Stillstand bei den Entscheidungen über Hartz-IV-Sanktionen beim BVerfG und bei der Koalitionsregierung

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in Karlsruhe tut sich schwer, über eine Beschlussvorlage aus dem Jahr 2016 zu entscheiden, in welcher das Sozialgericht Gotha die Sanktionspraxis der Jobcenter als Verstoß gegen die Grundrechte auf Menschenwürde, körperliche Unversehrtheit und freie Berufswahl gewertet hatte. Konkret, das BVerfG muss darüber entscheiden, ob die Sanktionen im SGB II mit dem Grundgesetz vereinbar sind.

Bereits am 15. Januar 2019 hatte es dazu verhandelt und war bisher nicht in der Lage, eine Entscheidung zu verkünden.

Kritiker reden bereits von einer bewussten Verschleppungstaktik des Gerichts und führen an, dass das höchste Gericht darauf wartet, was sich seitens der Bundesregierung in der Sache tut. Hatte die SPD doch vor einigen Monaten vollmundig eine „Hartz-Reform“ ankündigt, ohne dass bisher etwas Substantielles auf dem Tisch liegt oder wartet die Politik auf das grundlegende Urteil aus Karlsruhe?

Der Ball wird wie beim Ping Pong gegenseitig zugespielt, bis kaum noch jemand weiß, um was es eigentlich geht. Das Verzögerungsspiel kann aber auch heißen, dass man sich lieber nicht genauer mit dem Problem beschäftigen möchte, weil es vielleicht im Ergebnis zu einer Infragestellung des bestehenden SGB II-Systems führen würde, wenn man eine Verfassungswidrigkeit und damit eine Nicht-mehr-Anwendbarkeit des Instruments der Sanktionen statuiert.

Hier soll noch einmal in Erinnerung gerufen werden, was es mit der höchstrichterlichen Entscheidung zu den Hartz-IV-Sanktionen auf sich hat.

Anfang Oktober 2015 lehnte der Bundestag mit der Mehrheit der Regierungskoalition die Abschaffung von Sanktionen bei HARTZ-IV- Bezug ab. Auch die Gewerkschaften konnten sich bisher nicht dazu durchringen, sich eindeutig gegen die Sanktionspraxis zu positionieren.

Das ändert aber nichts daran, dass die Sanktionen weiterhin verfassungsrechtlich und ethisch äußerst umstritten bleiben.

Chapeau an die Gothaer Richter

Das Sozialgericht in Gotha war der Meinung, dass einem Hartz-IV-Bezieher das Arbeitslosengeld nicht gekürzt werden darf, weil er ein Arbeitsangebot abgelehnt hat und erklärt die bisherige Praxis als verfassungswidrig, da sie die Menschenwürde des Betroffenen antastet, sowie Leib und Leben gefährden kann. Das Gericht ist der Auffassung, dass die im Sozialgesetzbuch festgeschriebenen Sanktionsmöglichkeiten der Jobcenter gleich gegen mehrere Artikel des Grundgesetzes verstoßen.

Das BVerfG hatte die Richtervorlage des Sozialgerichts Gotha über die mögliche Verfassungswidrigkeit der Sanktionen als nicht ausreichend begründet zurückgewiesen und die Sanktionen im SGB II-Rechtskreis gingen und gehen weiter.

Nachdem der Vorlagenbeschluss zur Rechtmäßigkeit von Sanktionen im SGB II wegen formeller Fehler abgelehnt wurde, haben die Gothaer Richter einen weiteren Vorlagenbeschluss zum BVerfG gemacht, um die Rechtmäßigkeit von Sanktionen im SGB II prüfen zu lassen.

Am 15. Januar 2019 hat Karlsruhe dazu verhandelt und tut sich bis heute schwer damit, eine Entscheidung zu verkünden.

Sanktionen durch die Jobcenter bei Pflichtverletzungen und Meldeversäumnissen

Sozialberatungsstellen berichten zunehmend von Menschen, die aufgrund der Sanktionen in Nöte geraten, die ihre Existenz bedrohen oder von jüngeren Ratsuchenden, die eine Zeit lang obdachlos und ganz unten angelangt sind. Wenn man sich deren Biografie genauer anschaut, sind viele von ihnen Opfer der Sanktionen, die von den Jobcentern auf der Grundlage des SGB II ausgesprochen wurden. Da eine Überlappung der Sanktionszeiträume möglich ist, können die zusammengerechneten Sanktionen bewirken, dass gar keine Auszahlung erfolgt und diese Menschen über keinerlei Einkommen verfügen.

Allein im Jahr 2017 wurden die Zahlungen um mehr als 178 Millionen Euro gekürzt. Rund 137.000 Menschen waren davon betroffen, das entspricht 3,1 Prozent aller Hartz-IV-Empfänger. Bei den unter 25-jährigen liegt der Anteil der „Sanktionierten“ bei 26 Prozent und hier wird die Frage der Legitimität der Strafmaßnahmen für diese Gruppe der Leistungsbezieher besonders deutlich. Bei den jungen Leuten will man verhindern, dass Arbeitslosigkeit besonders schwere Folgen für das weitere Erwerbsleben hat, die auch langfristig zu hohen gesellschaftlichen Kosten führen können.

Bei großen Sanktionen mindert sich das Arbeitslosengeld II in einer ersten Stufe um 30 Prozent des Regelbedarfs, bei der ersten Wiederholung der Pflichtverletzung um 60 Prozent und bei jeder weiteren Wiederholung entfällt es vollständig. Die Kürzungen bei kleinen und großen Sanktionen werden summiert und dauern jeweils drei Monate.

Die einzelnen Regelungen sehen vor, dass Sanktionen bei Pflichtverletzungen und Meldeversäumnissen möglich sind:

Zu den Pflichtverletzungen gehören beispielsweise

  • Weigerung zur Erfüllung der Pflichten, die in der Eingliederungsvereinbarung festgelegt wurden,
  • nicht genug Bewerbungen schreiben,
  • Maßnahmen zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt, die nicht abgelehnt werden dürfen,
  • Ablehnung, Abbruch oder Vereitelung der Aufnahme einer zumutbaren Arbeit, Ausbildung, Arbeitsgelegenheit oder geförderten Arbeit,
  • Ablehnung, Abbruch oder Veranlassung für den Abbruch einer zumutbaren Maßnahme zur Arbeitseingliederung.

Weitere Minderungstatbestände sind beispielsweise

  • Zielgerichtete Verarmung,
  • Forstsetzung unwirtschaftlichen Verhaltens

und Sperrzeiten.

Für die unter 25-jährigen wird das Arbeitslosengeld II bei einer Pflichtverletzung auf die Bedarfe für Unterkunft und Heizung beschränkt, bei der ersten Wiederholung wird die Regelleistung ganz gestrichen. Nach Ermessen kann wieder für Unterkunft und Heizung gezahlt werden, wenn der junge Mensch sich bereit erklärt, seinen Pflichten nachzukommen.

Sanktionen für ein Meldeversäumnis können ausgesprochen werden, wenn der Leistungsberechtigte einen Termin beim Jobcenter oder beim ärztlichen oder psychologischen Dienst ohne wichtigen Grund versäumt. Hier werden für drei Monate um zehn Prozent und bei weiterem Verstoß weitere zehn Prozent für weitere drei Monate einbehalten.

Da eine Überlappung der Sanktionszeiträume möglich ist, können auch die zusammengerechneten Sanktionen keine Auszahlung mehr bewirken. Auch wenn man die Meldung nachholt, führt das nicht zur Beendigung des Sanktionszeitraums. Die Meldeversäumnisse haben den größten Anteil mit 68 Prozent an den Sanktionen.

Mittlerweile wehren sich die Betroffenen gegen die menschenfeindlichen Sanktionen. Mehr und mehr Erwerbslose organisieren sich und gehen gegen die Sanktionen auf die Straße, wie die Initiative „AufRecht“ es tut. Sie machen darauf aufmerksam, dass vom „Fördern und Fordern“ nur noch das „Fordern” übrig geblieben ist, auch weil die Mittel für Eingliederungshilfen fast halbiert wurden.

Sozialgericht in Gotha: Sanktionsmöglichkeiten der Jobcenter verstoßen gegen mehrere Artikel des Grundgesetzes

Das Sozialgericht in Gotha ist der Meinung, dass einem Hartz-IV-Bezieher das Arbeitslosengeld nicht gekürzt werden darf, wenn er ein Arbeitsangebot abgelehnt hat und erklärt die bisherige Praxis als verfassungswidrig, weil sie die Menschenwürde des Betroffenen antastet, sowie Leib und Leben gefährden kann. Das Gericht ist der Auffassung, dass die im Sozialgesetzbuch festgeschriebenen Sanktionsmöglichkeiten der Jobcenter gleich gegen mehrere Artikel des Grundgesetzes verstoßen.

Das Gothaer Gericht ist bundesweit das erste Gericht, das die Frage aufwirft, ob auch neben der Verletzung der Gewährleistungspflicht des Existenzminimums und damit auch des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit, gleichfalls noch die grundgesetzlich garantierte Berufsfreiheit durch die Sanktionen ausgehebelt wird.

Der Aspekt der grundgesetzlich garantierten Berufsfreiheit hat in den seit Jahren geführten Diskussionen um die Sanktionsmechanismen praktisch so gut wie nie eine Rolle gespielt.

Die Menschen, die im Hartz-IV-Bezug sind, stehen permanent unter Druck möglicher Sanktionen, weil jeder Vermittlungsvorschlag des Jobcenters ein „nicht ablehnbares Angebot“ sein kann. Die Freiheit der Berufswahl gibt es für sie nicht.

Folgen der Sanktionen bei den Betroffenen

Bereits Anfang 2017 waren die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages in einer Auswertung zahlreicher Studien zu dem Schluss gekommen, vor allem hohe Kürzungen von mehr als 30 Prozent hätten häufig »schwerwiegende negative Folgen für die Lebenslagen der Sanktionierten«. Psychisch trete meist eine »lähmende Wirkung« statt der beabsichtigten Anpassung ein, Erkrankungen wie Depressionen verschärften oder entwickelten sich. Sozial führten harte Sanktionen zu mangelnder Ernährung und medizinischer Versorgung bis hin zu Hunger und Obdachlosigkeit.

Wenig später, Ende 2017, kam die Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) in einer Studie zu dem Schluss, das Hartz-IV-Regime produziere vor allem durch die Sanktionspraxis, aber ebenso durch Gängelei der Betroffenen »massive Angstzustände, welche zwar einerseits Anpassungsbereitschaft erzeugen, aber zugleich die soziale Integration strapazieren«. Dies zwinge Menschen nicht nur, zu miserablen Bedingungen zu arbeiten. Es trage auch maßgeblich zum Erstarken rechtspopulistischer Kräfte bei und schüre Aggressionen gegen Schwächere, so die FES.

Die Entscheidung des BVerfG muss öffentlichkeitswirksam angemahnt werden

Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe scheint die Entscheidung darüber, ob die Sanktionen im SGB II mit dem Grundgesetz vereinbar sind, auf die lange Bank zu schieben.

Hier muss öffentlich Druck gemacht werden, dass die menschenunwürdigen Sanktionen vom Tisch kommen.

Sanktion ist immer Strafe und Legitimation zugleich. Einmal wird bestraft und zum anderen den Menschen gezeigt, dass der Staat dazu das Recht hat, dass er das tun darf. Ohne Sanktionen würde das Hartz-IV-System seine Effektivität und Abschreckung als Mittel zur Lohnsenkung verlieren.

Fallen Sanktionen weg, fallen auch die Strafen und die Legitimität von Hartz-IV weg.

 

 

Quellen: tacheles, Sozialgericht Gotha, BA 

Bild: win board.de