Von Gusti Steiner (1938-2004)
Ich bin 1938 geboren, habe einen fortschreitenden Muskelschwund, konnte die ersten 10 Jahre meines Lebens noch laufen und besuchte von 1946 bis 1950 in Frankfurt die Grundschule. Anschließend ging ich zu einer Realschule und merkte bei meiner Entlassung 1956, dass mein weiterer Lebensweg anders zu verlaufen drohte als der meiner Mitschüler. Ich hatte all diese Jahre eine Regelschule besucht, weil zu dieser Zeit das Sonderschulunwesen noch nicht so ausgeprägt war wie einige Jahre später.
Trotz dieser Zufallsintegration gelang es mir 1956 nicht, eine Berufsausbildung zu erhalten, ich fand trotz Bemühungen keine Lehrstelle. Ich begann damals, Nachhilfeunterricht in verschiedenen Fächern zu geben. Auf diese Weise sicherte ich bescheiden meine Existenz und füllte mein Leben mit einer sinnvollen Aufgabe. Diese Tätigkeit übte ich bis 1972 aus. Ich lebte bei meiner Mutter. Sie versorgte mich, half mir bei allen möglichen Verrichtungen und gab mir die notwendige Pflege. Als sie 1972 plötzlich starb, war ich mit einem Schlag auf mich gestellt und musste mir überlegen, wie mein Leben weitergehen sollte.
Ein Heim kam damals für mich nicht in Frage – ich kann heute nicht mehr sagen, wieso ich eine solche Abneigung gegen Heime hatte. Fakt war, ich begann in Frankfurt eine rollstuhlgerechte Wohnung zu suchen und bemühte mich, mit dem Arbeitsamt abzuklären, was ich beruflich als 34jähriger Rollstuhlfahrer machen könnte.
Bei der Wohnungssuche sagte man mir schon beim ersten Anruf, dass es in Frankfurt keine einzige rollstuhlgerechte Wohnung gebe. Diese Auskunft schien mir ganz unglaublich, denn ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich der einzige Rollstuhlfahrer in dieser Stadt sein sollte. Ich bemühte mich weiter um eine zugängliche Wohnung und erhielt vom Wohnungsamt die Anschriften einiger Altenwohnungen, die mehr zufällig rollstuhlzugänglich waren. Bei dem Versuch, mir diese Wohnungen anzusehen, merkte ich sehr schnell, dass die Öffentlichen Verkehrsmittel mit dem Rollstuhl nicht zu benutzen waren und dass es keinen besonderen Fahrdienst für mich gab. Diese Erfahrung war für mich vollkommen unakzeptabel: Ich dachte mir, es kann doch eigentlich nicht sein, dass Rollstuhlfahrer in einer Stadt nicht leben können. Ich verstand nicht, dass Politiker die Bedarfe behinderter Menschen in ihren Entscheidungen unberücksichtigt ließen.
Für mich war unsere Lebenssituation politisch verursacht – durch politische Entscheidungen dieser Gesellschaft wurden wir zu Behinderten und wir nahmen diese Rolle, die uns den Entscheidungen anderer unterwarf, an.
Ernst Klee und ich – wir begannen im Oktober 1973 eine Behindertenarbeit an der Volkshochschule Frankfurt, eine Behindertenarbeit, die genau diese politische Situation, behindert zu werden und dadurch zum Behinderten gemacht zu werden, aufgriff und dieses politische Konfliktfeld mit der Selbsthilfegruppe aufsuchen und beackern wollte. Mein Ziel war dabei, dass wir als Behinderte aus der Rolle des Objekts von Fremdbestimmung zum Subjekt eigenen Handelns werden. Wir begannen im Januar 1974 die direkte Arbeit mit einer Gruppe und hatten uns für Behinderte zum Ziel gesetzt:
- Überwindung der individuellen Isolation
- Erkennen eigener Bedürfnisse
- Selbstorganisation und Eigeninitiative
- Verhaltensänderung durch Lernerfahrungen
- Entwicklung eines eigenen Selbstbewusstseins und Selbstwertgefühls.
Nichtbehinderte wollten wir für die Probleme und Lebenssituation Behinderter sensibilisieren, ihnen die Scheu vor uns nehmen und wir strebten zwischen uns ein persönliches und damit normales Verhältnis an. Wir waren als Behinderte aber entschlossen, uns vor allem der Wechselbeziehungen „Behinderter – Umwelt“ auszusetzen. Wir wollten Benachteiligungen nicht resignierend hinnehmen, sondern als Herausforderung erleben, und hatten uns vorgenommen, diese Herausforderung durch unsere eigenen Aktivitäten beseitigen zu helfen. Der Alltag und seine Behinderungen waren unser Lernfeld und ich war überzeugt, dass es möglich ist, unseren Selbsthass in schöpferische Energie zu verwandeln. Der schöpferische Umgang mit Konflikten sollte unsere Lust am eigenen Handeln wecken. Wir gedachten, Schluss zu machen mit unserer resignativen Lebenshaltung und der demütigen Ergebenheit, mit der wir all die Fremdbestimmung über uns ergehen ließen.
Ernst Klee und ich hatten bei der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung gelernt. Wir hatten dort gesehen, wie das Selbstverständliche, das Normalste zu fordern auf den Widerstand der Obrigkeit stieß. Schwarzen in den USA wurden wie uns die Bürger- und Menschenrechte verweigert. Pete Seeger sang im Zusammenhang mit der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung ein für mich wunderbares Lied: Wenn ihr mich im Mississippi vermisst, dann schwimm ich im Städtischen Schwimmbad! Wenn ihr mich hinten im Bus vermisst, dann sitz ich vorn! Schwarzen war es verboten, dass Städtische Schwimmbad aufzusuchen, sie durften nicht vorn im Bus sitzen! Sie hatten sich hinten aufzuhalten.
Das erinnerte mich sehr an meine eigene Lebenssituation. Ich war durch Stufen und Treppen, die von anderen, die Macht hatten, geplant und gebaut wurden, aus Gebäuden ausgesperrt. Ich und andere Behinderte waren durch die Art, Busse und Bahnen zu planen, zu bauen und einzusetzen, aus den Öffentlichen Verkehrsmitteln ausgesperrt. Und genau das hatte Auswirkungen auf unser Selbstbewusstsein! Wir mussten dahin, wo diese Konflikte deutlich waren. Dort mussten wir unsere schöpferische Energie einsetzen, um selbstbewusst auf die Probleme aufmerksam zu machen und die behindernde Situation zu verändern. Eldridge Cleaver, ein Anführer der Bürgerrechtsbewegung der amerikanischen Schwarzen und einer der bedeutendsten Gesellschaftskritiker der Epoche, hatte in seinem Buch „Seele auf Eis“ (Cleaver, 1969) sehr eindrucksvoll geschildert, wie das Selbstbewusstsein amerikanischer Schwarzer aus der Sklaverei bis zur diskriminierten Bürgerrolle eines Apartheid-Regimes nur noch eines wollte: Nicht schwarz sondern so wie Weiße zu sein. Wir wollten als Behinderte – wenn wir ehrlich sind – nichtbehindert sein! So wie die Schwarzen Nordamerikas mit Chemikalien versuchten ihre Haut aufzuhellen, die Krausen ihres Haares zu glätten, so rannten wir zu Ärzten und Therapeuten, um die Beeinträchtigung weg zu kriegen – zu sein wie Nichtbehinderte. Die diskriminierten Schwarzen der USA hatten uns vor Augen geführt, dass es Unsinn war, weiß sein zu wollen. Ihr Slogan hieß: „Black is Beauty“ (Schwarz ist schön). Und sie zeigten ihr neues Selbstbewusstsein im Kampf gegen die strukturelle Gewalt, gegen Benachteiligung und Diskriminierung im Staat. Wir übernahmen den Kampfbegriff und wandelten ihn zu „Behindertsein ist schön“ (Klee, 1974).
Vor diesem Hintergrund kam es im Mai 1974 in Frankfurt mit unserer Selbsthilfegruppe der Frankfurter Volkshochschule zur ersten spektakulären Straßenbahnblockade durch Behinderte. Wir hatten bauliche Barrieren, bauliche Behinderungen in direkter Konfrontation mit dem „Prädikat Behindertenfeindlich“ ausgezeichnet, hatten uns zwei Kriegsopferverbände, das Sozialamt, die Allgemeine Ortskrankenkasse und das Gesundheitsamt der Stadt Frankfurt aufs Korn genommen. Am Tage darauf veranstalteten wir im Zentrum der Stadt Frankfurt ein Rollstuhl-Training, in dessen Verlauf wir eine Straßenbahn blockierten. Ein Rollstuhlfahrer versuchte, in die Straßenbahn einzusteigen. Stufen und eine Mittelstange versperrten ihm den Zutritt. Währenddessen rollte ich auf die Schienen, stellte mich vor die Straßenbahn und erklärte über ein Megaphon, dass Busse, Straßenbahnen, U-Bahnen nicht für Behinderte konstruiert wurden.
Die Straßenbahn zieht kurz an, eine Drohgeste, als wolle sie weiterfahren, doch der Fahrer kann schließlich keinen Behinderten überfahren und hält. Über Außenlautsprecher fordert er mich (Gusti Steiner) auf, die Schiene freizugeben. Ich erwidere, wenn ich mitfahren könne, sei ich sofort von den Schienen. (Klee, 1980, S. 242)
Ich erläuterte den Fahrgästen, dass ich ihnen deutlich machen möchte, was Behinderung ist. Ich wies darauf hin, dass die Fahrgäste jetzt erleben, nicht weiterfahren zu können, und dass ich und andere Rollstuhlfahrer immer diese Situation, vor einer Straßenbahn zu stehen und nicht reinzukommen, erlebten. Frankfurter Bürger sammelten sich am Ort des Geschehens. Unabsichtlich blockierten sie mit uns die Straßenbahn und den Verkehr. Einige stimmten uns zu und hielten die Blockade für eine gute Sache. Andere beschimpften uns wüst, versicherten, dass bei Hitler „so was vergast worden wäre“. Dritte wollten ein Maschinengewehr hineinhalten. Ich hatte nach 20 Minuten die Schienen verlassen, nachdem ich noch einmal erklärte, dass Behinderung eine sehr reale Sache sein kann und dass ich hoffte, die Passanten hätten gespürt, wie sich Behinderte ständig fühlen müssen, die aus Öffentlichen Verkehrsmitteln ausgesperrt sind.
Unsere Selbsthilfegruppe hat weitere spektakuläre Aktionen mit Pfiff und Spott durchgeführt: Wir schenkten der behindertensicheren Hauptpost eine „Kurt-Gscheidle-Gedächtnisrampe“ (Kurt Gscheidle war der damalige Postminister), setzten einen Planungsdezernenten in einen Rollstuhl, um die politisch verursachten Behinderungen im öffentlichen Stadtbild zu verdeutlichen, und wir boten zum Weihnachtsfest im Stile der Weihnachtsmänner über den Studentenschnelldienst Spastiker gegen Kostenerstattung zum gefühlsduseligen Weihnachtsbetrieb an. Weihnachtszeit ist Spendenzeit – auch für Behinderte, also drehten wir das Prinzip um, und vermieteten unter der Überschrift „Rent a spasti“ Spastiker ohne Sprachfehler für 7.88 DM die Stunde, solche mit Sprachfehler zum Stundenpreis von 11.88 DM. Heimkinder, die für jede kleine Hilfsgeste dankbar waren, gab es im Sonderangebot. So sollten Bürger der Stadt in einer sinnentleerten Zeit ihrer Weihnachtsfeier eine soziale Note geben. Wir forderten auf: Nehmen sie Behinderte, sie sind demütig, dankbar und bescheiden. Wir persiflierten unsere eigene Rolle als „Musterkrüppelchen“, hielten aber auch der Gesellschaft den Spiegel vor. Spott wurde uns zur Waffe.
Jährlich zeichneten wir zusammen mit Schauspielern im Frankfurter Schauspielhaus in einer Feierstunde die größte Niete der Behindertenarbeit mit der „Goldenen Krücke“ aus. Wir hatten alle in dieser politischen Arbeit unseren Spaß und wir hatten die Möglichkeit, Dinge zu verdeutlichen, die verändert werden mussten.
Selbsthilfe ist für mich – zumindest wenn sie etwas in uns und an den behindernden Lebensbedingungen verändern will – eine hoch politische Arbeit! Wer im ältesten Wörterbuch der deutschen Sprache, dem Grimmschen Wörterbuch von Jakob und Wilhelm Grimm im Band 16 auf Seite 479 den Begriff Selbsthilfe nachschlägt, kann dort folgendes lesen: „SELBSTHILFE, – HÜLFE, f. hilfe, die man sich selbst leistet, besonders eigenmächtige hilfe mit umgehung oder im widerspruch zu der obrigkeit …“
Das verdeutlicht die politische Dimension von Selbsthilfe, die meiner Meinung nach innewohnen muss, wenn immer gesellschaftspolitische Verbesserungen erreicht werden sollen. Es kann nicht darum gehen, dass Menschen sich in Gefühlsduselei einander zuwenden und den Dampf unter dem Deckel halten. Es muss darum gehen, gesellschaftliche Missstände zu entlarven, strukturelle Gewalt gegen Menschen an den Pranger zu stellen und im Kampf mit dem Wort am politischen Ort des Konflikts und mit Spott benachteiligende Wirklichkeit zu verändern. Das ist meine Vorstellung von Selbsthilfe.
Geschichte der Idee der Selbstbestimmung und der Assistenz
Die Grundausrichtung von Behindertenpolitik und Behindertenarbeit muss sich heute nach der Jahrtausendwende an der Selbstbestimmung Betroffener orientieren. Das gebietet 2001 der durch die Behinderten- und Krüppelbewegung erfochtene Fortschritt in der Behindertenarbeit und das durch große Teile dieser Bewegung im Verbund mit vielen Organisationen und Einzelnen erstrittene Diskriminierungsverbot des Artikels 3 Absatz 3 Grundgesetz (GG) vom Oktober 1994. Selbstbestimmung im Leben Behinderter setzt voraus, dass notwendige Hilfe weitestgehend unabhängig von Institutionen und deren fremdbestimmenden Zwängen und von fremdbestimmender, entmündigender Hilfe durch die sogenannte Fachlichkeit von Helferinnen organisiert wird.
In der Behindertenbewegung der vergangenen 20 Jahre hat sich zur Erfüllung dieser Voraussetzungen der Assistenzgedanke herauskristallisiert. Kernpunkte dieses Ansatzes sind, dass der Hilfeabhängige sich die Assistentinnen aussucht, sie anleitet, unter seinen Vorstellungen einsetzt und bezahlt. Ich bin durch meinen fortschreitenden Muskelschwund mittlerweile so stark beeinträchtigt, dass ich nicht mehr mit der Hand schreiben kann oder die Tastatur eines Computers bedienen kann. Die Entwicklung der Spracheingabe – also dass ich Texte diktiere, die dann im Rechner als geschriebene Datei und nicht als Grafik abgelegt sind, ist technisch noch nicht so weit entwickelt, dass ich damit arbeiten könnte. Dennoch schreibe und veröffentliche ich. Diese Texte entstehen dadurch, dass ich mir eine Schreibassistentin gesucht habe, der ich diktiere. Sie schreibt – ich bestimme den Text, korrigiere ihn – bin gelegentlich für Tipps dankbar und es entsteht so ein Beitrag wie der vorliegende zu diesem Buch.
Ich bezahle die Assistentin nach Vereinbarung. Eine Voraussetzung für dieses Arbeitsverhältnis: Sie beherrscht die deutsche Sprache hervorragend, so dass keine Aneinanderkettung von Fehlern entstehen kann, und schreibt im Gegensatz zu mir motorisch in großer Geschwindigkeit. Unter diesen Voraussetzungen können Frauen Frauen und Männer Männer als Assistentinnen und Assistenten in ihr Leben mit einbeziehen, sowohl in ihre Arbeit als auch in ihre Pflege und in die alltäglich notwendige Hilfe in allen Bereichen. Sie können Assistenz entweder als Arbeitgebermodell oder als Assistenzorganisation gestalten. Bei dem Arbeitgebermodell stellt die Hilfeempfängerin – sprich Assistenznehmerin – die Assistentinnen direkt an. Die Behinderten, die Hilfe und Pflege brauchen, werden zur Erfüllung ihres eigenen Bedarfs zu Miniarbeitgeberinnen. Sie melden einen eigenen Betrieb an und wickeln all` die Aufgaben, die eine Arbeitgeberin hat – von der Beantragung der Arbeitgebernummer über die Abführung möglicher Sozialversicherungsbeiträge bis zur Lohnauszahlung -, ab.
Wer sich von diesem Aufwand überfordert fühlt oder tatsächlich dem Aufwand nicht gewachsen ist, gründet mit anderen Betroffenen eine Assistenzorganisation, die die notwendigen Organisationsarbeiten abnimmt, sie erledigt, aber den Selbstbestimmungsgedanken in der Form der Assistenz ermöglicht. Das kann ein Verein oder eine Genossenschaft oder eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung sein. Bei dieser Form der Indirekten Assistenz sind die Assistentinnen bei der Organisation angestellt. Das Binnenverhältnis zwischen Assistenznehmerin und Assistentin bleibt aber im Denkmodell der Selbstbestimmung und Assistenz erhalten. Die Hilfeabhängigen können so Assistenz in Anspruch nehmen.
Selbstbestimmung als Gegenbegriff zu Fremdbestimmung
Der Begriff der Selbstbestimmung muss im Zusammenhang mit dem Behindertenhilfesystem definiert werden. Er ist meiner Meinung nach abzugrenzen einmal von Selbstständigkeit, die als ein Leben ohne fremde Hilfe zu verstehen ist. Andererseits aber auch von Autarkie, die Bedürfnislosigkeit, wirtschaftliche Unabhängigkeit, Selbstgenügsamkeit und Unabhängigkeit zum Ausdruck bringt. Selbstbestimmung muss im Sinne von Autonomie verstanden werden, meint also das Recht, seine Angelegenheiten selbst zu ordnen. Selbstbestimmung grenzt sich damit sehr deutlich von Fremdbestimmung ab, ist quasi ein Gegenbegriff zu jeglicher Fremdbestimmung. Veröffentlichungen in der Bundesrepublik erzeugen häufig den Eindruck, die Idee Selbstbestimmung statt Fremdbestimmung und Hilfen durch Assistenz wären bei uns von den USA übernommen worden. Hier liegt meiner Meinung nach ein grundlegender Irrtum vor. Die Behinderten- und Krüppelbewegung hat in den vergangenen 25 Jahren in der Bundesrepublik einen eigenen Weg zu diesem heutigen Ergebnis zurückgelegt. Selbstbestimmung für das eigene Leben und der Kampf gegen Fremdbestimmung spielten schon in den frühen 70er Jahren eine entscheidende Rolle in den Anfängen der Behindertenbewegung als Politische Selbsthilfe (vgl. Steiner, 1974a; Steiner, 1974b; Steiner, 1999).
Aus einer Dialektik zwischen Kritik am Hilfesystem – Kampf gegen Fremdbestimmung – und Entwurf und Verwirklichung von Alternativen entwickelten sich über Heimkritik das Paradigma Ambulante Dienste und über die Kritik an Ambulanten Diensten der Gedanke Selbstorganisierter Hilfen, der dann in der ersten Hälfte der 80er Jahre zu einem weitgehend gemeinsamen Konzept der Bundesrepublik und der USA von Selbstbestimmt Leben und Assistenz führte. (vgl. Vereinigung Integrationsförderung e. V. 1981; Daniels, Degener, Jürgens, Krick, Mand, Mayer, Rothenberg, Steiner & Tolmein, 1983; Vereinigung Integrationsförderung e. V., 1982; Steiner, 1984).
Für die Bundesrepublik sind Selbstorganisierte Hilfen und Selbstorganisierte Helferinnen Ausgangspunkte für den Assistenzgedanken. Die Selbstorganisierten Hilfen, aber auch Mieterin in der eigenen Wohnung zu sein, über das eigene Einkommen – und sei es nur der Sozialhilfesatz – selbstbestimmt zu verfügen, sich selbst als Expertin in eigener Sache zu begreifen und sich selbst Helferinnen zu suchen, anzuleiten und zu bezahlen, ist in der Bundesrepublik die Ausgangsbasis für Assistenz. Behinderte Menschen mit Selbstorganisierter Hilfe haben bundesweit vor Verwaltungsgerichten die Kostenübernahme für ihre selbstbestimmte Lebensform erstritten – häufig mit der solidarischen Unterstützung der VIF in München, dem fib in Marburg, von MOBILE – Selbstbestimmtes Leben Behinderter e.V. in Dortmund und anderer Selbsthilfegruppen oder selbstorganisierter Vereinigungen.
Die Form der Selbstorganisierten Hilfe existierte, bevor die amerikanische Philosophie von independent living bei uns bekannt wurde
Behinderten- und Krüppelinitiativen erhoben in der Bundesrepublik schon in den frühen 70er Jahren als Selbsthilfegruppen Protest gegen das überkommene Hilfesystem im Behindertenbereich. Aktionen wie die „Frankfurter Straßenbahnblockade“ 1974, die Demonstrationen gegen das „Frankfurter Urteil“ 1980 oder der Protest gegen das „UNO-Jahr der Behinderten“ 1981 machten Schlagzeilen. Ausgrenzung, Aussperrung, Diskriminierung, Bevormundung einer zahlenmäßig großen aber demütigen Minderheit prangerten die Betroffenen mit unerwarteter und unbekannter Härte an. Das Konfliktfeld unserer eigenen Lebenssituation wurde Gegenstand unserer gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung. Politiker und Verbandsfunktionäre des überkommenen Behindertenhilfesystems hörten unsere Forderungen, nahmen uns aber nicht ernst. Wir wurden als „Wirrköpfe“ und „Radaumacher“ abgetan.
Selbst als sich in den 80er Jahren Eltern behinderter Kinder zu Wort meldeten und für ihre Söhne und Töchter nichtaussondernden gemeinsamen Kindergarten- und Regelschulbesuch forderten – und im Einzelfall auch durchsetzten -, diffamierten Politiker und sogenannte Fachleute diese Ansinnen als „unverarbeitetes Elternsyndrom“. Mitglieder der Behinderten- und Krüppelinitiativen, die in vergangenen Jahrzehnten Ambulante Dienste und die Selbstbestimmt-Leben-Bewegung als Alternativen zum überkommenen Hilfesystem aufbauten, erhielten oft verächtlich das Prädikat „Spinner“.
Zwanzig Jahre nach Beginn dieser Entwicklung bestätigt das wissenschaftliche Gutachten zur Lebenssituation von behinderten Menschen und Behindertenpolitik von Nordrhein-Westfalen, dass von dieser Politischen Selbsthilfe ein Paradigmawechsel erreicht wurde: „Die letzten zehn Jahre sind geprägt durch ein neues Verständnis von Behinderung. Das Paradigma ,Selbstbestimmtes Leben‘ ist Ausdruck des veränderten Selbstverständnisses behinderter Menschen und Forderung zugleich: Gegen Entmündigung, Diskriminierung und Aussonderung! Für gesellschaftliche Mitwirkung und Teilhabe im Sinne selbstbestimmter Wahl- und Lebensmöglichkeiten! Unabhängig von Art und Schwere der Behinderung soll damit das Recht auf gleichberechtigte Lebenschancen in allen Lebensbereichen betont und eingelöst werden. Einem weitgehend negativen Fremdbild von Behinderung wird ein positives Selbstbild der Betroffenen entgegengestellt. Das ist mehr als Protest und Ablehnung von Diskriminierung und Aussonderung“ (Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen, 1993, S. 11 f)
Wenn man aus diesem Paradigma des Selbstbestimmt Lebens ein adäquates Hilfesystem entwickeln will, dann kann das nur über die Elemente der Direkten Assistenz (Persönlichen Assistenz), der Indirekten Assistenz oder der Assistierenden Hilfe geschehen. Bei der Direkten
oder Indirekten Assistenz wird die Assistenznehmerin quasi zur Arbeitgeberin, sie hat das Sagen, sie bestimmt, was die Assistentin tun muss oder was sie nicht tun soll. Die Hilfeempfängerin, also die Assistenznehmerin, schlüpft in dem Machtverhältnis zwischen Arbeitgeberin und Arbeitnehmerin in die Rolle der Mächtigen und hebt damit – quasi per Konstruktion des Arbeitsverhältnisses – Macht auf, die sie fremdbestimmen könnte. Die Assistentinnen geraten in die Rolle der Arbeitnehmerinnen, sie können ihrer Chefin oder ihrem Chef nichts anordnen! Sie können in diesem Arbeitsverhältnis nicht fremdbestimmen. Damit gerät die Assistenznehmerin in die günstigere Machtposition und kann die Rahmenbedingungen ihres Lebens selbst bestimmen. Selbstbestimmung ist Konstruktionsprinzip des Assistenzgedankens.
Ursachen für Fremdbestimmung
Die Selbstbestimmung kann aber auch immer wieder bedroht sein, wenn Fremdbestimmung in der Konstruktion des Hilfesystems vorherrscht.
„Auf der anderen Seite habe ich aber auch oft das Gefühl, gerade die, die über so eine Ausbildung [im Pflegebereich] verfügen, meinen, sie wären die Profis und meinen dann auch so, über mich bestimmen zu können oder zu müssen, halt. So nach dem Motto „Ich weiß ja, was für Dich gut ist“ und nehmen dann so´n bisschen mein selbstbestimmtes Leben. Und das, find ich halt, ist eine sehr gefährliche Sache und eine Gratwanderung. Man muss da, denke ich, Hand in Hand arbeiten.“
Aber die Selbstbestimmung kann auch dadurch bedroht sein, dass die Assistenznehmerin ihre Rolle als Vorgesetzte in diesem Machtspiel nicht einnimmt. Fremdbestimmung geht immer von der Institution, der sogenannten Fachlichkeit der Helferinnen und von der Verschleierung der wahren Machtverhältnisse aus.
„Ja, gut, teilweise möchten die [AssistentInnen] ihren Willen durchsetzen, teilweise möchte ich meinen Willen durchsetzen, das sind so kleine Sachen, dass sie halt nicht sauber machen, wenn sie es sollen […]“
„Ja, es ist…, es ist so ein Gemisch aus Selbstbestimmung und Abhängigkeit, weil wenn ich so an meine Mitschriften denke, kann ich schon sagen, dass, wenn derjenige das für sich selber machen würde, bestimmt nicht so strukturiert machen würde oder sicherlich anders… […] Von daher ist das selbstbestimmt…. was… ja, wo das Selbstbestimmte aufhört, das… da kann man eigentlich… das kann ich eigentlich nie so genau sagen, weil ich… das ist so… weil mir das nie… ich kann das nicht genau sagen, weil mir nie einer gesagt hat „So, wenn Du das jetzt nicht so machst, dann geh ich oder mach ich nicht, ne“ und eigentlich ist klar, die Abhängigkeit ist dann gegeben, wenn, sag ich mal, die Schreibhilfe sagt „Nee, ich will jetzt nicht“, dann musst Du eben entweder halt vorher Ersatz haben, damit Du sagen kannst „Ja und, geh doch!“, oder Du musst dann halt sagen „Warum, was ist denn los?“. Da ist für mich die Abhängigkeit, dass man… ja, Du kannst zwar alles wollen, aber Du musst es auch im bestimmten Rahmen halten, Du musst die Leute kennen, Du musst wissen, wie weit Du gehen kannst, weil irgendwann hast Du dann, wenn Du nur auf dem Arbeitgeberstil bist, hast Du irgendwann die Leute vielleicht so gereizt, dass sie sagen „Ich geh jetzt“, und so was kann man sich dann nur erlauben, wenn man genug Leute… wenn man sagt „Ok, wenn Du keinen Bock mehr hast, ich hab hier noch zehn andere, dann nehm ich den.“ Und wenn Du das aber nicht hast, dann kannst Du Dir so was auch nicht erlauben. Und auch vom Zwischenmenschlichen her ist es nicht so toll, wenn Du einfach einen dann so behandelst.“
„Es gibt Leute, die aus dem pädagogischen Bereich kommen, wo man meint, die haben vom Studium her etwas theoretisch vielleicht gehört über Behinderte und wie man mit ihnen umgeht, gehört. Und das kann Konflikte geben.“
„Ich bin natürlich in gewissen Dingen abhängig, halt, wie schon gesagt, wenn es um handschriftliche Sachen geht, weiß ich, dass ich jemanden benötige, der mir etwas vorliest, als Beispiel. Ich bin zwar abhängig, sehe mich da aber nicht in einem Abhängigkeitsverhältnis der Arbeitsassistenz, sondern es ist halt jemand, der da ist, vergleichbar mit einem technischen Hilfsmittel oder einer Lupe oder so. Das kann man natürlich nicht mit einem Hilfsmittel gleichsetzen.“
„Ich bin natürlich immer abhängig von diesen Hilfestellungen, ne?! Ich bin sowohl von den Hilfepersonen wie auch von den Hilfskräften, also den bezahlten Kräften abhängig, das lässt sich auch meiner Meinung nach nicht auflösen, die Abhängigkeit. Nur ich würde schon sagen, dass ich diese Abhängigkeit relativ selbstbestimmt organisiere.“
„Und insofern mag ich es halt lieber, wenn die Leute da nicht groß irgendwie professionalisiert sind und denken: Ja, ich mach das jetzt so, wie ich es gelernt habe, weil das besser ist, sondern wenn die Leute halt einfach kommen und mich dann halt fragen, wie das ist.“
Die einzelnen Aussagen der Assistenznehmerinnen machen deutlich, dass auf der einen Seite immer wieder die Fremdbestimmung durch die Assistentinnen in die Arbeitgeber-/Arbeitnehmerfunktion einfließt, auf der anderen Seite aber auch Abhängigkeit von den Helferinnen erlebt wird. Hier hilft nur, dass die Assistenznehmerinnen in einem klaren Rahmen ihre Arbeitgeberinnenfunktion durchsetzen. In diesen Interviewaussagen wird aber auch deutlich, dass Abhängigkeit erlebt wird und das Angst entsteht, die Assistentinnen zu verlieren.
Die Abhängigkeit, die die befragte Assistenznehmerin erlebt, ist nicht abzubauen. Die Abhängigkeit besteht immer dort unauflöslich, wo jemand einer anderen Arbeit überlässt oder überlassen muss. Die Eignerin eines Betriebes ist in der gleichen Weise abhängig von ihren Beschäftigten. Diese Art der Abhängigkeit kann nur durch eine klare Arbeitgeberinnenposition geregelt und teilweise kompensiert werden, aber sie ist immer da – in unserem Beispiel hat sie Furcht, die Assistentin könnte gehen, in anderen Zusammenhängen regiert die Angst um die Qualität der durchgeführten Arbeiten. In all diesen Fällen können nur Qualifizierung der Arbeitnehmerinnen – sprich Assistentinnen – und eine klare Arbeitgeberinnenposition Abhilfe schaffen.
Institutionen
Dem Grundgedanken der Selbstbestimmung wirken fast immer die Institutionen der Behindertenhilfe entgegen. Diese entwickeln formale Strukturen und Sachzwänge, die den Behinderten übergestülpt werden und sie fremdbestimmen (vgl. Goffman, 1973). In diesem Zusammenhang beschränken Institutionen immer die Aneignungsmöglichkeiten derer, die diesen Zwängen ausgesetzt sind: Versorgung, Großküchen, Zentrale Wäschereinigung, Medikamentenausgabe, festgesetzte Zeiten für Mahlzeiten und für das Zubettgehen. Gesetzte und gewachsene Rituale verstellen der einzelnen die Möglichkeiten der Vielfalt der Aneignung, aber auch die Möglichkeiten der Selbstbestimmung in diesen Bereichen. Der Lebens-, Erfahrungs- und Aneignungsraum ist nicht mehr das Konfliktfeld täglichen Lebens, sondern ein mehr oder minder geordneter, einengender Rahmen fremdbestimmter Setzungen. Nach Goffman sind solche Einrichtungen Totale Institutionen (Goffman, 1973, S. 11). So lassen sich die Wohnstätten einer Vielzahl ähnlich gestellter Individuen, die für lange Zeit – wenn nicht für immer – von der übrigen Bevölkerung separiert sind, und in denen die Bewohnerinnen miteinander ein abgeschlossenes, formal reglementiertes Leben führen, als Totale Institutionen bezeichnen.
- Kennzeichnende Faktoren, die die Aneignungs- und Lebensmöglichkeiten der einzelnen in dieser formalen Reglementierung einengen, sie fremdbestimmen, können sein oder sind:
- Zusammenlegung vieler Gleicher auf engem Raum
- Elementare Bereiche der Intimsphäre sind ungeschützt
- Isolierte Standorte weitab mit eingeschränktem Kontakt zur Außenwelt
- Hierarchische Machtstrukturen (Medizinische, Pädagogische und Pflegerische Hierarchiesäule), die Bewohnerinnen Macht unterwerfen, von Entscheidungsebenen fernhalten und sie damit fremdbestimmen
- Zeitpläne organisieren das tägliche Leben (Anziehen, Waschen, Arbeit, Freizeit)
Anthes hat 1975 mehr als 500 Hausordnungen von Heimen in NRW und Bayern untersucht und ausgewertet. Er kommt zu dem Schluss, dass dort einerseits der Privatbereich gering geschätzt und dass die abendliche Rückkehr in die Institution in 90% der Fälle beschränkt wird (vgl. Anthes & Karsch, 1975). Kenner der Situation behaupten oft, dass die Bestimmungen des Strafvollzugs bisweilen mehr freie Entfaltungsmöglichkeiten lassen als das in Heimen erkennbar ist. Die nachfolgende Hausordnung eines Heims vom März 1995 operationalisiert die Theorie Goffmans:
Präambel
Der … ist Träger des Wohnhauses … mit … Dauerwohnplätzen für behinderte Mitbürger. Das Wohnhaus besteht aus … in sich gegliederten Wohnbereichen, die die Gesamtheit des Wohnhauses bilden. Hausbewohner und Mitarbeiter bilden eine Hausgemeinschaft. Gegenseitige Achtung und gegenseitiges Vertrauen sollen das Verhältnis zueinander bestimmen. Die persönliche Freiheit jedes Einzelnen findet nur dort eine Grenze, wo es die Rücksichtnahme auf andere erfordert. Über die notwendige Betreuung und Versorgung hinaus möchten die Mitarbeiter durch Anregungen und gezielte Hilfestellungen die Persönlichkeitsentwicklung der Hausbewohner so weit wie möglich fördern, Wünschen und Bedürfnissen in geeigneter Form Rechnung tragen und zu einem rücksichtsvollen und friedvollen Zusammenleben beitragen. Diesem Anliegen soll auch die Hausordnung dienen, da ein vertrauensvolles Miteinander entsprechender Reglung bedarf, die von jedem Hausbewohner zu beachten sind. Die vertraglich zugesicherten Leistungen des Hauses umfassen die Bereitstellung des Zimmers und der Gemeinschaftseinrichtungen sowie Verpflegung, Angebote im pädagogisch-therapeutischen Bereich und die Betreuung und Pflege.
Tagesablauf
- Am Tage mit Werkstatteinsatz wird um 6.00 Uhr geweckt, danach ankleiden und Zimmer richten
- Gemeinsames Frühstück 6.45 Uhr
- Abfahrt zu den Werkstätten zwischen 7.00 Uhr und 7.40 Uhr
- Rückkehr gegen 15.40 Uhr – Kaffeetrinken
- Freizeitangebote bis zum Abendessen
- Abendessen zwischen 18.00 Uhr und 19.00 Uhr im jeweiligen Wohnbereich
- Nach dem Abendessen Freizeit zur eigenen Verfügung oder gemeinsame Aktivitäten
- 22.00 Uhr Nachtruhe, die für alle Bewohner verbindlich ist.
Bei Freizeitaktivitäten und besonderen Anlässen kann der Tagesablauf entsprechend angepaßt werden. Dies soll mit den Hausbewohnern, den Mitarbeitern und der Hausleitung abgesprochen werden.
Regelungen an den arbeitsfreien Tagen, sowie an den Wochenenden werden zwischen Hausbewohnern, Mitarbeitern und der Hausleitung einvernehmlich getroffen
Telefonate
Anrufe können bis 20.30 Uhr vermittelt werden. Die Essenszeiten sind grundsätzlich ausgenommen. Privatanrufe sind am Clubtelefon zu führen (Erdgeschoss).
Besuchszeiten
Besuche können grundsätzlich zwischen 16.00 Uhr und 20.00 Uhr stattfinden. Die Besuche sind mit der Hausleitung und den Mitarbeitern abzustimmen.
Die Mitarbeiter
Die Hausleitung und alle Mitarbeiter stehen den Bewohnern zu Diensten. In allen Angelegenheiten können sie sich vertrauensvoll an die Gruppendienstmitarbeiter sowie die Hausleitung wenden.
Allgemeine Punkte
Wünschenswert ist die individuelle Gestaltung des eigenen Zimmers, jedoch in Rücksichtnahme auf einen eventuellen Mitbewohner und in Absprache mit der Hausleitung und den Mitarbeitern. Das Aufstellen und der Gebrauch elektrischer Geräte ist vorher mit der Hausleitung abzustimmen, da die Brandverordnung beachtet werden muss. Jeder Bewohner hat, soweit er dazu in der Lage ist, sein Zimmer selbst in Ordnung zu halten. Musik muss auf Zimmerlautstärke eingestellt werden.
Wertsachen sollen unter Verschluss genommen werden, da keine Haftung übernommen wird.
Auftretende Mängel oder Beschädigungen sollen möglichst sofort bei den Mitarbeitern gemeldet werden.
Wegen der großen Brandgefahr ist das Rauchen auf den Zimmern untersagt. Rauchen ist nur im Gemeinschaftsraum gestattet. Haustiere (Fische, Vögel und Meerschweinchen) können in Absprache mit der Hausleitung mitgebracht werden.
Sonstiges
Gottesdienstbesuche an Sonn- und Feiertagen sind in der Pfarrkirche sowie in den umliegenden Kirchen möglich. Bei einem Verlassen des Hauses mögen sich die Bewohner beim zuständigen Mitarbeiter abmelden und sich wieder anmelden. Die Wäsche wird regelmäßig im Hause gewaschen….
Man kann ohne Übertreibung sagen, dass in diesem Heim ein solches Maß an Fremdbestimmung herrscht, dass die Heimbewohner als fremdbestimmte Heiminsassen bezeichnet werden können. Ihnen fehlt jede Selbstbestimmung. Aber auch Behinderte, die noch in der Familie leben, werden fremdbestimmenden Faktoren ausgesetzt. Betroffene, die unter solchen Umständen leben, werden häufig den Sachzwängen der Familienabläufe bzw. den dort vorherrschenden Problemlösungsstrategien unterworfen. Aussagen zweier Assistenznehmerinnen:
„Aber das ist bei der Familie anders, die Familie könnte sagen: „Ich habe keine Lust dazu, Deine Fenster zu putzen, das mach ich ein andermal.“ Das ist schon ein bisschen was anderes.“
„Mit der Familie ist das ja immer so eine Sache. […] Ich weiß, dass ich so schnell keine Haushaltsführung oder -assistenz [als seine Mutter] hätte organisieren können, innerhalb von zwei Wochen teilweise, und deshalb war es in gegenseitigem Einvernehmen, aber wirklich nur für eine Übergangszeit, länger hätte ich das auch nicht gewollt. Das ist schon eher so ein Abhängigkeitsverhältnis als durch eine Arbeitsassistenz.“
Die gleichen Mechanismen wirken bei Freundinnen oder Bekannten. Auch hier kann man die Hilfe nur im gegenseitigen Einvernehmen organisieren, kaum zu dem Zeitpunkt, an dem man sie in einer gewissen Form braucht. Das macht die Aussage einer behinderten Frau deutlich:
„Ja, man kann natürlich, wenn man von Freunden ausgeht, kann man natürlich sagen, dass das nicht immer dann ist, wenn man das vielleicht gerade jetzt will. Weil man auch eher sagen würde: Komm, ich muss das jetzt machen, sollen wir das morgen oder übermorgen machen?“, und dann können die gerade nicht, dann kann man das natürlich auch nicht verlangen. Das ist dann die Sache, wenn man keinen bezahlten Helfer für sich alleine hat. Die sagen dann: „Ja, komm, am Samstag können wir das machen, da habe ich Zeit“ oder so. […] Ja, so habe ich es bis jetzt gemacht [gewartet, bis die FreundInnen sie z.B. zum Möbelgeschäft begleiten können].“
Die unterschiedlichen Formen der Sachzwänge in der Familie bzw. bei der Organisation der Hilfe durch Freundinnen lassen sich nicht aufheben. Die Hilfebedürftige ist immer diesen Abhängigkeiten ausgesetzt und kann nur durch Assistenz zu einer selbstbestimmten Organisation der Hilfe kommen. Das verdeutlicht die Aussage einer befragten Assistenznehmerin:
„Habe ich keine Assistenten, bin ich dann angewiesen auf Freunde, Bekannte, Familie. Das war z.B. besonders blöd, als drüben die Wohnung zu renovieren [war], da muss man ja viel herumfahren und Sachen aussuchen. Das war wirklich doof, weil da war ich halt immer angewiesen auf irgendwelche Leute, die dann mit mir da hinfahren. Ja. […] Freunde, Kollegen, Geschwister, Eltern.“
Fachlichkeit der Mitarbeiterinnen
Mitarbeiterinnen der Behindertenhilfe müssen meiner Meinung nach eine veränderte Fachlichkeit mitbringen, um Fremdbestimmung entgegenzuwirken und Selbstbestimmung zu ermöglichen. Sozialberuflerinnen (z.B. Heilpädagoginnen, Sozialpädagoginnen, Sonderpädagoginnen, Sozialarbeiterinnen, Erzieherinnen, Heilerziehungspflegerinnen u.a.) erfahren bis zum heutigen Tag eine leider typische Professionalisierung, die Mitarbeiterinnen und Helferinnen ihrem Selbstverständnis nach zu Expertinnen über die Probleme ihrer Zielgruppen macht. Diese Art Fachlichkeit bestreitet ausdrücklich das Expertentum Betroffener. „Je spezialisierter und professionalisierter die Erzieher, desto bildungsbedürftiger, ja passiver und behandlungsbedürftiger der Laie. Ihnen wird das Wissen über sich selbst abgesprochen in dem Maß, wie professionelle ,Kompetenz‘ wirksam wird“ (Schumann, 1979, S. 76). Ein solches Expertentum, dass einer „Enteignung sozialer Problemlösungskompetenz“ (Marzahn, 1979, S. 82) gleichkommt, steht jedem Leitgedanken der Selbstbestimmung Behinderter entgegen. Hier ist eine andere Fachlichkeit gefordert: Akzeptanz des Expertentums Betroffener und die Fähigkeit zur Kooperation mit ihnen aus der Position der geminderten Macht, also aus der Rolle als Arbeitnehmerin der Betroffenen heraus.
Verschleierung der wahren Machtverhältnisse
Wenn die Macht in einer Totalen Institution und die Macht, der die Behinderte durch bevormundende Fachlichkeit in direktem Helferbezug ausgesetzt ist, nicht verändert oder wenn sie gar verschleiert wird, ist weder Selbstbestimmung noch Assistenz möglich. Das heißt: Selbstbestimmung
und Assistenz sind nur außerhalb Totaler Institutionen machbar und die veränderte Fachlichkeit der Helferinnen, sprich Assistentinnen, ist unabdingbare Voraussetzung für die Selbstbestimmung Behinderter. Augenblicklich kann im Behindertenhilfesystem beobachtet werden, dass Selbstbestimmung Behinderter, also auch das Paradigma Selbstbestimmt Leben, von mehreren Strategien der Behindertenhilfe bedroht wird:
- Sinnentleerte Inflationierung des Selbstbestimmungs- und des Assistenzbegriffs
- Unterwerfung des Selbstbestimmungs- und Assistenzgedankens unter die Macht der Pädagogisierung der Assistenznehmerinnen
- Bedingungen, die Selbstbestimmung und Assistenz verhindern oder ermöglichen
- Sinnentleerte Inflationierung von Begriffen.
Die Behinderten- und Krüppelbewegung hat in den vergangenen 25 Jahren in ihrer Kritik am Behindertenhilfesystem eine bestimmte Begrifflichkeit entwickelt und jeden einzelnen Begriff mit bestimmten Inhalten gefüllt (z.B. Selbstbestimmung, Assistenz, Nichtaussonderung usw.). All diese Begriffe wandten und wenden sich gegen Fremdbestimmung und Ausgrenzung aus der Gesellschaft. Sie sind in ihrer Begrifflichkeit mit diesen Inhalten besetzt und umreißen in einem Wort umfassende Konzepte der Politischen Selbsthilfe Behinderter. Sie sind nur so zu verstehen, wie sie aus dieser geschichtlichen Entwicklung der Politischen Selbsthilfe gedacht waren. Eckhard Rohrmann nennt in seinem Beitrag „Integration und Selbstbestimmung für Menschen, die wir geistig behindert nennen“ solche Begriffe Kampfbegriffe (vgl. Rohrmann, 1994) und zeigt an den Beispielen Solidarität, Integration, Autonomie, wie mit politischen Inhalten solcher Begriffe umgegangen wird:
„Neue Begriffe, jeweils in kritischer Absicht eingeführt, unterliegen mit der Zeit mehr oder weniger dem gleichen Schicksal: Sie werden inflationiert, auch und gerade von denjenigen übernommen, gegen die sie sich ursprünglich gerichtet hatten und dabei mehr und mehr inhaltlich aufgeweicht, unverständlich und ihrer ursprünglich kritischen Potenz zusehends beraubt. Dieses Schicksal wiederfuhr dem Solidaritätsbegriff, ursprünglich ein Kampfbegriff der Arbeiterbewegung gegen die Kapitaleigner und ihre Sachwalter, welcher heute in der seichten Bedeutung einer aller gesellschaftliche Widersprüche leugnenden freundlichen Miteinanders dem Umgang von Menschen untereinander auch konservativen Politikern und erklärten Gegnern der Ziele jener Arbeiterbewegung leicht über die Lippen geht, ja neuerdings in der euphemistischen Wortkreation Solidarpakt in das genaue Gegenteil seiner ursprünglichen Bedeutung verkehrt werde. …
Integration und zunehmend auch Selbstbestimmung werden heutzutage als geradezu selbstverständliche Zielsetzungen beinahe jeglicher Praxis in der Arbeit mit Behinderten genannt, wenn auch nicht selten in die sinnersetzende Formel eingebettet, soviel Integration und Selbstbestimmung wie möglich‘ und zwar auch von denen, gegen deren Praxis beide Begriffe ursprünglich gerichtet waren. Nur zu einem geringen Teil lässt sich das auf eine diesbezüglich geänderte Praxis zurückführen. Wie Integration so ist auch der Selbstbestimmungsbegriff längst von einem kritischen Programm zu einer begrifflichen Dekoration auch solcher Praxis verkommen, die Integration und Selbstbestimmung im jeweils ursprünglich gemeinten Sinne diametral zuwiderläuft (ebd. S. 19)
Mit anderen Worten: Man verändert nicht die Praxis, Behinderte in Heime und Anstalten auszugrenzen, nennt aber die Wärterinnen inhaltsentleert Assistentinnen. Rohrmann schlägt vor, diese Begrifflichkeiten zu rehistorisieren und zu radikalisieren und „die hinter ihnen verborgenen Programme auf ihre Ursprünge zurückzuführen, d.h. auf die Verhältnisse, auf die Praxis, deren Negation sie ihren eigenen Ansprüchen nach sein wollten und – möglicherweise anfangs auch waren“ (ebd. S. 19 f).
Auch der Begriff Selbstbestimmung oder Selbstbestimmt Leben – in der Untersuchung „Behinderte Menschen in Nordrhein-Westfalen“ (Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen, 1993) als Paradigmawechsel beschrieben, muss unter diesen Gesichtspunkten – also der durch den Kampf gegen Fremdbestimmung eingebrachten Inhalte – rehistorisiert und auf diese Inhalte hin radikalisiert werden, um in der Behindertenhilfe diese Konzepte von Selbstbestimmung und Assistenz wach zu halten und dem Inhalt nach umzusetzen.
Wenn Adolf Ratzka, Betroffener und Vertreter der Behinderten-Autonom-Leben-Bewegung, schreibt: „Wir müssen endlich einsehen, dass eigene Erfahrungen von Behinderung und das Bewusstsein, einer unterdrückten Minderheit anzugehören, unerlässliche Voraussetzungen und Qualifikation für ernsthafte und erfolgreiche Behindertenpolitik ausmacht“ (Ratzka, 1988, S. 183 ff), dann ist das eine historische und radikale Inhaltsaussage, die ein Hilfesystem bestimmen muss und Selbstbestimmung Betroffener aus dem historischen Zusammenhang als Programm der Behinderten-Autonom-Leben-Bewegung charakterisiert.
Ähnlich verhält es sich dort, wo der Begriff Assistenz inhaltsentleert für den im alten Behindertenhilfesystem verankerten Profi eingesetzt wird. Diese Manipulation darf nicht geschehen, weil der Assistenzbegriff, der als Antwort auf Fremdbestimmung entstanden ist, auf diesen Ursprung zurückgeführt werden muss, um zu erkennen, was Betroffene im Kampf gegen fremdbestimmende Strukturen (Institution und Fachlichkeit) mit diesem Begriff verbunden haben. Die Assistenz dreht die Machtverhältnisse von Arbeitgeber (Institutionen) und deren verlängertem Arm (Fachleute) auf der einen Seite und den Behinderten als ohnmächtige Opfer, die dem Machtpotential der Institutionen und sogenannter Fachleute ausgesetzt sind, um. Assistenz macht das Opfer des alten Systems (weniger mächtige Behinderte) zur mächtigeren Arbeitgeberin und die Helferinnen zu machtlosen Gehilfinnen ihrer anordnungsberechtigten Arbeitgeberinnen. Es werden die Verhältnisse auf den Kopf gestellt, um den Betroffenen Selbstbestimmung zu ermöglichen. So ist in der Theorie immer wieder davon die Rede, dass im Assistenzsystem die betroffenen Behinderten, die Personal-, Organisations-, Anleitungs- und Finanzkompetenz haben. Kompetenz ist ein Schlüsselbegriff von Selbstbestimmung und Assistenz.
Das älteste deutsche Wörterbuch, das Grimm´sche Wörterbuch (1984) kennt den Begriff Kompetenz überhaupt nicht. Der Duden übersetzt das Fremdwort mit Zuständigkeit (Bibliographisches Institut, 1966). Das Fachwörterbuch im täglichen Gebrauch setzt für Kompetenz Anordnungsrecht und Zuständigkeit und erwähnt die Kompetenzkompetenz als das Recht, über den Umfang seiner Zuständigkeiten zu entscheiden (Mackensen, 1981). Mackensen erklärt in seinem Etymologischen Wörterbuch der deutschen Sprache das Adjektiv kompetent mit seiner Herkunft in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts aus dem Lateinischen „competens“ und übersetzt es als rechtlich zuständig (Mackensen, 1985). Im Synonymwörterbuch (Görner & Kempcke, 1985) werden die Wörter Kompetenz und kompetent in gleicher Weise als zuständig und Zuständigkeit verstanden.
Es kann über die Inhalte des Kompetenz-Begriffs keinen Zweifel geben. Im Kampf gegen fremdbestimmende Strukturen und Fachlichkeit haben Betroffene die Zuständigkeit für ihre eigene Person, für ihr eigenes Leben gefordert, erkämpft und übernommen. Die Zuständigkeit für das eigene Leben ist quasi ein Bestandteil der Autonomie – sprich Selbstbestimmung – eines jeden Individuums. Jeder Mensch ist autonom, jeder Mensch hat die Zuständigkeit für sich und sein Leben, hat also alle Kompetenzen seiner eigenen Person in Händen.
Mir drängt sich hier ein Vergleich auf, der die Zuständigkeit für die eigene Person verdeutlicht: Im Rahmen der Aufklärung und der Französischen Revolution wurden die Menschenrechte erkämpft und erklärt. Dabei handelt es sich um unveräußerliche Grundrechte eines jeden Individuums – quasi Naturrechte, die jedem Menschen zustehen, unveräußerlich gegeben sind, gleich ob das Land, in dem er lebt, diese Menschenrechte anerkannt hat, also der einzelnen zugesteht oder nicht. Die politische Gefangene in irgendeinem Land der Welt ist im Besitz dieser Grundrechte, dieser Menschenrechte, selbst wenn man sie verfolgt, einsperrt, möglicherweise foltert. Das, was man ihr antut, ist und bleibt Unrecht, das verurteilt und gesühnt werden muss, selbst, wenn das tatsächlich oft nicht gelingen sollte.
In ähnlicher Weise sind Menschen zuständig für die eigene Person, sie haben alle Kompetenzen in Händen. Selbst wenn sie aus Gründen einer Funktionseinschränkung infolge einer Schädigung diese Zuständigkeit nicht eigenständig verwirklichen können, bleibt alle Kompetenz für ihr eigenes Leben in ihren Händen. Man muss dann höchstens darüber nachdenken, wie man ihnen helfen kann, diese Zuständigkeit in ihrem Leben umzusetzen. Man muss nachdenken, wie man ihnen assistieren kann (Assistierende Hilfe), ihre Selbstbestimmung und ihre Zuständigkeit für ihr eigenes Leben zu verwirklichen – ohne Fremdbestimmung und ohne bevormundende Hilfe. Sie sind und bleiben zuständig für sich – ihre Person und ihr Leben! Es gibt im Sinne der Menschenrechte nicht die Unterscheidung zwischen Menschen und Menschen, es gibt im Sinne der Selbstbestimmung und der Zuständigkeit für sich ebenso wenig die Unterscheidung zwischen Menschen und Menschen.
Alle Behinderten sind in diesem Sinne zuständig für ihr eigenes Leben. Sie sind kompetent für ihre Person und sie haben das Recht, ohne Fremdbestimmung selbstbestimmt zu leben. Keine kann sagen: „Die und die kann nicht zuständig sein für das eigene Leben – sie ist zu schwer behindert – im Sinne von beeinträchtigt!“ Es gibt viele denkbare Möglichkeiten, Selbstbestimmung zu praktizieren und der Betreffenden die Zuständigkeit für ihr Leben zu belassen: Die eine wird qualifizierte Arbeitgeberin in der direkten Assistenz, die andere schließt sich in indirekter Assistenz einer Assistenzorganisation an, wälzt damit Aufgaben ab und kontrolliert die Organisation über ihre Organe – beispielsweise einen Assistenzverein über die Mitgliederversammlung. Eine Dritte nutzt einen Auflesedienst oder einen Umsetzungsdienst für Literatur, kontrolliert die Qualität der Umsetzung über Kriterien, die von Behinderten erarbeitet wurden. Eine Vierte nutzt ein beliebiges Dienstleistungsangebot und übt Selbstbestimmung durch das Wechseln zu einer anderen Dienstleisterin. Eine Fünfte braucht Assistierende Hilfe, um Assistenz einzusetzen. Die Nächste braucht Assistierende Hilfe, um Selbstbestimmung in ihrem Leben zu verwirklichen. Entscheidend dabei ist, dass jeweils die Wahlmöglichkeit gegeben ist, ohne Fremdbestimmung und ohne Bevormundung. Diese Inhalte von Selbstbestimmung und Assistenz im Sinne von Zuständigkeit für die eigene Person und das eigene Leben sind die Rehistorisierung und Radikalisierung der konzeptionellen Inhalte dieser Begrifflichkeit, sie müssen in allen Fällen Ausgangspunkt für Selbstbestimmung und Assistenz sein. Das ist unveräußerliches Recht aller Menschen.
Häufig wird der Kompetenzbegriff im Zusammenhang mit Assistenz gänzlich verbogen, weil die Begrifflichkeit offensichtlich falsch interpretiert wird. Immer wieder begegnet man der Argumentation: „Dieser Mensch ist aber doch so schwer beeinträchtigt, ja sogar mehrfach beeinträchtigt, dass er Selbstbestimmung und Assistenz nicht in sein Leben umsetzen kann!“ Bei diesem Beispiel wird der Autonomiebegriff (Selbstbestimmung) und der Kompetenzbegriff (Assistenz oder Assistierende Hilfe) sinnentstellend verstanden.
Selbstbestimmung ist nie ein Alles-oder-Nichts-Prinzip oder gar ein Synonym zu Selbstverwirklichung. Selbstbestimmung heißt, sich für eine Möglichkeit zu entscheiden und zwar in Abwesenheit institutionalisierter Zwänge und bevormundender Fachlichkeit. Das ist die Definition, die rehistorisiert und radikalisiert (vgl. Rohrmann, 1994) gemeint ist und die es gilt, im Leben eines Individuums über Assistenz oder mit Assistierender Hilfe zu verwirklichen. Kein Mensch auf dieser Welt – gleich ob behindert oder nichtbehindert – ist gänzlich selbstbestimmt. Wir sind alle auf dem Wege. Aber für behinderte Menschen ist entscheidend, dass in der Aneignung von Selbstbestimmung Fremdbestimmung und Bevormundung keine Rolle spielen. Wenn sich dieser Rahmen findet und zwar ohne Wenn und Aber, dann eignen sich Menschen Selbstbestimmung an. Dann sind wir im Behindertenhilfesystem auf einem richtigen Kurs und verändern dieses System in die richtige Richtung. Wer nicht bereit ist, das zu akzeptieren und das zur Voraussetzung zu machen, stabilisiert ein überkommenes Hilfesystem und gibt die Inhalte unseres Kampfbegriffes Selbstbestimmung gegen Fremdbestimmung auf, inflationiert diese Begrifflichkeit in unzulässiger Weise.
Nach dem gleichen Grundprinzip definiert sich der Begriff Kompetenz als Zuständigkeit oder Anordnungsmacht (s.o.) im Zusammenhang mit Assistenz: Wir sind zuständig für uns, unser Leben und können innerhalb des Begriffs Assistenz weder die Fremdbestimmung durch Institutionen noch Bevormundung akzeptieren. Der Begriff wird gänzlich entstellt, wenn – und das geschieht häufig – Kompetenz nicht als Zuständigkeit, sondern als Fähigkeit verstanden wird. Dies geschieht seltsamerweise häufig in der Alltagssprache – oft wird aber auch bei Wissenschaftlerinnen und bei in der Behindertenarbeit Tätigen der Begriff als Fähigkeit uminterpretiert. Unter einer solchen Voraussetzung gehen ganze Systeme, die sich auf diese falsche Interpretation aufbauen, in eine verkehrte Richtung.
Pädagogisierung der Assistenznehmenden
Selbstbestimmung und Assistenz machen uns Behinderte von Objekten der Fremdbestimmung und der Bevormundung zu Subjekten der eigenen Entscheidungen und der Zuständigkeit für uns und unser Leben – völlig unabhängig von der Schwere der Beeinträchtigung. Wir werden vom Objekt der Fremdbestimmung zum Subjekt eigenen Handelns (vgl. Steiner, 1974b). Wenn verhindert wird, dass wir Selbstbestimmung ohne Fremdbestimmung und ohne Bevormundung und dass wir Zuständigkeit (Kompetenz) für uns und unser Leben erlangen, dann bleibt das alte Verhältnis von Macht und Ohnmacht zu unseren Lasten bestehen. Dann wird die Umkehr der alten Machtverhältnisse „Behinderter / Institution und Bevormundung“ verhindert, und wir können keine Selbstbestimmung, keine Zuständigkeit über uns und unser Leben erlangen. Das passiert immer, wenn im oben beschriebenen Sinne gedacht und so gehandelt wird, als hieße Kompetenz dasselbe wie Fähigkeit.
Ich kann in diesem Sinne Pädagoginnen, Sonderpädagoginnen und alle Fachleute des überkommenen Behindertenhilfesystems nur davor warnen, die Kampfbegriffe der Politischen Behindertenbewegung zu inflationieren oder zu pädagogisieren, uns also unter der Wahrung alter Machtverhältnisse Fähigkeiten zur Selbstbestimmung und zur Assistenz vermitteln zu wollen. Denn wer durch pädagogische Methoden aus alten Machtstrukturen heraus – oder mit Bevormundung – uns fähig machen will, aus der „Sklaverei entlassen“ zu werden, übt unverkennbar die überkommenen Machtstrukturen aus und entscheidet aus dieser Position heraus, wer von uns das Ziel erreicht und wer sich nicht über die Ziellinie schleppen kann. Natürlich müssen wir uns auch Fähigkeiten aneignen, um Selbstbestimmung und Assistenz zu praktizieren, aber das kann nur geschehen, wenn Aneignungsräume frei von Zwängen der Institutionen und ohne Bevormundung durch die alte Fachlichkeit geschaffen werden.
Literatur
· Anthes, Jochen; Karsch, Norbert (1975). Zur Organisationsstruktur des Altenheims: eine Inhaltsanalyse der Hausordnungen von Altenheimen in Nordrhein-Westfalen und Bayern. Kuratorium Deutsche Altershilfe Wilhelmine-Lübke-Stiftung Köln (Hrsg.), Köln: Selbstverlag.
· Bibliographisches Institut (1966). DUDEN. Fremdwörterbuch. Karl-Heinz Ahlheim (Bearb.), Mannheim: Duden.
· Cleaver, Eldridge (1969). Seele auf Eis. München: Carl Hanser.
· Daniels, S. v., Degener, T., Jürgens, A., Krick, F., Mand, P., Mayer, A., Rothenberg, B., Steiner, G. & Tolmein, O. (Hrsg.) (1983). Krüppel-Tribunal, Menschenrechtsverletzungen im Sozialstaat.: Köln: Pahl-Rugenstein.
· Goffman, Erving (1973). Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Frankfurt/ M.: Suhrkamp.
· Görner, Herbert & Kempcke, Günter (1985). Synonymwörterbuch – Sinnverwandte Ausdrücke der deutschen Sprache. Wiesbaden: Drei Lilien.
· Grimm, Jacob & Wilhelm (1984). Deutsches Wörterbuch. Band 16, Nachdruck, München: Deutscher Taschenbuch Verlag (Erstaufl. 1905).
· Klee, Ernst (1974). Behindertsein ist schön. Unterlagen zur Arbeit mit Behinderten. Düsseldorf: Patmos-Verlag.
· Klee, Ernst (1980). Ein kritisches Handbuch. Frankfurt / M.: Fischer.
· Mackensen, Lutz (1981). Das Fachwort im täglichen Gebrauch. München: Südwest.
· Mackensen, Lutz (1985). Ursprung der Wörter. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Wiesbaden: VMA.
· Marzahn, Christian (1979). Wer soll eigentlich die Probleme lösen? Sechs Thesen zum Verhältnis von Sozialpolitik und Selbsthilfe. In A. D. Brockmann, M. Liebel & M. Rabatsch (Hrsg.), Jahrbuch der Sozialarbeit 3, Reinbek: Rowohlt.
· Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.) (1993). Behinderte Menschen in Nordrhein-Westfalen. Wissenschaftliches Gutachten zur Lebenssituation von behinderten Menschen und der Behindertenpolitik in NRW. Düsseldorf: Selbstverlag.
· Ratzka, A. (1988). Aufstand der Betreuten. In A. Mayer & J. Rütter, Abschied vom Heim (S. 183 – 201), München: AG-SPAK.
· Rohrmann, Eckhard (1994). Integration und Selbstbestimmung für Menschen, die wir geistig behindert nennen. In Zeitschrift für Heilpädagogik, 45, Heft 1, 19 – 28.
· Schumann, M. (1979). Professionalisierungsansätze und Vergesellschaftungsformen sozialer Arbeit. In: A. D. Brockmann, M. Liebel & M. Rabatsch (Hrsg.), Jahrbuch der Sozialarbeit 3, Reinbek: Rowohlt.
· Steiner, Gusti (1974a). Entwurf eines neuen Selbstbewußtseins. In: E. Klee, Behindertsein ist schön (122 – 133), Düsseldorf: Patmos.
· Steiner, Gusti (1974b). Vorüberlegungen zur Arbeit mit Behinderten. In E. Klee (Hrsg.), Behindertsein ist schön (S. 73 – 75), Düsseldorf: Patmos.
· Steiner, Gusti (1984). Rechtslexikon für Behinderte. Frankfurt: Fischer.
· Steiner, Gusti (1999). Selbsthilfe als politische Interessensvertretung. In E. Rohrmann & P. Günther, Soziale Selbsthilfe. Alternative, Ergänzung oder Methode sozialer Arbeit (S. 127 – 143), Heidelberg: Universitätsverlag, Ed. S.
· Vereinigung Integrationsförderung e. V. (VIF) (Hrsg.) & Schmidthuber, Wolfgang (Red.) (1981). Behindert ist, wer Hilfe braucht. Integration – ein praktisches Problem; Erfahrungen und Perspektiven. München: VIF.
· Vereinigung Integrationsförderung e. V, (VIF) (Hrsg.) & Schmidthuber, Wolfgang (Red.) (1982) Behindernde Hilfe oder Selbstbestimmung Behinderter. Neue Wege gemeindenaher Hilfen zum selbstständigen Leben. München: VIF.
Die im Text verwandten Originalaussagen von Assistenznehmern und -nehmerinnen entstammen den Interviews einer Untersuchung, die Birgit Drolshagen und Birgit Rothenberg an der Universität Dortmund erstellen; sie sind in diesem Zusammenhang zur Veröffentlichung freigegeben.
Gusti Steiner (* 1938; † 12. Juni 2004 in Dortmund) war Sozialarbeiter und der Begründer der bundesdeutschen emanzipatorischen Behindertenbewegung.
1973 rief er mit dem Publizisten Ernst Klee in Frankfurt am Main einen Volkshochschulkurs ins Leben, in dem Menschen mit Behinderungen lernen sollten, selbst ihre Lage zu verbessern.
Gusti Steiners Vorbild war die US-amerikanische Bürgerrechtsbewegung, die gegen Diskriminierung und für Gleichstellung kämpfte. In Analogie zu deren selbstbewussten Slogan Black is beautiful provozierte Gusti Steiner mit dem Slogan „Behindertsein ist schön“, den er auch zum Titel eines Buches machte, die professionelle Helferszene und die großen Wohlfahrtsverbände.
Behinderung war für ihn etwas Politisches, kein Gegenstand karitativer Fürsorge. Damit leitete Gusti Steiner, der bei einer anfangs kleinen, dann immer größer werdenden Gruppe von Menschen mit Behinderungen auf Resonanz stieß, einen Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik ein.
Ein wichtiges Instrument dafür war die Herausgabe des „Behindertenkalenders“, dessen Cover stets das Abbild dessen zierte, was Steiner auf keinen Fall sein wollte: „Unser Musterkrüppelchen – dankbar, lieb, ein bisschen doof und leicht zu verwalten.“
Einer der größten Erfolge dieser neuen Behindertenbewegung waren 1981 die Störaktionen gegen die offizielle Eröffnung des UNO-Jahres der Behinderten in der Dortmunder Westfalenhalle. Zusammen mit anderen Behinderten, darunter auch Theresia Degener und Franz Christoph, kettete sich Gusti Steiner auf der Hauptbühne an und verhinderte so, dass der damalige Bundespräsident Karl Carstens die Eröffnungsrede halten konnte.
Steiner war auch einer der Initiatoren des Krüppeltribunals gegen Menschenrechtsverletzungen im Sozialstaat, das im Dezember 1981 in Dortmund stattfand.
Eingehend setzte sich Gusti Steiner mit den Ursachen der Ausgrenzung Behinderter auseinander und forderte in diesem Zusammenhang, dass Behinderte selbst ihre Pflege und ihren Assistenzbedarf bestimmen sollten. Steiner kritisierte die großen Behinderteneinrichtungen und favorisierte, wiederum nach US-amerikanischem Vorbild, Independent-Living-Konzepte.
Gusti Steiner, der in einer Frühförderungseinrichtung des Diakonischen Werkes in Dortmund arbeitete, engagierte sich auch besonders für einen barrierefreien Personenverkehr. Vor allem die Deutsche Bahn AG geriet dabei immer wieder in sein Visier, weil sie die Bahnhöfe nicht barrierefrei gestaltete und auch ihre Züge nicht rollstuhlgerecht bauen ließ.
Gusti Steiner schlug aber auch stets den Bogen von der Aussonderung und Diskriminierung Behinderter zur Entwicklung sozialstaatlicher Regulierungsinstrumente gegenüber anderen Gruppen.
Bild: privat