiedsgericht für Investitionsstreitigkeiten in der US-Hauptstadt Washington verklagen. In dem Verfahren ICSID-Case ARB/12/12 geht es um Forderungen von mehreren Milliarden Euro wegen der dauerhaften Stilllegung von Krümmel und Brunsbüttel.

Seit 2012 läuft eine zweite Klage über 6,1 Milliarden Euro Schadenersatz für den beschleunigten Atomausstieg nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima. Allein die Rechtskosten zur Verteidigung dieser Klage belaufen sich auf Seiten der Bundesregierung bereits auf 20 Millionen Euro.

Das Bundesverfassungsgericht hat nun in einer Entscheidung vom 29. September 2020 der Verfassungsbeschwerde Vattenfalls stattgegeben. Die Ausgleichszahlungen, die Atomkonzerne aufgrund des beschleunigten Atomausstiegs erhalten, müssen neu geregelt werden. Die Gesetzesänderung von 2018 sei unzureichend und außerdem wegen formaler Mängel nie in Kraft getreten, entschied das Gericht unter dem Aktenzeichen 1 BvR 1550/19 nach einer Klage des Energiekonzerns.

Einseitigkeit des internationalen Investitionsrechts

Die Unausgewogenheit des internationalen Investitionsrechts macht dies zu einem für Profitinteressen günstigen Rechtssystem. In den Investitionsabkommen werden Rechte, aber keine Pflichten für ausländische Investoren festgeschrieben. Die Schiedsgerichte setzen sich über alle im Verfassungsrecht gewachsenen Eigentumskompromisse hinweg, die die soziale Funktion von Eigentum anerkennen und es gegen andere gesellschaftliche Interessen abwägt. Sie  schränken in der Regel staatliche Entscheidungsspielräume stärker ein als die demokratisch legitimierten Gerichte und so etwas wie Ermessensspielräume werden erst gar nicht eingeräumt.

Die Einseitigkeit des Investitionsrechts wirft die Frage nach der Gültigkeit für ein paralleles Rechtssystem, das die Reichsten der Reichsten besserstellt als alle anderen in der Gesellschaft und auch nach der Rechtfertigung für so ein Sonderrecht auf.

Gerade in Zeiten einer weltweiten Wirtschafts- und zusätzlich einer globalen Gesundheitskrise müssen diese Sonderrechte radikal bekämpft werden. Zumindest muss ganz schnell ein internationales Klagemoratorium geschaffen werden.

 

 

 

 

Quellen: zeit-online, Linksnet, PowerShift, iz3w, aktuelle-sozialpolitik.de, bundesverfassungsgericht.de
Bild: wdr