Die strafende Stadt: Ein ganzer Stadtteil wird unter Generalverdacht gestellt

Da die Stadt Dortmund mit ihrer Sozialpolitik in der „abgehängten“ Nordstadt gescheitert ist, schlägt sie nun brutal um sich und bekämpft im Verbund mit der Polizei nicht die Armut, sondern die Armen. Es wird Tag und Nacht „Präsenz“ gezeigt und „konsequent, auch bei kleineren Verstößen“ durchgegriffen. Das beginnt mit massiver Polizeipräsenz im Alltagsbild der Nordstadt, geht über martialische, überzogene Polizeieinsätze, auch schon bei Bagatelldelikten und endet bei den aggressiven Durchsuchungen und Totalabsperrungen ganzer Wohnquartiere mit Hunderten von Einsatzkräften.

Immer mehr Menschen werden Opfer von Gewalt und Willkür der Ordnungskräfte.

Die Auswirkungen der „Agenda 2010“, die von der rot-grünen Koalition Anfang des Jahrhunderts auf den Weg gebracht wurde, haben der politischen Kultur und dem sozialen Klima im Land dauerhaft geschadet. Der Arbeitsmarkt wurde dereguliert, der Sozialstaat demontiert, eine Steuerpolitik betrieben, die den Reichen mehr Reichtum und den Armen mehr Armut gebracht und auch der Mittelschicht deutlich gemacht hat, dass ihr Abstieg jederzeit möglich ist. Da reagieren die Stärkeren ihre Abstiegsängste, Enttäuschung und ihre Ohnmacht an den Schwächeren ab. Begleitet wird das Ganze von dem Misstrauen gegenüber den Mitmenschen und wenn man sieht, dass der Staat überall ein Sicherheitsproblem entdeckt, das mit martialischen Einsätzen der Sicherheitskräfte entschärft werden muss, dann wird die gefühlte Bedrohung real erlebt und nach dem noch stärkeren Staat gerufen.

Dabei ist es erforderlich, denen, die nichts mehr haben, als strafender und disziplinierender Staat entgegenzutreten und denjenigen Menschen mit Abstiegsängsten und den Vermögenden einen starken Staat zu demonstrieren.

Nach gleichem Muster läuft dieser Prozess innerhalb einer einzelnen Kommune ab.

Polizeigesetze verschärft

In fast allen Bundesländern wurden in den letzten 4 Jahren die Polizeigesetze verschärft. Man muss dies als ein politisches Handlungsziel sehen, dass die präventive Gefahrenabwehr, die in den Polizeigesetzen der Länder geregelt ist, nun auf der Bundesebene einheitlich gestaltet werden soll. Hatte man doch genau diese föderalen Strukturen deshalb aufgebaut, weil im deutschen Faschismus eine ungeheuer große zentralisierte Machtkonzentration geschaffen wurde, was man Ende der 1940er Jahre noch vermeiden wollte.

Die neuen Polizeigesetze stärken die Befugnisse der Polizei ungemein, sie wird mit einer riesigen Machtfülle ausgestattet. Der einst positiv besetzte Begriff der Prävention bekommt nun eine ganz neue, unheimliche Bedeutung und die Zahl der Menschen, die in eine konfliktträchtige Konfrontation mit der Staatsmacht geraten, steigt ständig an.

Gleichzeitig wurden die kommunalen Ordnungskräfte weiter aus- und aufgerüstet, sie sind nun mit Polizei ähnlichen Uniformen und Schlagstöcken ausgestattet. Hinzu kommen noch die boomenden privaten Sicherheitsdienstleister, mittlerweile sind in jedem größeren Laden Securitys anzutreffen.

Welche Stilblüten die Verschärfung der Polizeigesetze und Erweiterung der Befugnisse der Ordnungskräfte hervorbringt, zeigt sich an Beispielen aus der Alltagspraxis in der Dortmunder Nordstadt.

124 Straßen und Plätze in der Dortmunder Nordstadt gelten laut Polizei als „gefährliche und verrufene Orte“

Aus einer aktuellen Antwort der NRW-Landesregierung auf eine Anfrage aus dem Jahr 2017 geht hervor, dass 124 Straßen und Plätze in der Dortmunder Nordstadt als „gefährliche und verrufene Orte“ gelten. Festgelegt wird diese Kennzeichnung von der jeweiligen örtlichen Polizeibehörde, im Fall Dortmund vom Polizeipräsidenten.

Für die Polizei ergeben sich durch diese Kennzeichnung einige Vorteile, so darf sie  dort vorbeugend gegen verdächtige Personen vorgehen. Nach Paragraf 12 des Polizeigesetzes NRW dürfen Polizisten auch die Identität von Personen feststellen, die sich an einem Ort aufhalten, von dem Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass

  • dort Personen Straftaten von erheblicher Bedeutung verabreden, vorbereiten oder verüben,
  • sich dort Personen treffen, die gegen aufenthaltsrechtliche Strafvorschriften verstoßen

oder sich dort gesuchte Straftäter verbergen.

Normalerweise braucht die Polizei in der Regel einen Anlass, um Personen zu kontrollieren, z.B. weil sich diese verdächtig verhalten oder ihre Beschreibung zu einer gesuchten Person passt. Diese Voraussetzung fehlt aber an Orten, die als „gefährlich und verrufen“ gelten, und ein Zusammenhang mit der zu kontrollierenden Person unterstellt wird. Dass dies in der Dortmunder Nordstadt schon seit einem Jahr mit der Einführung des Instruments der „Strategischen Fahndung“ möglich ist, macht die Sache nicht besser, sondern verstärkt die Vorwürfe von Willkürmaßnahmen und „Racial Profiling“ noch weiter.

Für die Polizei ist die Einstufung von Straßen und Plätzen der Dortmunder Nordstadt als „gefährliche und verrufene Orte“ mit den damit erweiterten polizeilichen Möglichkeiten eine willkommene Gelegenheit, bei ihrer permanenten, öffentlichkeitswirksamen Präsentation sinkender Zahlen der Kriminalitätsstatistik in der Nordstadt zu glänzen. Sie meint sogar, schon mit der Identitätsfeststellung sei eine sehr umfangreiche Ermittlungsarbeit verbunden, bei der viele Akteure und Einheiten, beispielsweise die Ermittlungskommission Nordstadt, die Schwerpunktstaatsanwaltschaft und der polizeiliche Schwerpunktdienst Nord, viele Puzzleteile zusammentragen und Strukturen klären können.

Wie das in der Praxis geschieht, zeigen die Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit:

Die Menschen im Stadtteil unter Generalverdacht

Es wird immer mal wieder die seit Jahren schon ständige Präsenz der Ordnungskräfte im Alltagsbild der Nordstadt erhöht und zwar so, dass sich die Bewohner der Nordstadt einschränken müssen und sich ständig unter Beobachtung gestellt fühlen:

  • Die Nutzer des Nordmarktes müssen sich gefallen lassen, dass immer wieder Personenkontrollen bei ihnen durchgeführt werden, bei denen Einzelpersonen von bis zu 6 Ordnungskräften umringt, Befragungen ausgesetzt werden und Platzverweise erhalten. Als friedliche Nutzer der Sitzbänke, werden sie mal vom südlichen, mal vom westlichen Teil des Platzes verjagt und förmlich weg gehetzt. Ganze Teile des Nordmarktes werden ohne Grund geräumt, die Sitzbänke sind leer, nur so.
  • Demonstratives Befahren des Nordmarktes von Polizei und Ordnungsamt sind Alltag. Die sogenannten Problemgruppen werden auf Trapp gehalten. Der Nordmarkt als letzter Rückzugsraum soll für sie unattraktiv gemacht werden, ihr Unerwünscht sein überhaupt soll demonstriert werden.
  • Das Abriegeln ganzer Quartiere mit Personenkontrollen, keiner kommt rein, keiner geht raus, soll die Tatkraft der Sicherheitskräfte unter Beweis stellen. Dazu gehören auch das martialische Auftreten von Polizei und Ordnungsamt und das öffentlichkeitswirksame Zelebrieren von Durchsuchungen mutmaßlicher Dealer. Hier werden elementare Grundrechte der Nordstadtbewohner verletzt.
  • Es gibt immer wieder Schwerpunkteinsätze in der Nordstadt mit besonderem Fokus auf dem Nordmarkt und der näheren Umgebung. Als Grund dafür wird genannt, dass nach „überwiegend regelkonformen Verhalten“ der unterschiedlichen Nutzergruppen (Drogenkonsumenten, Alkohol trinkende Menschen, Zuwanderer aus Südosteuropa) sich das „Verhalten zunehmend verschlechtert“ hätte. Bei so viel Bemühen, um eine Verhaltensänderung herbei zu führen und die vollkommene Rückendeckung durch die Politik, schießen die Ordnungskräfte schnell über ihr gesetztes Ziel hinaus.
  • Da schaukeln sich Stresssituationen zwischen Ordnungskräften und alten Menschen hoch zu einem Katz- und Mausspiel, wie das Beispiel der 78 –jährigen Frau zeigt, der förmlich aufgelauert wurde, um ihr immer wieder Ordnungswidrigkeiten vorzuwerfen. Die Vorwürfe lauten: einen Hund verbotswidrig unangeleint ausgeführt zu haben. Geahndet wurde dieses Vergehen mehrfach: z.B. Kassenzeichen 5414301_ _ mit 48,50 € und Kassenzeichen 5450317_ _ mit 73,50 €. Ihr 16 Jahre alter Hund, alterserlahmt, war jedes Mal ohne Leine hinter der Frau her zu ihrer Stammsitzbank auf dem Spielplatz getrottet. Als sie das Tier einige Zeit später ordnungsgemäß angeleint auf dem Bürgersteig führte, wurde dem Hund vorgeworfen, einen Unfall verursacht zu haben und ihr ein Zwangsgeld in Höhe von 200,00 € – Kassenzeichen 2260055_ _- auferlegt. Der Grund: Sie hatte gegen die Ordnungsverfügung verstoßen, „ihren Hund mit mehr als der erlaubten 1,50 m Leinenlänge geführt zu haben, sodass der Hund ca. 3 Meter in Richtung Straße laufen konnte.“ Die Frau muss ihre kleine Altersrente mit der Grundsicherung aufstocken.
  • Um die angeblichen Regelverstöße auf dem Nordmarkt zu unterbinden, kann der Nordstadtbewohner beobachten, wie Ordnungskräfte mit Hinweis-Tafeln auf rumänisch und bulgarisch ausgestattet über den Platz laufen. Falls die Angesprochenen des Lesens nicht mächtig sind, zücken sie Piktogramm-Tafeln. Die Darstellung von sich in der Öffentlichkeit entleerenden Menschen ist entwürdigend.
  • Selbst auf den Bürgersteigen werden Platzverweise ausgesprochen. Die Personenansammlungen auf den Gehwegen werden konsequent aufgelöst. Fußgänger werden aus den schrittfahrenden Bullis angesprochen und gemaßregelt und junge Migranten Personenkontrollen unterworfen, denen eine öffentlichkeitswirksame Körperdurchsuchung vorausgeht. Was hatten die Jungen verbrochen? Sie sind schneller als üblich gegangen – also scheinbar geflüchtet.
  • Nachdem vor einigen Jahren schon die drogenabhängigen Menschen aus der Innenstadt verdrängt wurden und sich nicht mehr öffentlich treffen können, da ihr letzter Treffpunkt auf dem Nordmarkt systematisch zerschlagen wurde, sind viele von ihnen völlig aus dem öffentlichen Bild verschwunden. Sie mussten sich dem Verfolgungsdruck beugen. Kommt es zu größeren Ansammlungen, wie manchmal auf dem Nordmarkt, dem Schleswiger Platz oder der Heroldwiese, wird sofort der Verfolgungsdruck wieder erhöht. Die Menschen sind dann den Drogenfahndern und Strafverfolgern mit den immer neuen Grundrechte einschränkenden Fahndungsmethoden, die das Betäubungsmittelgesetz und die Rechtsprechung mehr oder weniger bieten, ausgesetzt.
  • Schon seit einigen Jahren ist man in der Dortmunder Nordstadt nicht mehr im „Kampf den Drogen“, sondern kämpft jetzt angeblich gegen die Dealer und die Drogenkriminalität. Die Polizei will dem Drogenhandel in einem Verbund aus Bürgern, Stadt, Justiz, Staatsanwaltschaft und Polizei den Nährboden entziehen. Bei der Polizei wurden die verschiedenen Kommissariate und Einheiten besser vernetzt. Die Wache Nord, die Schwerpunkteinheit Nordstadt, zivile Einsatztrupps und Beamte des Rauschgiftkommissariats, sowie Stadt und Polizei gehen gemeinsam vor, nutzen repressive Maßnahmen der Polizei parallel zu ordnungsrechtlichen-, baurechtlichen- und gewerberechtlichen Maßnahmen der Stadt.
  • Seitdem die Sperrbezirksverordnung seit Mai 2011 gilt, wurden Hunderte von Anzeigen gegen Prostituierte, die ihren Drogenkonsum so finanzieren müssen, ausgesprochen – einzelne Frauen erhielten mehr als 20 Anzeigen. Im Verbund mit typischen Drogendelikten wurden Frauen zu Haftstrafen von mehreren Monaten bis hin zu vier Jahren verurteilt. Im Durchschnitt sind rund 20 Frauen, die als Prostituierte arbeiteten, inhaftiert.
  • Die praktische Handhabe des Betäubungsmittelgesetzes bietet den Strafverfolgern mittlerweile eine Vielzahl von erlaubten und nicht erlaubten Mitteln, wie Funkzellen-auswertungen, elektronische Auswertung von Datenströmen, Trojaner Einschleusung, Zugriff auf ausländische Server, Handy-Überwachungen, Bewegungsbilder, Wanzeneinsatz, Positionsbestimmung per GPS, IMSI-Catcher (Geräte zum Auslesen von Handys), Observationen, Innenraum-Überwachungen, heimliche Wohnungsdurchsuchungen, Strukturermittlungsverfahren, Video-Überwachungen, Finanzermittlungen, Verfallsanordnungen von Geld und Wertsachen, Einsatz von V-Leuten, vorgefertigte Sperrerklärungen zur Aktenunterdrückung und vieles mehr. Hierbei sind nicht mehr die Staatsanwälte und Richter die Herren des Verfahrens, sondern der Zoll und die Polizei. Bei ihren konspirativen Aktionen entziehen sie sich weitgehend der Kontrolle. Die „Bekämpfung der Drogenkriminalität“ rechtfertigt für sie all das, was sie machen und wie sie es machen.
  • Bereits im Juni 2014 wurde bekannt, dass die Überwachung mit „stiller SMS“ erheblich zugenommen hat. Schon damals war Dortmund Spitzenreiter in NRW: Unglaubliche, knapp 30.000-mal wurde diese umstrittene Methode in Dortmund im Jahr 2013 angewandt – wie viele Handy- Anschlüsse damit erreicht wurden, liegt im Dunkeln. Weder das Innenministerium in Düsseldorf noch der Polizeipräsident in Dortmund äußerten sich dazu. Die Partei „Piraten“ in Dortmund ging nach einer großen Anfrage allerdings davon aus, dass vom Polizeipräsidium Dortmund vom 01.01. bis zum 20.03.2014 allein 20.512 „stille SMS“ entsandt wurden.
  • Die Stadt ist sehr daran interessiert, dass innerhalb des Walls bzw. rund um die Konsummeile Hellweg Armut nicht sichtbar wird. Auch hier geht es um Vertreibung, damit die Konsumenten ohne schlechtes Gewissen die Kassen der Geschäftsleute klingeln lassen. Damit dies ungestört gewährleistet ist, kommt es immer wieder vor, dass obdachlose Menschen mit einem Bußgeld überzogen werden. So geschehen, als ein Mann an einem Kiosk am Wall übernachtete und von Mitarbeitern des Ordnungsamts aufgeweckt wurde. Man verpasste ihm ein Knöllchen wegen „Lagern und Campieren“ in Höhe von 20 Euro, zu überweisen innerhalb von 7 Werktagen. Geht das Geld bei der Stadt nicht ein, droht dem Mann eine Ersatzfreiheitsstrafe. Erst nach massivem öffentlichem Druck wurde diese Praxis eingestellt.
  • In Anlehnung an das neue NRW-Polizeigesetz hat der Dortmunder Polizeipräsident aktuell auch weitergehende Videobeobachtungen ins Spiel gebracht und dafür viel Beifall erhalten. Dem Polizeipräsidenten reicht das jedoch alles noch nicht, er droht: „Wir wollen weitere Verbesserungen für die Nordstadt erzielen und auf keinen Fall bei dem Erreichten stehen bleiben.“
  • Im Kampf gegen die „Clan-Kriminalität“ werden fragwürdige Durchsuchungen durch Polizei im Verbund mit Zoll, Ordnungs- und Gesundheitsbehörde durchgeführt. Kritiker weisen darauf hin, dass die Polizei hier eigentlich nicht tätig werden darf. Bei genau einer solchen Aktion soll ein Beamter eine schwangere Frau geschlagen, gewürgt und bedroht haben. Dieser Übergriff macht deutlich, dass es sich nicht um Einzelfälle handelt, sondern die „Körperverletzung im Amt“ ein strukturelles Problem der Polizei geworden ist, die für den einzelnen Beamten meistens ohne Folgen bleibt, weil die Anzeigebereitschaft gering und Beweisführung für die  Geschädigten schwierig ist. Erstmalig konnten die Übergriffe gegen die schwangere Frau dokumentiert werden, was für den Ausgang des Verfahrens ungeheuer wichtig sein kann. Doch auch dieses Verfahren gegen den schlagenden Polizisten wurde  eingestellt, weil „die Gewaltanwendung gerechtfertigt gewesen sei“.
  • Infolge der Überwachung der Maßnahmen zur Eindämmung der Verbreitung des Corona-Virus in den vergangenen 1 ½ Jahren ist es auch in der Dortmunder Nordstadt zu erheblichen Einschränkungen von Grund- und Menschenrechten gekommen. Im Bereich der gesundheitlichen Maßnahmen kam es rasch zu unverhältnismäßigen Einschränkungen, die die Freiheit und Selbstbestimmung – über den eigenen Körper, über Gesundheitsrisiken und über das eigene Leben – einschränkten oder sogar aushebelten. Bei der Durchsetzung von sich oftmals widersprechenden Anordnungen kam es schnell im Stadtteil zur „Verselbständigung der Exekutive“. So gingen Gruppen mit 8 Angestellten des Ordnungsamten als geschlossene Einheit, martialisch bekleidet und ausgerüstet mit Schlagstöcken, Pfefferspray und Handschellen auf der Münsterstraße auf und ab und stellten eine über 80-jährige Frau zur Rede, deren Maske ihre Nase nicht bedeckte. Es positionierten sich 3 Ordnungskräfte auf der gegenüberliegenden Straßenseite eines Friseursalons, um per Foto die Verstöße gegen die restriktiven Maßnahmen zu dokumentieren. Regel war und ist auch, dass Polizeikräfte aus dem Auto heraus, mit heruntergelassener Scheibe oder direkt über den Lautsprecher, Personen maßregelten. Obdachlose und abhängige Menschen wurden von den städtischen Ordnungskräften aus der Innenstadt systematisch und rüde in die Nordstadt und westliche Innenstadt abgedrängt, da die fast menschenleere Kaufmeile viele Bettler mit existenziellen Sorgen anzog, für die die Hilfsangebote der Wohlfahrtsunternehmen seit über einem Jahr schon geschlossen sind.
  • Im Rahmen der militanten Aufrüstung werden 15 umgangssprachlich „Taser“ genannten Distanzelektroimpulsgeräte auch in Dortmund für ein Jahr im Streifendienst erprobt. Der Einsatz der Elektroschocker ist drastisch: Es werden gegnerische Personen auf fünf Meter Entfernung mit einem grünen Laser anvisiert und dann mit Metallpfeilen an Drähten beschossen, die in die Haut eindringen. Mit einer hohen Stromspannung wird der so Beschossene dann außer Gefecht gesetzt. 50 000 Volt und zwei bis drei Milliampere Stromstärke führen zu einer schmerzhaften Muskelkontraktion. Mögliche Herzprobleme inklusive Herzstillstand insbesondere bei Menschen, die Alkohol oder Drogen im Blut haben, sind nicht ausgeschlossen. Die Bewaffnung der Polizei mit Folterinstrumenten, die schon öfter gegen Menschen im Stadtteil eingesetzt wurden, ist rundweg abzulehnen. Auch die vorgebliche „deeskalierende Wirkung“ kann kein Argument für die Einsätze sein, denn Folter und Androhung von Folter sind aus gutem Grund verboten. Zudem ist zu befürchten, dass mit der zunehmenden Verbreitung dieser Waffe die Hemmschwelle sinkt, sie auch in unnötigen Situationen einzusetzen. Beispiele in den USA und den Niederlanden zeigen das. Amnesty International berichtete von Todesfällen in den USA infolge von Taser-Einsätzen.
  • Im Schatten der Maßnahmen zur Virusbekämpfung wurden die Überwachungsanlagen aus- und neue aufgebaut. Zusätzlich zu den bereits vorhandenen Kameras ist seit dem Frühjahr 2021 mit einem Testbetrieb die Videoüberwachung in der Münsterstraße gestartet. Die Polizei möchte mit den Kameras angeblich die Straßenkriminalität bekämpfen, filmt aber gleichzeitig Hauseingänge, Fenster von Privatwohnungen und auch die Zugänge zu grundgesetzlich geschützten Versammlungen. Die bisher vorgelegten Dokumente, die überhaupt nur aufgrund einer Klage einsehbar wurden, zeigen kein Lösungskonzept für die Probleme mangelnder Transparenz und Grundrechtseingriffe. Das Verwaltungsgericht Köln (Aktenzeichen 20 L 2344/20) hat bereits im Februar 2021 in einem Grundsatzurteil festgestellt: „§ 15a PolG NRW ermächtigt allerdings weder zur Videoüberwachung privater und/oder sensibler Bereiche noch zur KFZ-Kennzeichenerfassung.“ Die Polizei hat bisher nicht schlüssig erläutern können, wie sie durch sogenannte „Schwärzungen“ die Übergriffe auf die Privatsphären verhindern kann. Insbesondere Anwohner können der Überwachung nicht entgehen. Sie werden dabei beobachtet, wann und mit wem sie ihre Wohnungen betreten und verlassen. Es bleibt auch offen, welche „Schwärzung“ der Außengastronomie – die vor Gericht zugesagt wurde – konkret umgesetzt wird oder wie die Polizei Dortmund zukünftig gedenkt, mit der Erfassung von KfZ-Kennzeichen umzugehen.
  • Den vorläufigen Höhepunkt der Videoüberwachung bildet die Aufstellung eines großen Überwachungscontainers am Mehmet-Kubaşık-Platz im Sommer diesen Jahres, der vor allem zur Abschreckung und Machtdemonstration dienen sollte. Nach breiten Protesten wurde der Container Anfang Oktober abgebaut. Viele Nordstadtbewohner begrüßen diesen Schritt und hoffen, dass auch die Kameras in der Münsterstraße zügig abgeschaltet und abgebaut werden.

 

Im Nachhinein erscheinen die ersten „Sicherheitsmaßnahmen“ vor 10 Jahren noch recht harmlos, was sich da, begleitet von immer schärferen Gesetzen, militanter Ausrüstung und Bewaffnung hochgeschaukelt hat, daran hätte damals niemand im Traum gedacht.

 

Es ist an der Zeit, Bilanz zu ziehen und zwar eine Bilanz der rechtsstaatlichen Art. Es muss dringend geprüft werden, inwieweit das Vorgehen gegen Bürger der Nordstadt mit Recht und Gesetz, mit der Verhältnismäßigkeit sowie mit der aktuellen Rechtsprechung überhaupt in Einklang zu bringen ist. Ganz zu schweigen von dem Quatsch, dass 124 Straßen und Plätze in der Dortmunder Nordstadt als „gefährliche und verrufene Orte“ gelten.

Außerdem sollte in der Dortmunder Nordstadt schnellstmöglich eine unabhängige Beschwerdestelle eingerichtet werden, die die Übergriffe und unverhältnismäßigen Vorfälle dokumentiert und öffentlich macht.

 

 

 

 

Quellen: WAZ, Stadt Dortmund, Pressestelle Polizei, Berichte von Betroffenen 

Bildbearbeitung: L.N.