Tatort Bau: Offiziell kamen im Jahr 2021 bis September 69 Bau-Beschäftigte bei ihrer Arbeit ums Leben

Nach Informationen der Gewerkschaft IG-BAU kamen  von Januar bis September diesen Jahres 69 Bauarbeiter bundesweit auf Baustellen ums Leben. Häufigste Ursache waren dabei Abstürze aus großer Höhe und tödliche Verletzungen durch herabfallende Teile. Rein statistisch gesehen ist alle vier Tage ein Bauarbeiter tödlich verunglückt. Auch die Zahl von insgesamt 77.115 meldepflichtigen Arbeitsunfällen von Januar bis September 2021 ist auf einem erschreckend hohen Niveau.

Die IG BAU fordert, die staatliche Arbeitsschutzkontrolle deutlich auszubauen. Eine eigene Analyse hatte ergeben, dass in den Arbeitsschutzbehörden der Länder im Schnitt rechnerisch nur ein Aufsichtsbeamter für 26.000 Beschäftigte zuständig ist. Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) empfiehlt eine Quote von 1 zu 10.000.

Die Verstöße gegen die Zahlung der Mindestlöhne durch unseriöse und kriminelle Unternehmen betreffen Zigtausende von Beschäftigten, doch wurden im gesamten Bundesgebiet lediglich 1.000 Verfahren gegen Bauunternehmen eingeleitet. Die Zahl der Überprüfungen ist gegenüber dem Vorjahr wieder einmal rückgängig.

Der Ruf nach mehr staatlicher Kontrolle ist zwar berechtigt, weil in den vergangenen Jahren Stellen im Kontrollbereich kontinuierlich abgebaut wurden, doch sollte das Augenmerk auch auf die strukturellen Probleme auf dem Bau gerichtet werden, dort herrscht mittlerweile oft pure Rechtlosigkeit, Menschenhandel, Ausbeutung der schlimmsten Art und mafiöse Kriminalität vor.

Der Boom auf dem Bau lässt die Euro in den Kassen der großen Unternehmen klingeln, ohne dass der kränkelnde Arbeitsmarkt etwas davon hat. Das Geschäft wird mit Scheinselbständigkeit und prekärer bzw. illegaler Beschäftigung gemacht. Die unmenschlichen Lebens- und Arbeitsbedingungen der Beschäftigten werden dabei in Kauf genommen.

Zuletzt feierte die Gewerkschaft IG BAU, dass es auf dem Bau auch weiterhin zwei Branchen-Mindestlöhne und damit „Lohnhaltelinien nach unten“ – insbesondere für fachliche Arbeiten – geben soll. Der Schlichterspruch, der die Mindestlohn-Tarifverhandlung Ende des Jahres 2019 beendet hatte, beinhaltet, dass die Lohnuntergrenze für Hilfsarbeiten auf dem Bau (Mindestlohn 1) bundesweit zuletzt auf 12,85 Euro pro Stunde angehoben und der zweite Mindestlohn für Facharbeiten (Mindestlohn 2) auf 15,55 Euro pro Stunde gestiegen ist. Laut Gewerkschaft ist es gelungen, den „Angriff auf das bisherige Mindestlohnsystem“ abzuwehren und einen Rückfall auf den ab Januar gültigen gesetzlichen Mindestlohn zu vermeiden.

Doch in der alltäglichen Praxis auf dem Bau wird sich auch in Zukunft nichts Substanzielles ändern, da die Unternehmen mit geschickten Verträgen versuchen, auch die gesetzlich festgelegten Mindestlöhne zu unterbieten und vermehrt vor allem Wanderarbeiter beschäftigen.

Die offiziellen Angaben der staatlichen Aufsicht sind nur wenig aussagekräftig, da nur eine geringe Anzahl der Betriebe kontrolliert wird. Im Jahr 2020 hat die die Finanzkontrolle Schwarzarbeit des Zolls (FKS) 44.702 Unternehmen aller Branchen geprüft. Gegenüber dem Vorjahr waren das 10.000 Prüfungen weniger. Bundesweit wurden 4.220 Verfahren wegen Mindestlohn-Verstößen, davon rund 1.000 Verfahren gegen Bauunternehmen eingeleitet.

Was nützt ein allgemeinverbindlicher Branchenmindestlohn, wenn der Unternehmer den Beschäftigten vorgibt, als Subunternehmer im Rahmen eines Werkvertrages für die Baufirma tätig zu sein?

Auf dem Bau wird im weitgehend geschlossenen System gearbeitet

In den heißen Sommerwochen im vergangenen Jahr ging alles etwas langsamer als sonst. Nur auf dem prekären Arbeitsmarkt ging pausenlos die Post ab, rund um die Uhr. Ganze Kolonnen von Bauarbeitern aus Osteuropa standen in den Seitenstraßen der Ruhrgebietsstädte und warteten auf den Mercedes-Sprinter, der sie zur Baustelle bringt.

Die Eckkneipen, die früher den Anwohnern als großes Wohnzimmer für Familienfeste dienten, sind nun zu Arbeitsagenturen geworden, die 24 Stunden geöffnet haben und auch Schlafplätze vermitteln. Die Bullis der osteuropäischen Scheinselbständigen in der Nachbarschaft wurden schon lautstark um 5.30 Uhr in der Frühe gestartet und das über 6 Tage in der Woche. Auffällig waren auch die PKW mit den osteuropäischen Kennzeichen, die als Unterkunft für mehrere Personen dienten und die Parkplatznot im Stadtteil noch vergrößerten. Dann gab es noch die große Immobilienfirma aus Berlin, die derzeit ganze Häuserzeilen aufkauft und die leerstehenden Wohnungen renoviert. Dafür hatte sie polnische Arbeiter engagiert, die praktischerweise in den Wohnungen ohne Strom und Wasser auf den Campingbetten ruhten, wenn sie nicht 7 Tage in der Woche arbeiteten und kaum vor die Tür kamen.

Über diese vielfältigen Arbeitsverhältnisse im Baubereich steht das Gesamtsystem, das wie eine Pyramide aufgebaut ist.

Ebene 1

Oben an der Spitze der Pyramide gibt es meistens ein Firmenkonsortium, das besonders gerne öffentliche Aufträge an Land zieht, meist gekoppelt mit einem potenten Investor und einem guten Netzwerk in der Kommunal- und Landespolitik.

Wie so etwas in der Praxis läuft, kann man anhand des Kreativ-Wirtschaftszentrums um den U-Turm in Dortmund nachvollziehen.

Im Jahr 2008 erhielt die Stadt Dortmund nach langen Verhandlungen mit der damaligen schwarz-gelben Landesregierung eine Landes- und EU-Förderung für den Umbau des U-Turms von rund 32 Millionen Euro (Das große „U“ steht für die frühere Dortmunder Union Brauerei. Anm. L. N.). Bedingung der Bewilligung war, dass das Dortmunder U nicht nur ein Museum, sondern ein Zentrum für die Kreativwirtschaft werden sollte.

Die europaweite Ausschreibung wurde für ein „Kompetenzzentrum für Kreativwirtschaft“ für den Bau des Berufskolleg-Komplexes am U-Turm ausgegeben. So recht wollte aber kein Investor anbeißen. Deshalb beschloss man 2009, die Ausschreibungskriterien so zu ändern, dass insbesondere die zeitliche Befristung der Branchenbindung gelöst wurde, um für den privatwirtschaftlichen Investor des Kreativwirtschaftlichen Zentrums das wirtschaftliche Risiko möglichst gering zu halten.
Es folgte ein jahrelanger Rechtsstreit um die Vergabe. 5 Jahre nach der Ausschreibung bekam ein Konsortium aus den Firmen Kölbl-Kruse und Hochtief den Zuschlag für das Bauprojekt. Das Projekt umfasste nun zwei Berufskollegs, die von der Stadt für rund 4,6 Millionen Euro im Jahr angemietet werden und ein Kompetenzzentrum für Kreativwirtschaft, das der Bauherr selbst vermarkten sollte.

Skandalös war schon am Anfang das Verschweigen der Tatsache, dass die Vorgabe für eine Vermietung als Kreativwirtschaftszentrum nur für zwei Jahre bindend war und dass diese Bindungsfrist schon abgelaufen war, als der ganze Gebäudekomplex noch gar nicht fertiggestellt war. Vermietet war damals der Komplex aber schon an die Firma Thyssengas, die im Frühjahr 2016 ihre Hauptverwaltung mit 190 Mitarbeitern direkt am U-Turm errichtete. Das vollmundig gepriesene Kreativwirtschafszentrum am U-Turm wurde hinter den Kulissen trickreich abgedreht.

Die Wirtschaftsförderung der Stadt Dortmund redete den ganzen Vorgang schön, mit den bekannten Sprüchen: dass man Thyssengas, den führenden Netzregulierer der deutschen Gaswirtschaft, dauerhaft an Dortmund gebunden habe, der Arbeitsmarkt stabilisiert werden konnte und die Gewerbesteuer fließen würde. Bei der Landesförderung, die sich 2008 explizit auf die kreativwirtschaftliche Note rund um das Dortmunder U bezog, war man sich in Dortmund immer schon sicher, dass die Umwidmung des Bauwerks in eine normale Büronutzung keine Auswirkungen auf die gewährte Finanzierung haben würden.

So funktioniert das eben im Baubereich, ein gutes Netzwerk aus Bauindustrie, Investoren/Banken und der Kommunal- und Landespolitik gewährt das gegenseitige Geben und Nehmen.

Ebene 2

Nach den Firmenkonsortien kommen die großen Subunternehmen, die jeweils die einzelnen Bauabschnitte durchführen und dafür bezahlt werden. Meistens vergeben sie die einzelnen Aufträge an andere, kleinere Subunternehmer nicht selbst, sondern hier werden Arbeitskräfte anderer Subunternehmer eingesetzt, die alle unter dem Druck stehen, die Arbeit pünktlich abzuliefern. Auch auf dieser Ebene ist es unabdingbar, ein gutes Netzwerk mit anderen Unternehmern, auch kleineren Betrieben, aufgebaut zu haben. Wenn der Druck zu groß wird, müssen dann entweder stundenweise Gruppen von Bauarbeitern aus anderen Unternehmen angefahren werden oder es kommen Scheinselbständige aus den östlichen Nachbarländern zum Einsatz, um Engpässe zu überbrücken. So kann es sein, dass an zwei bis drei Baustellen an einem Tag die gleichen Arbeiter anzutreffen sind. Dieses flexible Arbeiten geschieht quasi auf Zuruf über das Handy, dass innerhalb kurzer Zeit an einer anderen Baustelle gearbeitet wird. Die Arbeitskräfte können vollkommen flexibel eingesetzt und per cash entlohnt werden, ohne jegliche Versicherung und Sozialleistungsansprüche. Wenn der Termin drückt, werden sie wieder woanders eingesetzt und decken dann mehrere Baustellen zur gleichen Zeit ab. Die Wanderarbeiter, in der Regel gut ausgebildete Fachleute, wohnen in ihren eigenen Autos oder in den eigens angemieteten überfüllten Wohnungen, mit meist überteuerten Tagesmietzahlungen.

Die Ebene 2 ist auch der Bereich in der Baupyramide, in der die spektakulären Firmeninsolvenzen ablaufen, die die Fertigstellung des Baus dann oft langwierig verzögern. Die Insolvenz kann dazu beitragen, die Schulden bei den Gläubigern in den Wind zu schreiben, das im Steuerparadies untergebrachte Geld außen vor zu lassen, die Rechnungen der Handwerksbetriebe zu ignorieren und als „zweite Chance“ ein neues Gewerbe anzumelden bzw. ein neues Unternehmen zu gründen.

Ebene 3

Wie schon erwähnt, werden im Rahmen des flexiblen Arbeitskräfteeinsatzes Scheinselbständige, früher meist mit portugiesischem, heute eher mit polnischem Pass, von den Subunternehmen der Ebene 2 eingesetzt.

Da wird nur gegen Cash gearbeitet, weil nur so die Flexibilität auch wirklich gewährleistet ist.

Die Scheinselbständigen konnten und können durch diese Beschäftigung ihren Aufenthalt sichern, müssen sich aber zunächst verschulden, um ein Fahrzeug, Material und Unterkunft zu finanzieren. Sie sind in der Lage, den Zeitdruck zu glätten und können die Zahl der Arbeiter, meist Landsleute, passgenau für den Auftrag zusammenstellen. Das Bargeld, das der Scheinselbständige erhalten hat, wird unter Abzug des Eigenanteils weitergereicht. Sozialversicherungsbeiträge, Steuern, Krankenkassen-, Berufsgenossenschafts- und Rentenversicherungsbeiträge werden nicht geleistet. Nachdem der Scheinselbständige sich über Monate hinweg einen guten Namen bei den Subunternehmen erarbeitet hat, kann er von der Ebene 2 ausgewählt werden, auch größere Aufträge zu erhalten und am größeren Rad zu drehen. Dann werden plötzlich bis zu 30 Arbeiter mobilisiert, die in Billighotels untergebracht werden und gegen Cash und unangemeldet die größeren Aufträge erledigen.

Für den Scheinselbständigen geht das eine Zeit lang gut, bis der Zoll bzw. das Finanzamt, die Kranken- und Rentenversicherung oder der Staatsanwalt auf den Plan treten. Nicht selten werden Gefängnisstrafen verhängt und die öffentlichen Gläubiger stellen einen Insolvenzantrag über das Vermögen des Scheinselbständigen. Der Betroffene, dem auch alle Kredite fällig gestellt werden, weiß in der Regel nicht, was da nun passiert und wie er sich verhalten soll. Teilweise haben sie nicht die Sprachkompetenz um sich angemessen zu verhalten, von den gesetzlichen Pflichten eines „Arbeitgebers“ ganz zu schweigen und finden eine Haftstrafe völlig überzogen, zumal sie das System auf dem deutschen Bau als Normalität erfahren haben.

An die Stelle des Scheinselbständigen, der mal für eine kurze Zeit auf der Ebene 2 mitspielen durfte, ist ein neues Opfer des Systems Bau getreten, so geht das Ganze immer weiter.

Ebene 4

Der aktuelle Bauboom hat nicht zu explodierenden Zahlen von offiziell Beschäftigten in einem Normalarbeitsverhältnis auf dem Bau geführt. Das bisherige System Bau wird unverändert weitergeführt, die Verknappung des Bauarbeitsangebots lässt den Gewinn der großen Unternehmen steigen. Die Arbeitskräfte, die die Ebene 3 derzeit händeringend sucht, finden sich auf dem Tage- und Stundenlöhnermarkt und für die Facharbeit auf dem Bau werden die Arbeitskräfte direkt mit Bussen aus den östlichen Nachbarländern herangefahren oder kommen selbst in ihren Autos hier her.

Die Arbeiter werden provisorisch untergebracht, oftmals müssen sie hohe Mieten für die Schlafstelle im heruntergekommenen Haus bezahlen. Viele übernachten in ihren PKW. Während ihres Aufenthaltes sind sie in der Regel nicht unfall- oder krankenversichert.

Passen sie gut in das System Bau, werden sie trotz schlechter Sprach- und Rechtskenntnisse in die Ebene 3 aufgenommen und nehmen als Scheinselbständige am Spiel teil. Der Großteil von ihnen steht aber als Tage- und Stundenlöhner dem Arbeitsmarkt zur Verfügung. Sie nehmen das alles in Kauf, um ihre Familien im Herkunftsland über Wasser zu halten. Dort fehlen dann diese äußerst mobilen Arbeitskräfte.

Kollektiver Rechtsschutz fehlt

Das System Bau zeigt beispielhaft auf, was auf dem Arbeitsmarkt bei uns abgeht. Erwähnt werden muss noch, dass rund 1,8 Millionen Beschäftigte noch immer um den Mindestlohn betrogen werden. Die Finanzkontrolle Schwarzarbeit der Zollverwaltung (FKS) müsste deshalb von den rund 7.200 massiv um mindestens 10.000 Stellen aufgestockt werden, um den Mindestlohn überhaupt flächendeckend kontrollieren zu können. Dagegen hält die Bundesregierung ihre Planung bis 2022 mit 1.600 zusätzlichen Stellen für ausreichend, was die Unternehmen anstachelt, den offenen Rechtsbruch weiter zu führen. Sie haben bereits unglaublich viel Kreativität dabei entwickelt, die Beschäftigten um ihren Lohn zu prellen und den Arbeitsmarkt zu zersplittern.

Die Gewerkschaften fordern ein öffentliches Mindestlohn-Melderegister, in das Verstöße eingetragen werden und die betreffenden Betriebe von öffentlichen Aufträgen ausgeschlossen werden sollen. Außerdem fordern sie, dass die Unternehmen bei Verstößen den Lohn nachzahlen, den die Beschäftigten selbst einklagen müssen, bisher brauchten sie nur das Bußgeld, Sozialabgaben und Steuern nachträglich abführen.

Deshalb ist es derzeit notwendiger denn je zuvor, einen kollektiven Rechtsschutz ins Arbeitsrecht einzuführen.

Das ist nichts Neues, die meisten europäischen Rechtsordnungen haben neben einem gesetzlichen Mindestlohn auch längst ein Verbandsklagerecht der Gewerkschaften. Nur das hilft, gesetzlich verbriefte Schutzrechte durchzusetzen, ohne dass der Einzelne dafür Nachteile in Kauf nehmen muss.

Auch der Ruf der IG BAU nach mehr staatlicher Arbeitsschutzkontrolle ist völlig berechtigt, doch sollte die Gewerkschaft vielmehr die konkrete Lebens- und Arbeitssituation der Beschäftigten auf dem Bau thematisieren.

 

 

 

 

 

Quellen: WAZ, Statistisches Bundesamt, DGB, Stadt Dortmund, IG BAU   

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