Nach den jüngsten Hochrechnungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW) lag die Zahl der wohnungslosen Menschen im Jahr 2022 bei 607.000 gegenüber 383.000 im Jahr 2021. Rund 50.000 Menschen lebten ganz ohne Unterkunft als Obdachlose auf der Straße.
Eine angemessene Obdachlosenpolitik auf kommunaler, Landes- und Bundesebene scheint nicht in Sicht, die Menschen ohne Wohnung werden sich selbst überlassen und erhalten, wenn überhaupt nur Hilfen, die gerade mal ihre physische Existenz mehr oder weniger sichern. Auf der Straße sind sie zunehmend der Gewalt ausgesetzt und sie werden von den Polizei- und Ordnungskräften nicht beschützt, sondern deren Aufgabe ist es geworden, sie aus der Öffentlichkeit zu vertreiben und sie zu verfolgen.
Neue Ideen und Konzepte, wie Housing-First werden einfach ignoriert und immer nur auf die leeren Kassen verwiesen.
Wie es anders geht, zeigt das Beispiel Finnland. Dort geht die Zahl der obdachlosen Menschen seit Jahren zurück und bald wird die Obdachlosigkeit gänzlich abgeschafft sein. Der Grund dafür ist vor allem, dass Finnland das Housing First-Konzept anwendet.
Die Initiative ging im Jahr 2008 von der finnischen Regierung aus. Aktuell sind dort nur noch etwa 3.600 Menschen wohnungslos und bis 2027 soll mindestens die langfristige Obdachlosigkeit komplett verschwunden sein. In der Hauptstadt Helsinki sogar schon 2025.
In den1980er Jahren hatte sich die finnische Regierung bemüht, mit den üblichen Konzepten die Obdachlosigkeit zu reduzieren, doch langzeitobdachlose Menschen blieben in der Regel ohne Dach über dem Kopf. Wie überall gab es zu wenig Notunterkünfte und die meisten Betroffenen haben es nicht geschafft, sich aus ihrer Lage zu befreien. Sie fanden keine Arbeit, keine Wohnung und hatten Probleme, Sozialleistungen zu beantragen. Die Parks in den finnischen Städten ähnelten immer mehr Zeltdörfern und zwischen den Bäumen wurden Hütten aufgebaut. Die obdachlosen Menschen hatten sich notdürftig ein Zuhause gebaut, mitten in den Städten, waren sie Wind und Wetter ausgesetzt.
Damals starben in den sehr kalten Wintern besonders viele Menschen, die auf der Straße lebten und das setzte den Wendepunkt in der finnischen Obdachlosenpolitik. Nach einem breiten und lauten öffentlichen Aufschrei kam es zu einer gesellschaftlichen Debatte, an deren Ende der parteiübergreifende Entschluss stand, dass Wohnen ein Grundrecht ist. Es wurden Konzepte entwickelt, die vorsahen, möglichst jedem obdachlosen Finnen bedingungslos eine Wohnung zur Verfügung zu stellen.
Die Finnen hatten damals parteiübergreifend ein politisches Ziel definiert und das über Legislaturperioden und Regierungen hinweg verfolgt.
Ab 2008 setzte Finnland auf das Housing-First-Konzept und seitdem sinkt die Zahl der Betroffenen nachhaltig. Neu gegründete Stiftungen bauen oder kaufen Wohnungen auf und stellen sie den Menschen zur Verfügung, die nun Mieter der Wohnungen sind. Die Miete zahlt der Staat und die Mieter können bei Bedarf medizinische oder psychologische Hilfe und Unterstützung bei Behördengängen erhalten.
Finanziert werden die Leistungen vom Sozialministerium STEA und auch aus Mitteln des Europäischen Strukturfonds. Diese existenzielle Bedingung ist Grundlage für ein zukünftiges menschenwürdiges Leben. Vier von fünf von Obdachlosigkeit betroffene Menschen schaffen so den Weg in ein stabiles Leben.
Wichtig bei dem Projekt ist allerdings, dass Finnland seit Jahrzehnten in Bau, Erhalt und Ankauf von Tausenden Sozialwohnungen investiert. Mehr als 8.000 Apartments wurden in den vergangenen Jahren nur für Menschen auf der Straße geschaffen. Allein in der Hauptstadt Helsinki wurde die Zahl der Wohnungslosen von 2019 bis 2022 um mehr als 40 Prozent reduziert.
Während die Zahl der Obdachlosen in ganz Europa seit Jahren massiv ansteigt, hat Finnland als einziges Land das Problem fast gelöst. Aktuell sind nur noch etwa 3.600 Menschen wohnungslos und bis 2027 soll mindestens die langfristige Obdachlosigkeit komplett verschwunden sein. In der Hauptstadt Helsinki sogar schon 2025.
Das Modell Housing-First
Die herkömmliche Obdachlosenhilfe ist in der Regel so konzipiert, dass von den betroffenen Menschen erwartet wird, sich um eine Arbeitsstelle zu kümmern und sich selbst von den psychischen Problemen, Suchterkrankungen und Überschuldung zu befreien. Das ist die Voraussetzung dafür, dass sie Hilfe bei der Wohnungssuche erhalten.
Housing-First arbeitet genau umgekehrt: Wohnraum ist der Ausgangspunkt und nicht das Ziel der Hilfe. Zielgruppen des Konzeptes sind Menschen mit schweren, auch psychischen Erkrankungen, Suchterkrankungen und Behinderungen, die über kein eigenes Zuhause verfügen. Sie werden dabei unterstützt, dass sie auf Alkohol und Drogen verzichten. Anders als bei den herkömmlichen Hilfsprojekten ist das aber keine Voraussetzung, um eine Wohnung zu bekommen.
Die für diesen Zweck gegründeten Stiftungen stellen die Wohnungen zur Verfügung. Sie bauen selbst oder kaufen Wohnraum am privaten Wohnungsmarkt bzw. renovieren vorhandene Wohnungen. Die Stiftungen bekommen vergünstigte Anleihen vom Staat, um Wohnraum anzuschaffen. Die Sozialfachkräfte werden vom Staat bezahlt. Die finnische Lotterie wiederum unterstützt die Stiftungen, wenn sie Wohnungen am privaten Wohnungsmarkt kaufen. Kredite von Banken flankieren das Ganze und mit den Mieteinnahmen zahlen die Stiftungen die Kredite zurück.
Die Stiftungen stellen den Wohnraum zur Verfügung und die Unterstützung, Beratung, Sozialleistungen und andere Hilfen stammen von den Wohlfahrtsbezirken und anderen Organisationen. Die Sozialleistungen beginnen sofort zu fließen. Je nach Situation der Person wird sich um eine Arbeitsstelle bemüht. Die Stiftungen bieten auch selbst kleinere Jobs an.
Die Wohnungen selbst bestehen aus ein bis zwei Zimmern. Auch ehemalige Notunterkünfte wurden zu kleinen Wohnungen umgebaut, um langfristig Wohnraum anzubieten. Die vormals obdachlosen Menschen werden Mieter mit einem Mietvertrag, die auch Miet- und Betriebskosten zahlen müssen. In finanziellen Fragen helfen Fachleute, die Büros in den Wohngebäuden haben. Die Wohnungen im finnischen Projekt sind in der Regel ganz normale Wohnungen. 80 Prozent der Wohnungen sind in der jeweiligen Stadt verstreut. Der Rest befindet sich in Housing-First-Einheiten, mit je etwa 33 bis 100 Wohnungen in einem Gebäude und sozialen Hilfsangeboten im Erdgeschoß. Die Wohnungen sind mit Kühlschrank und Ofen ausgestattet, den Rest richten sich die Bewohner nach den eigenen Bedürfnissen selbst ein, damit sie sich wie zu Hause fühlen können. In allen Projekt-Einheiten gibt es Gemeinschaftsbereiche, in denen man kochen, gemeinsam fernsehen oder sich sonst treffen und plaudern kann.
Im Vordergrund steht immer, was für den einzelnen Mieter die beste Lösung ist. Zusammen mit den Fachleuten kann überlegt werden, welches die beste Wohnlösung und die angebrachte Unterstützungsform ist. Ob es beispielsweise eine einzelne Wohnung mit gelegentlicher Unterstützung sein soll oder eine „Housing-First-Einheit“, also eine Wohnung in einem Housing-First-Komplex, in dem sichergestellt ist, dass rund um die Uhr Hilfe verfügbar ist.
Indem den Menschen ein Zuhause gegeben wird, werden gleichzeitig Strukturen geschaffen und dann kann über alles andere geredet werden.
Abstinenz ist Grundvoraussetzung für viele Hilfsprogramme, aber auch der Grund, weshalb sie oft scheitern. In Finnland wird Abstinenz nur in öffentlichen Räumen eingefordert. Im Modell Housing-First kümmert sich ein Team von etwa 20 Mitarbeitern rund um die Uhr um die oft suchtkranken Bewohner. Es sind nicht nur Sozialarbeiter, sondern auch Krankenschwestern, Arbeitstherapeuten, Psychologen und Ärzte.
Während in vielen anderen europäischen Ländern immer mehr Menschen auf der Straße leben müssen, werden sie in Finnland inzwischen mit der aufsuchenden Sozialarbeit direkt für das Projekt vor Ort angesprochen. In den größeren Städten besteht so ein Projektteam aus fünf Sozialarbeitern und zwei Krankenpflegern, die jeden Tag Menschen aufsuchen und ihnen zusätzlich zu allen bestehenden Hilfsangeboten zu einem Platz auf der Warteliste für eine Wohnung verhelfen.
Seit Beginn des Projekts hat Housing-First 60 Prozent der obdachlosen Menschen in Finnland eine Wohnung beschafft.
Housing-First rechnet sich sogar
In Finnland ist es eine Binsenweisheit, dass die Beendigung der Obdachlosigkeit auf lange Sicht Geld spart. Auch weil die Menschen beispielsweise keine teuren Notdienste in Anspruch nehmen müssen, weniger Nächte in Gefängnissen verbringen und sie seltener polizeiliche oder juristische Dienstleistungen benötigen.
Man hat dort berechnet, dass die Einsparungen etwa 15.000 Euro pro Person und Jahr betragen, wenn sie eine Wohnung bekommt statt sie in Notunterkünften oder auf der Straße leben zu lassen. Wenn die Menschen ein Zuhause und die Hilfe haben, werden die Mittel, die man für die anderen Unterkünfte und Dienste benötigt hat, frei. Auch werden die obdachlosen Menschen auf lange Sicht wieder Steuerzahler.
Seit 2012 hat Finnland laut eigenen Berechnungen durch Housing-First jährlich knapp 32 Millionen Euro eingespart, vor allem im Gesundheitsbereich.
Es gibt weltweit Studien, die zeigen, dass es immer billiger ist, Menschen mit Unterstützung unterzubringen, als sie in der Obdachlosigkeit zu belassen.
Housing-First könnte Schule machen – wenn der politische Wille dazu besteht
Auch in anderen Ländern gibt es genug Potenzial, um die Lage der obdachlosen Menschen zu verbessern. Es sind überall in Europa genügend ungenutzte Bürogebäude und leerstehende Hotels zu finden, mit denen ein neues Housing-First-Projekt gestartet werden könnte.
Dänemark verfolgt inzwischen einen ähnlichen Ansatz wie Finnland und ist das zweite EU-Land, das erstmals die Zahl der obdachlosen Menschen wieder reduzierte.
In Deutschland wäre ein bundesweites Engagement für ein Housing- First-Projekt besonders erforderlich, da immer mehr Menschen auf der Straße leben müssen. Es fehlen aktuell mehr als 910.000 Sozialwohnungen, eine bezahlbare Unterkunft zu finden ist vielerorts fast unmöglich.
Hatte doch die Bundesregierung die Bekämpfung der Obdachlosigkeit in dem Koalitionsvertrag festgeschrieben und sich vorgenommen, die Obdachlosigkeit bis 2030 überwinden zu wollen. Sie versprach, 400.000 neue Wohnungen pro Jahr zur Verfügung zu stellen, doch im Jahr 2023 waren es gerade mal 270.000 und für das Jahr 2024 wird bei gleichbleibend schlechten Rahmenbedingungen von einem weiteren Rückgang auf nur noch 235.000 Wohnungen ausgegangen.
Da sind die Bedingungen für eine Überwindung der Obdachlosigkeit äußerst schlecht, denn ohne Häuser und Wohnungen kein Housing-First!
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Siehe auch den Beitrag 17. 10. 2023 „Welttag zur Beseitigung der Armut“ unter dem Motto: „Wohnen ist ein Menschenrecht“ – Vom Leben auf der Straße | gewerkschaftsforum.de
Quellen: Quellen: BAG Wohnungslosigkeit, der Spiegel, Y-Foundation, WAZ, kontrast.at, Bündnis „Soziales Wohnen Bild: Stadtmission Nürnberg