Jedem Krüppel seinen Knüppel – Dortmund stand einmal im Zentrum der Behindertenbewegung

Die Selbstorganisation von Menschen mit einer körperlichen Behinderung begann erst Anfang der 1970er Jahre. Die Bewegung nahm schnell Fahrt auf, weil sie qualitativ etwas anderes, etwas Neues war. Anders war sie deswegen, weil bislang meist nichtbehinderte Funktionäre oder Eltern für die Menschen mit einer Behinderung eintraten. Diese Sichtweise wurde durch die Entwicklung der Krüppelbewegung nicht nur in Frage gestellt, sondern letztlich vehement und unbedingt abgelehnt. Menschen mit einer körperlichen Behinderung forderten für sich selbst die gleichen Rechte und Möglichkeiten, wie nichtbehinderte Menschen sie als selbstverständlich erachten.

Die aktivste und erfolgreichste Phase der Bewegung waren wohl die Jahre 1980/81, als sie ihre größte öffentliche Aufmerksamkeit erringen konnte. Die Aktionen gegen das UNO-Jahr der Behinderten 1981, Eröffnung der Messe Reha 81, bei der der damalige Bundespräsident Krüppelschläge abbekam und die Durchführung des Krüppeltribunals waren die öffentlichkeitswirksamsten Ereignisse. Sie konnten aber nicht die alltägliche zermürbende Arbeit der Behinderten im Kampf um Selbstbestimmung und gleiche Rechte  in den Schatten stellen, weil die Erfolge der Bewegung insgesamt unglaublich groß waren.Ende der 1970er Jahre wurde Dortmund zu einem Zentrum der schnell anwachsenden Behindertenbewegung. Dass dies so war, lag vor allem an Gusti Steiner, der damals als Sozialarbeiter in der Frühförderungsstelle des Diakonischen Werkes arbeitete.

Gusti Steiner war einer der Begründer der bundesdeutschen emanzipatorischen Behindertenbewegung.

Bereits Anfang der 1970er Jahre rief er mit dem Publizisten Ernst Klee in Frankfurt am Main einen Volkshochschulkurs ins Leben, in dem Menschen mit Behinderungen lernten, selbst ihre Lage zu verbessern. Gusti Steiners Vorbild war die US-amerikanische Bürgerrechtsbewegung, die gegen Diskriminierung und für Gleichstellung kämpfte.

Mit dem Slogan „Behindertsein ist schön“, provozierte er die professionelle Helferszene und die großen Wohlfahrtsverbände. Behinderung war für ihn etwas Politisches, kein Gegenstand karitativer Fürsorge, der er die Selbstbestimmung entgegensetzte. Damit leitete Gusti Steiner einen Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik ein. Ein wichtiges Instrument dafür war die Herausgabe des „Behindertenkalenders“, dessen Cover stets das Abbild dessen zierte, was Gusti Steiner auf keinen Fall sein wollte: „Unser Musterkrüppelchen – dankbar, lieb, ein bisschen doof und leicht zu verwalten.“

Uno Jahr 1981 „Einander verstehen-miteinander leben“

Einer der größten Erfolge dieser neuen Behindertenbewegung waren die Störaktionen gegen die offizielle Eröffnung des „UNO-Jahres der Behinderten“ in der Dortmunder Westfalenhalle.

Für das Jahr 1981 hatte die UNO das Jahr des Behinderten unter dem Motto: „Einander verstehen-miteinander leben“ ausgerufen. Schnell hatte sich die „Aktionsgruppe gegen das UNO–Jahr der Behinderten“ gebildet. Die Aktionsgruppe war davon überzeugt, dass das Jahr der Behinderten kaum positive Veränderungen bringen würde, sondern lediglich an den guten Willen aller appellieren würde. Die Reden und Festveranstaltungen waren für die Mitglieder der Aktionsgruppe eher eine Gefahr für die Anfänge der Selbstorganisation, ihren eigenen Forderungen widersprechend.

Die erste Reaktion in den Initiativen der Behindertenbewegung und den Krüppelgruppen darauf war, das Logo der Veranstaltung zu verfremden: die behinderte rote Gestalt hatte sich aus der fürsorglichen Umklammerung durch zwei blaue Figuren befreit und schlug mit einem großen Knüppel auf sie ein.

Der Slogan „Einander verstehen-miteinander leben“ wurde als nächstes durch „Jedem Krüppel seinen Knüppel“ ersetzt.

Anschließend ging es in die konkrete Vorbereitung der Protestaktionen der Eröffnungsveranstaltung in der Dortmunder Westfalenhalle.

Am Veranstaltungstag war es für alle Anwesenden ein bewegender Moment, als der „Krüppel- und Wohltäterzug“ in die Halle einzog. Es wurde erreicht, was im Vorfeld geplant war, von dem nur Eingeweihte wussten, aber was kaum jemand für möglich gehalten hatte: Der Zug besetzte die Bühne, auf der der Bundespräsident Karl Carstens, der Wehrmachtsoffizier und SA-Mitglied seine wohltätige Rede halten sollte. Dann ergriffen die Aktivisten selbst das Wort. Karl Carstens wollte auf einer Nebenbühne seine Rede halten, zog es dann aber vor, gar nicht zu sprechen.

Im Fokus der Öffentlichkeit waren keine Stellvertreter und Unterstützer. Auf der Bühne sah man nur angekettete Rollstuhlfahrer, Krückengänger, Psychiatrieopfer, Menschen ohne Arme, Blinde und Kleinwüchsige.

Man sah auch Polizisten, die sich doch im Hintergrund hielten. Was sollten sie auch tun? Etwa die Ketten sprengen oder jemanden im Rollstuhl festnehmen? Sie waren schlicht handlungsunfähig.

Die Überraschung war gelungen.

In aller Ruhe konnte die Resolution verlesen werden, in der sich das Aktionsbündnis gegen Sondereinrichtungen, Sonderhilfsmittel oder Sonderbehandlungen aussprach und die Anerkennung ihres Selbstvertretungsrechts forderte.

Ein wenig später erlebte der Bundespräsident Carstens die zweite Begegnung mit der selbstsicheren Bewegung.

Eröffnung der Messe „Reha 81“ mit Krüppelschlägen

„Carstens, haben Sie denn aus den Dortmunder Ereignissen nichts gelernt? Sie sind ja schon wieder Schirmherr“, das waren die Begrüßungsworte von Franz Christoph, ein Vertreter der „Krüppellinie“ innerhalb der Behindertenbewegung und ein talentierter Provokateur, gerichtet an den damaligen Bundespräsidenten bei der großen Messe Reha 81 in Düsseldorf.

Er ging mit der Krücke auf Karl Carstens los und schlug ihm damit vor das Knie. Damit der erste Schlag nicht als „Ausrutscher“ gedeutet werden konnte, schlug er ein zweites Mal zu, ohne dass die Sicherheitsleute und die Polizei einschritten.

Damit war die Feierstunde geplatzt, alle vorgesehenen Redner verzichteten auf ihre Beiträge.

Man muss sich vorstellen, dass erst 4 Jahre nach dem „Deutschen Herbst“ vergangen waren und Menschen mit einer linken Einstellung seitens Polizei, Justiz und Staatsschutz generell als RAF-Unterstützer unter Generalverdacht standen, hart verfolgt wurden und drakonische Strafen erhielten und hier jemand den Bundespräsidenten heftig und tätlich angriff und nichts passierte.

Besser konnte Franz Christoph gar nicht demonstrieren, dass Menschen mit Behinderungen, selbst wenn sie die Klischees sprengten und Gewalt ausübten, nicht als verantwortlich Handelnde ernst genommen wurden und mächtige Menschen handlungsunfähig machten. Durch die Aktion von Franz Christoph wurde auch deutlich, dass eine ernsthafte Gewaltdiskussion, die in anderen sozialen Bewegungen damals überall anzutreffen war, hier erst gar nicht aufkam. Die Gewalt der Verhältnisse, der sich Behinderte in der Bundesrepublik ausgesetzt sahen, war offenbar so gegenwärtig, dass eine abstrakte Gewaltdiskussion wenig Sinn zu ergeben schien, so hatte die konkrete Gewalt zweier Hiebe allenfalls wohl nur symbolische Bedeutung.

Krüppeltribunal in Dortmund

Das Krüppeltribunal, das sich mit Menschenrechtsverletzungen im Sozialstaat auseinandersetzte und erstmals die Behindertenpolitik zu einem Menschenrechtsthema gemacht hatte, war zusammen mit der Bühnenbesetzung ein Symbol dafür, dass behinderte Menschen sich mit der ihnen zugewiesenen Opferrolle und der Rolle als Objekte der Fürsorge nicht mehr zufriedengaben, sondern ihre Menschenrechte engagiert und wenn es sein muss auch provokativ einforderten.

So auch Ende Dezember 1981 im evangelischen Schalom Gemeindehaus in Dortmund-Scharnhorst. Dort versammelten sich rund 400 Menschen, dicht gedrängt vor einer Bühne und machten ihrer Empörung Luft. Große Transparente über der Bühne wiesen die Losungen „Rehabilitation spart Rente und Sozialhilfe“ und „Endstation Werkstatt“. Darüber hing ein großes Plakat: „Krüppeltribunal 1981.“

Angeklagt wurden lautstark die

  • Arbeitsbedingungen in den Werkstätten,
  • Aussonderungen Behinderter im Bildungssystem,
  • Menschenrechtsverletzungen in den psychiatrischen Einrichtungen,
  • besondere Unterdrückung behinderter Frauen,
  • Praktiken der Pharmaindustrie,
  • unangemessenen Einsätze von Psychopharmaka

und das mangelhafte Therapieangebot.

Das Krüppeltribunal 1981 fand, wie auch die anderen Aktionen in dem Jahr, großes Interesse bei den Medien, aber auch große Beachtung in der gesamten bundesrepublikanischen Gesellschaft. Die behinderten Menschen gingen in die Offensive und forderten die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen heraus, von denen sich viele schrittweise veränderten.

Die Behindertenbewegung flaut ab

Nach 1981 kam es zu einer „Flaute“ in der Behindertenbewegung. Die wenigen Menschen, die sehr aktiv in der Krüppelszene waren, zogen sich in ihre Städte zurück und arbeiteten auf regionaler Ebene weiter. Ein wichtiger Grund dafür war, dass die Jahre 1980/1981 sehr viel Kraft und Engagement gekostet hatten. Aber auch die Frustration darüber, dass sich zwar einiges geändert und sich das Bild des behinderten Menschen in der Gesellschaft durch die Krüppelbewegung gewandelt hatte, doch viele Strukturen von früher noch vorherrschten.

Es gab z.B.

  • keine ausreichend finanzierte ambulante Pflege
  • keine Arbeitsplätze auf dem ersten Arbeitsmarkt
  • keinen behindertengerechten öffentlichen Nahverkehr
  • die Entmündigung nach wie vor, auch weil die Sozialgesetzbücher noch nicht verabschiedet waren

und wieder die Bioethikdiskussion und die damit eng verbundene neue Euthanasiebewegung.

Als Erfolge der Behindertenbewegung nach 1981 müssen angeführt werden, dass das Diskriminierungsverbot ins Grundgesetz geschrieben wurde und die internationale Vernetzung der globalen Behindertenbewegung begonnen hat, ohne die die wichtige UN-Behindertenrechtskonvention nicht zustande gekommen wäre.

Erfreulich sind auch die neueren Aktivitäten der Behindertenbewegung 2.0, die unter anderem gegen das Bundesteilhabegesetz mobilisierten und in einigen Punkten sogar erfolgreich waren.

Weil die damaligen Anklagepunkte beim „Krüppeltribunal 1981“ noch bis heute gelten, sollte  ernsthaft über eine Neuauflage des Tribunals nachgedacht werden.

 

Der Artikel ist dem 2004 verstorbenen Gusti Steiner gewidmet, einem tollen Kollegen und wundervollen Menschen.

 

Quellen: Gusti Steiner, Franz Christoph, Oliver Tolmein, Rebecca Maskos, WAZ Dortmund

Bild: Krüppeltribunal

 

 

Gusti Steiner (* 1938; † 12. Juni  2004 in Dortmund) war Sozialarbeiter und einer der Begründer der bundesdeutschen emanzipatorischen Behindertenbewegung.

Gusti Steiner besuchte von 1946 bis 1956 Regelschulen, weil es damals noch kein ausgeprägtes Sonderschulwesen gab.

1973 rief er mit dem Publizisten Ernst Klee in Frankfurt am Main einen Volkshochschulkurs ins Leben, in dem Menschen mit Behinderungen lernen sollten, selbst ihre Lage zu verbessern. Gusti Steiners Vorbild war die US-amerikanische Bürgerrechtsbewegung, die gegen Diskriminierung und für Gleichstellung kämpfte. Analog zu deren selbstbewussten Slogan Black is beautiful provozierte Gusti Steiner mit dem Slogan „Behindertsein ist schön“, den er auch zum Titel eines Buches machte.

Behinderung war für ihn etwas Politisches, kein Gegenstand karitativer Fürsorge. Damit leitete Gusti Steiner, der bei einer anfangs kleinen, dann immer größer werdenden Gruppe von Menschen mit Behinderungen auf Resonanz stieß, einen Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik ein. Ein wichtiges Instrument dafür war die Herausgabe des „Behindertenkalenders“, dessen Cover stets das Abbild dessen zierte, was Steiner auf keinen Fall sein wollte: „Unser Musterkrüppelchen – dankbar, lieb, ein bisschen doof und leicht zu verwalten.“

 

Siehe auch den Artikel: https://gewerkschaftsforum.de/konsequenzen-politischer-behindertenselbsthilfe/   

von Gusti Steiner auf www.gewerkschaftsforum-do.de