Weiß die Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU) eigentlich noch was auf dem Bau abgeht?

Der Boom auf dem Bau lässt die Euro in den Kassen der großen Unternehmen klingeln, ohne dass der kränkelnde Arbeitsmarkt etwas davon hat. Das Geschäft wird mit Scheinselbständigkeit und prekärer bzw. illegaler Beschäftigung gemacht. Die unmenschlichen Lebens- und Arbeitsbedingungen der Beschäftigten werden dabei in Kauf genommen.

Nun feierte die Gewerkschaft IG BAU sich selbst und dass es auf dem Bau auch weiterhin zwei Branchen-Mindestlöhne und damit „Lohnhaltelinien nach unten“ – insbesondere für fachliche Arbeiten – geben soll. Der Schlichterspruch, der die Mindestlohn-Tarifverhandlung Ende des Jahres beendet hatte, beinhaltet, dass die Lohnuntergrenze für Hilfsarbeiten auf dem Bau (Mindestlohn 1) bundesweit ab dem 1. April 2020 um 35 Cent auf 12,55 Euro pro Stunde angehoben und der zweite Mindestlohn für Facharbeiten (Mindestlohn 2) um 20 Cent auf 15,40 Euro pro Stunde steigen wird. Laut Gewerkschaft ist es gelungen, den „Angriff auf das bisherige Mindestlohnsystem“ abzuwehren und ein Rückfall auf den ab Januar gültigen gesetzlichen Mindestlohn von dann 9,35 Euro pro Stunde zu vermeiden.

Doch in der alltäglichen Praxis auf dem Bau wird sich nichts Substantielles ändern, da die Unternehmen mit geschickten Werkverträgen versuchen auch die gesetzlich festgelegten Mindestlöhne zu unterwandern und vermehrt vor allem Wanderarbeiter beschäftigen.

Was nützt ein allgemeinverbindlicher Branchenmindestlohn, wenn der Unternehmer den Beschäftigten vorgibt, als Subunternehmer im Rahmen eines Werkvertrages für die Baufirmen tätig zu sein?

Die Zersplitterung des Arbeitsmarktes ist für die nicht abhängig Beschäftigten und Berufspolitiker, aber auch zunehmend für die hauptamtlichen Gewerkschaftsleute kaum sicht- und vorstellbar. Sie nehmen vielleicht ein oder zwei Gruppen wahr und haben keinen Einblick in die unteren Beschäftigtengruppen. Sie scheinen gar nicht mitbekommen zu haben, dass:

  • ein hoher Sockel von langzeitarbeitslosen Menschen und der massive Ausbau des Niedriglohnbereichs sowie die prekäre, ungesicherte Beschäftigung dazu geführt haben, dass ein großer Teil der Marginalisierten sich abgehängt und überflüssig fühlt.
  • mittlerweile rund 20 Prozent der Beschäftigten in Deutschland für einen Niedriglohn von unter zehn Euro in der Stunde arbeiten. In Ostdeutschland liegt ihr Anteil sogar bei 30 Prozent.
  • sich die Minijobs mit derzeit rund 7,5 Millionen geringfügig entlohnten Beschäftigten im Arbeitsmarkt fest verankert haben.
  • es inzwischen rund 50.000 Sklavenhändler gibt, die rund eine Million Arbeitskräfte verleihen, so viele, wie noch nie.
  • für Migranten fast nur der Niedriglohnsektor offen steht und dieser Niedriglohnbereich ein geschlossener Arbeitsmarkt ist, in dem die Beschäftigten kaum eine Chance haben, jemals eine Anstellung mit besseren Bedingungen zu erhalten.
  • am ganz unteren Ende des Arbeitsmarktes sich die Tage- und Stundenlöhner wiederfinden, deren Lebenssituation einfach nur als elendig zu beschreiben ist.
Die Tage- und Stundenlöhner

Den Teil des Arbeitsmarkts, in dem sich die Tage- und Stundenlöhner verdingen, nennt man in den Ruhrgebietsstädten u.a. den „Arbeiterstrich“ und meint damit diejenigen Menschen, die an der Straße stehen und auf einen „Arbeitgeber“ warten, der sie für einen „Appel und ein Ei“ einige Stunden für sich schuften lässt. Dabei wird leicht übersehen, dass der Personenkreis viel größer ist, als die Menschen, die dort sichtbar sind.

Kaum jemand weiß, dass es regelrechte Kolonien gibt, in denen vor allem Menschen aus den östlichen Nachbarländern als „illegale“ Menschen unter Plastikplanen hausen und auf dem Stundenlöhnermarkt immer weniger konkurrenzfähig sind, da sie gesundheitlich dazu gar nicht mehr in der Lage sind.

Die zunehmende Anzahl von obdachlosen Menschen ist ebenfalls auf diese Beschäftigung angewiesen, vorausgesetzt, das Pfandflaschensammeln lässt ihnen noch Zeit dafür. Die anderen Flaschensammler, müssen stundenweise für ein Trinkgeld arbeiten, weil sie mit dem Geld vom Jobcenter nicht auskommen können oder durch Sanktionen nur noch einen Teil vom Regelsatz erhalten.

Allen gemeinsam ist, dass sie Teil des Arbeitsmarktes sind und zum System der örtlichen Lohnarbeit gehören. Deutlich machen kann man das gut am Beispiel der Baubranche.

Auf dem Bau wird im weitgehend geschlossenen System gearbeitet

In den heißen Sommerwochen im vergangenen Jahr ging alles etwas langsamer als sonst. Nur auf dem prekären Arbeitsmarkt ging pausenlos die Post ab, rund um die Uhr. Ganze Kolonnen von Arbeitern aus Osteuropa standen in den Seitenstraßen der Städte und warteten auf den Mercedes-Sprinter, der sie zur Baustelle bringt. Die Eckkneipen, die früher den Anwohnern als großes Wohnzimmer für Familienfeste dienten, sind nun zu Arbeitsagenturen geworden, die 24 Stunden geöffnet haben und auch Schlafplätze vermitteln. Die Bullis der osteuropäischen Scheinselbständigen in der Nachbarschaft wurden schon lautstark um 5.30 Uhr in der Früh gestartet und das über 6 Tage in der Woche. Auffällig waren auch die PKW mit den östlichen Kennzeichen, die auch als Unterkunft für mehrere Personen dienen und die Parkplatznot noch vergrößerten. Dann gab es noch die große Immobilienfirma aus Berlin, die derzeit ganze Häuserzeilen aufkauft und die leerstehenden Wohnungen renoviert. Dafür hatte sie polnische Arbeiter engagiert, die praktischerweise in den Wohnungen ohne Strom und Wasser auf den Campingbetten ruhten, wenn sie nicht 7 Tage in der Woche arbeiteten und kaum vor die Tür kamen.

Über diese vielfältigen Arbeitsverhältnisse im Baubereich steht das Gesamtsystem, das wie eine Pyramide aufgebaut ist.

Ebene 1

Oben an der Spitze der Pyramide gibt es meistens ein Firmenkonsortium, das besonders gerne öffentliche Aufträge an Land zieht, meist gekoppelt mit einem potenten Investor und einem guten Netzwerk in der Kommunal- und Landespolitik.

Wie so etwas in der Praxis läuft, kann man anhand des Kreativ-Wirtschaftszentrums um den U-Turm in Dortmund nachvollziehen.

Im Jahr 2008 erhielt die Stadt Dortmund nach langen Verhandlungen mit der damaligen schwarz-gelben Landesregierung eine Landes- und EU-Förderung für den Umbau des U-Turms von rund 32 Millionen Euro (Das große „U“ steht für die frühere Dortmunder Union Brauerei. Anm. L. N.). Bedingung der Bewilligung war, dass das Dortmunder U nicht nur ein Museum, sondern ein Zentrum für die Kreativwirtschaft werden sollte.

Die europaweite Ausschreibung wurde für ein „Kompetenzzentrum für Kreativwirtschaft“ für den Bau des Berufskolleg-Komplexes am U-Turm ausgegeben. So recht wollte aber kein Investor anbeißen. Deshalb beschloss man 2009, die Ausschreibungskriterien so zu ändern, dass insbesondere die zeitliche Befristung der Branchenbindung gelöst wird, um für den privatwirtschaftlichen Investor des Kreativwirtschaftlichen Zentrums das wirtschaftliche Risiko möglichst gering zu halten.
Es folgte ein jahrelanger Rechtsstreit um die Vergabe. 5 Jahre nach der Ausschreibung bekam ein Konsortium aus den Firmen Kölbl-Kruse und Hochtief den Zuschlag für das Bauprojekt. Das Projekt umfasste nun zwei Berufskollegs, die von der Stadt für rund 4,6 Millionen Euro im Jahr angemietet werden und ein Kompetenzzentrum für Kreativwirtschaft, das der Bauherr selbst vermarkten sollte.

Skandalös war schon am Anfang das Verschweigen der Tatsache, dass die Vorgabe für eine Vermietung als Kreativwirtschaftszentrum nur für zwei Jahre bindend war und dass diese Bindungsfrist schon abgelaufen war, als der ganze Gebäudekomplex noch gar nicht fertiggestellt war. Vermietet war damals der Komplex aber schon an die Firma Thyssengas, die im Frühjahr 2016 ihre Hauptverwaltung mit 190 Mitarbeitern direkt am U-Turm errichtete. Das vollmundig gepriesene Kreativwirtschafszentrum am U-Turm wurde hinter den Kulissen trickreich abgedreht.

Die Wirtschaftsförderung der Stadt Dortmund redet den ganzen Vorgang schön, mit den bekannten Sprüchen: dass man Thyssengas, den führenden Netzregulierer der deutschen Gaswirtschaft, dauerhaft an Dortmund gebunden habe, der Arbeitsmarkt stabilisiert werden konnte und die Gewerbesteuer fließen würde. Bei der Landesförderung, die sich 2008 explizit auf die kreativwirtschaftliche Note rund ums das Dortmunder U bezog, war man sich in Dortmund immer schon sicher, dass die Umwidmung des Bauwerks in eine normale Büronutzung keine Auswirkungen auf die gewährte Finanzierung haben würden.

So funktioniert das eben im Baubereich, ein gutes Netzwerk aus Bauindustrie, Investoren/Banken und der Kommunal- und Landespolitik gewährt das gegenseitige Geben und Nehmen.

Ebene 2

Nach den Firmenkonsortien kommen die großen Subunternehmen, die jeweils die einzelnen Bauabschnitte durchführen und dafür bezahlt werden. Meistens vergeben sie die einzelnen Aufträge an andere, kleinere Subunternehmer zwar nicht selbst, sondern hier werden Arbeitskräfte anderer Subunternehmer eingesetzt, die alle unter dem Druck stehen, die Arbeit pünktlich abzuliefern. Auch auf dieser Ebene ist es unabdingbar, ein gutes Netzwerk mit anderen Unternehmern, auch kleineren Betrieben, aufgebaut zu haben. Wenn der Druck zu groß wird, müssen dann entweder stundenweise Gruppen von Bauarbeitern aus anderen Unternehmen eingesetzt werden oder es werden Scheinselbständige aus den östlichen Nachbarländern eingesetzt, um Engpässe zu überbrücken. So kann es sein, dass an zwei bis drei Baustellen an einem Tag die gleichen Arbeiter anzutreffen sind. Dieses flexible Arbeiten geschieht quasi auf Zuruf über das Handy, dass innerhalb kurzer Zeit an einer anderen Baustelle gearbeitet wird. Die Arbeitskräfte können vollkommen flexibel eingesetzt und per cash entlohnt werden, ohne jegliche Versicherung und Sozialleistungsansprüche. Wenn der Termin drückt, dann werden sie wieder woanders eingesetzt und decken dann mehrere Baustellen zur gleichen Zeit ab. Die Wanderarbeiter, in der Regel gut ausgebildete Fachleute, wohnen in ihren eigen Autos oder in den eigens angemieteten überfüllten Wohnungen, mit meist überteuerten Tagesmietzahlungen.

Die Ebene 2 ist auch der Bereich in der Baupyramide, in der die spektakulären Firmeninsolvenzen ablaufen, die die Fertigstellung des Baus dann oft langwierig verzögern. Die Insolvenz kann dazu beitragen, die Schulden bei den Gläubigern in den Wind zu schreiben, dass im Steuerparadies untergebrachte Geld außen vor zu lassen, die Rechnungen der Handwerksbetriebe zu ignorieren und als „zweite Chance“ ein neues Gewerbe anzumelden bzw. ein neues Unternehmen zu gründen.

Ebene 3

Wie schon erwähnt, werden im Rahmen des flexiblen Arbeitskräfteeinsatzes Scheinselbständige, früher meist mit portugiesischem, heute eher mit polnischem Pass, von den Subunternehmen der Ebene 2 eingesetzt.

Da wird nur gegen Cash gearbeitet, weil nur so die Flexibilität auch wirklich gewährleistet ist.

Die Scheinselbständigen konnten und können durch diese Beschäftigung ihren Aufenthalt sichern, müssen sich aber zunächst verschulden, um ein Fahrzeug, Material und Unterkunft zu finanzieren. Sie sind in der Lage, den Zeitdruck zu glätten und können die Zahl der Arbeiter, meist Landsleute, passgenau für den Auftrag zusammenstellen. Das Bargeld, das der Scheinselbständige erhalten hat, wird unter Abzug des Eigenanteils weitergereicht. Sozialversicherungsbeiträge, Steuern, Krankenkassen-, Berufsgenossenschafts- und Rentenversicherungsbeiträge werden nicht geleistet. Nachdem der Scheinselbständige sich über Monate hinweg einen guten Namen bei den Subunternehmen erarbeitet hat, kann er von der Ebene 2 ausgewählt werden, auch größere Aufträge zu erhalten und am größeren Rad zu drehen. Dann werden plötzlich bis zu 30 Arbeiter mobilisiert, die in Billighotels untergebracht werden und gegen Cash und unangemeldet die größeren Aufträge erledigen.

Für den Scheinselbständigen geht das eine Zeit lang gut, bis der Zoll bzw. das Finanzamt, die Kranken- und Rentenversicherung oder der Staatsanwalt auf den Plan treten. Nicht selten werden Gefängnisstrafen verhängt und die öffentlichen Gläubiger stellen einen Insolvenzantrag über das Vermögen des Scheinselbständigen. Der Betroffene, dem auch alle Kredite fällig gestellt werden, weiß in der Regel nicht, was da nun passiert und wie er sich verhalten soll. Teilweise haben sie nicht die Sprachkompetenz um sich angemessen zu verhalten, von den gesetzlichen Pflichten eines Arbeitgebers ganz zu schweigen und finden eine Haftstrafe völlig überzogen, zumal sie das System auf dem deutschen Bau als Normalität erfahren haben.

An die Stelle des Scheinselbständigen, der mal für eine kurze Zeit auf der Ebene 2 mitspielen durfte, ist ein neues Opfer des Systems Bau getreten, so geht das Ganze immer weiter.

Ebene 4

Der aktuelle Bauboom hat nicht zu explodierenden Zahlen von offiziell Beschäftigten in einem Normalarbeitsverhältnis auf dem Bau geführt. Das bisherige System Bau wird unverändert weitergeführt, die Verknappung des Bauarbeitsangebots lässt den Gewinn der großen Unternehmen steigen. Die Arbeitskräfte, die die Ebene 3 derzeit händeringend sucht, finden sich auf dem Tage- und Stundenlöhnermarkt und für die Facharbeit auf dem Bau werden die Arbeitskräfte direkt mit Bussen aus den östlichen Nachbarländern herangefahren oder kommen selbst in ihren Autos hier her.

Die Arbeiter werden provisorisch untergebracht, oftmals müssen sie hohe Mieten für die Schlafstelle im heruntergekommenen Haus bezahlen. Viele übernachten in ihren PKW. Während ihres Aufenthaltes sind sie in der Regel nicht unfall- oder krankenversichert.

Passen sie gut in das System Bau, werden sie trotz schlechter Sprach- und Rechtskenntnisse in die Ebene 3 aufgenommen und nehmen als Scheinselbständige am Spiel teil. Der Großteil von ihnen steht aber als Tage- und Stundenlöhner dem Arbeitsmarkt zur Verfügung. Sie nehmen das alles in Kauf, um ihre Familien im Herkunftsland über Wasser zu halten. Dort fehlen dann diese äußerst mobilen Arbeitskräfte.

Kontrollen gibt es kaum

Um die illegale Beschäftigung zu unterbinden oder auch nur zu verringern, müsste die Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS) endlich so ausgestattet werden, dass sie ihre Kontrollfunktion die sie hat, auch erfüllen kann. Im Jahr 2017 hat die FKS deutlich weniger Firmen auf Verstöße untersucht als im Vorjahr. Insgesamt wurden 40.374 Arbeitgeber überprüft und damit rund 3.000 weniger als 2016. In der Baubranche gab es sogar einen Rückgang der Kontrollen von fast 20 Prozent auf 13.473.

Auch werden rund 1,8 Millionen Beschäftigte noch immer um den Mindestlohn betrogen. Die FKS müsste deshalb von den rund 7.200 massiv um mindestens 10.000 Stellen aufgestockt werden, um den Mindestlohn überhaupt flächendeckend kontrollieren zu können. Dagegen hält die Bundesregierung ihre Planung bis 2022 mit 1.600 zusätzlichen Stellen für ausreichend, was die Arbeitgeber anstachelt, den offenen Rechtsbruch weiter zu führen. Sie haben bereits unglaublich viel Kreativität dabei entwickelt, die Beschäftigten um ihren Lohn zu prellen und den Arbeitsmarkt zu zersplittern.

Deshalb ist es derzeit notwendiger denn je zuvor, einen kollektiven Rechtsschutz ins Arbeitsrecht einzuführen. Das ist nichts Neues, die meisten europäischen Rechtsordnungen haben neben einem gesetzlichen Mindestlohn auch längst ein Verbandsklagerecht der Gewerkschaften. Nur das hilft, gesetzlich verbriefte Schutzrechte durchzusetzen, ohne dass der Einzelne dafür Nachteile in Kauf nehmen muss.

Wenn das durchgesetzt wäre, wäre das auch ein Grund zu feiern, auch für die Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt.

 

 

 

Quellen: WAZ, Statistisches Bundesamt, DGB, Stadt Dortmund 

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