Hartz IV geht, das Bürgergeld kommt – die Notlagen bleiben

Von Suitbert Cechura

Die Bundesregierung kündigte ein großes Projekt an, ein Herzensanliegen der Sozialdemokratie: „Aus der Grundsicherung soll ein modernes Bürgergeld werden. Die staatliche Hilfe soll bürgernäher, unbürokratischer und zielgerichteter sein.“ (https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/buergergeld-2124684) Der Bürger sollte sich freuen: In Zeiten, in denen die Zunahme sozialer Not allenthalben beschworen wird, handelt die Regierung! Und so verabschiedete der Bundestag mit der Mehrheit der Koalition den Gesetzentwurf zum Bürgergeld (siehe Entwurf eines Zwölften Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze – Einführung eines Bürgergeldes; daraus, so weit nicht anders vermerkt, die weiteren Zitate).

Nachdem es im Bundesrat keine Mehrheit fand, weil sich die CDU/CSU-regierten Länder weitgehend enthielten, stand der Kompromiss des Vermittlungsausschusses zur endgültigen Verabschiedung im Parlament an. Die ist nun erfolgt und Arbeitsminister Heil (SPD) meldet den Erfolg: „Wir lassen heute Hartz IV hinter uns und schaffen ein neues System.“ (SZ, 25.11.22)

Ein demokratischer Konsens

Die CDU hatte vor der Einigung im Vermittlungsausschuss noch befürchtet, dass das „Bürgergeld Anreiz zum Arbeiten mindert“ (https://www.focus.de/politik/deutschland/cdu-vize-linnemann-unionsgefuehrte-laender-werden-buergergeld-nicht-zustimmen_id_174737154.html). Ohne ein Sanktionsregime, das den Beziehern wehtut, wollte die christliche Partei der Modernisierung des Grundsicherungsbetriebs keine Chance geben. Damit lag sie ganz auf Linie mit der AfD, die auch keine Schmarotzer an der Volksgemeinschaft mag. Diese beschwört die Gefahr, dass die „hart arbeitenden Bürger … von ihren Steuern künftig bis zu zwei Jahren lang den Müßiggang Einzelner finanzieren (sollen), die weder kooperieren noch ihre Vermögensverhältnisse offenlegen müssen.“ (https://afdbundestag.de/norbert-kleinwaechter-buergergeld-ist-unsozial/)

Schon im Vorfeld des Vermittlungsausschusses hatten sich Regierung und CDU auf einen Kompromiss geeinigt, sodass der Vermittlungsausschuss nur eineinhalb Stunden dauerte und die Welt der Elendsverwaltung plötzlich ganz anders aussieht. Die SPD entdeckt bei bleibenden Sanktionen einen „System- und Kulturwandel“ (https://www.welt.de/politik/deutschland/article242303173/Buergergeld-Vermittlungsausschuss-einigt-sich-SPD-erwartet-System-und-Kulturwandel), „CDU-Chef Friederich Merz sprach nach dem Beschluss im Vermittlungsausschuss ebenfalls von einem guten Kompromiss.“ (https://www.ndr.de/nachrichten/info/Vermittlungsausschuss-macht-den-Weg-frei-fuer-Buergergeld.buergergeld136.html)

Die Linke hält das Gesetz für unzureichend und eher für eine Umetikettierung von Hartz IV. Diesen Versuch der SPD, das Image als Partei der „sozialen Kälte“ abzustreifen, lässt sie nicht durchgehen; eine Partei, die sich um die Armen kümmert, muss mehr Herz zeigen (https://www.die-linke.de/start/nachrichten/detail/es-bleibt-armut-per-gesetz-hartz-iv-heisst-jetzt-buergergeld/).

Bei dem öffentlich inszenierten Streit geriet etwas in den Hintergrund, worum es in der Sache geht und was sich durch den Kompromiss real geändert hat. Die ausführlichen Begründungen des Gesetzentwurfs und auch die Dokumente des Vermittlungsausschusses geben aber Auskunft darüber, wie sich die Regierung zur Armut im Land ins Verhältnis setzt.

Die Problemlage: Not durch Lohnarbeit

Mit dem Entwurf wird das Zweite Buch SGB verändert. Das Sozialgesetzbuch (SGB) umfasst inzwischen 13 Bücher und dokumentiert allein schon mit seinem Umfang, dass das Leben in Deutschland umfangreicher staatlicher Interventionen bedarf, damit die Bürger über die Runden kommen können. Das Leben im Kapitalismus scheint also keine einfache Angelegenheit zu sein, wenn es für Arbeitslosigkeit, Krankheit, Alter, Unfall, Behinderung oder Pflege und allerlei sonstige Notlagen Unterstützungsleistungen braucht, damit das schiere Überleben gelingt. Sozial­politik in Deutschland ist eben als Erstes ein Armutszeugnis über die materielle Lebenslage der Lohnabhängigen, wie es in der Studie „Der soziale Staat“ von Dillmann/Schiffer-Nasserie detailliert ausgeführt wird (https://www.vsa-verlag.de/index.php?id=6576&tx_ttnews[tt_news]=18104).

Begründet wird der Handlungsbedarf zur Reform des SGB II mit der Problemstellung des Gesetzes: „Im August 2022 erhalten rund 5,4 Millionen Menschen in Deutschland Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende. In den 405 Jobcentern werden erwerbsfähige und nicht erwerbsfähige Leistungsberechtigte in ganz unterschiedlichen Lebenslagen beraten und gefördert. Dazu gehören Langleistungsbeziehende, Alleinerziehende, Menschen ohne Schul- oder Berufsabschluss, Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen, Geflüchtete, aber auch Beschäftigte und Menschen, die vorübergehend hilfebedürftig sind. Die Jobcenter unterstützen zielgerichtet die rund 3,8 Millionen erwerbsfähigen Leistungsberechtigten bei der Arbeits- und Ausbildungsmarktintegration.“

Die Leistung für Millionen Menschen, die in der Begründung des Gesetzes angesprochen wird, betrifft Arbeitssuchende. Damit ist klargestellt, warum diese Menschen hilfsbedürftig sind: Sie sind darauf angewiesen, dass sie jemanden finden, der sie als Arbeitskraft benutzen will, weil sich deren Anwendung für ihn lohnt. Es handelt sich also um Menschen, die über nichts verfügen als über sich selbst, was oft als die Freiheit der Person gefeiert wird, im Klartext aber heißt: Sie sind darauf angewiesen, sich als Arbeitskraft zu verkaufen, damit sie an das Geld fürs Lebensnotwendige gelangen.

Not wegen fehlender Arbeit

Auch wenn gern über Fachkräftemangel geklagt wird, bleibt es dabei, dass viele Menschen als unbrauchbar aussortiert sind. Bei „Langleistungsbeziehenden“ spricht allein schon die Tatsache gegen sie, dass sich lange Zeit kein Arbeitgeber gefunden hat, der sie beschäftigen will. Alleinerziehende stehen wegen der Kindererziehung nur begrenzt für ihre Benutzung als Arbeitskraft zur Verfügung und das auch nicht immer auf Abruf, also fallen sie ebenfalls aus dem Arbeitsmarkt raus. Menschen ohne Schul- oder Berufsabschluss haben sich nicht in ausreichendem Umfang für die Benutzung als Arbeitskraft hergerichtet, ihnen fehlen nicht nur die grundlegenden Kenntnisse, die es an modernen Arbeitsplätzen braucht, sondern oft auch die entsprechende Moral, sich der Arbeitsdisziplin zu unterwerfen. Also ist ihre Unbrauchbarkeit als Arbeitskraft Fakt. Als Lohnarbeiter braucht man zudem eine stabile Physis wie Psyche, um den Anforderungen der Arbeitgeber gerecht zu werden. Wer darüber nicht verfügt, ist schnell aussortiert.

Mit seiner Außen- und Wirtschaftspolitik hat Deutschland im Verbund mit EU und „freiem Westen“ einiges für die Ruinierung anderer Staaten getan, auch mit seinen Waffenlieferungen für Kriege gesorgt, so dass der Strom der Flüchtlinge nicht versiegt. Diesen Menschen fehlen nicht nur die entsprechenden Sprachkenntnisse. Sie brauchen Orientierung bei rechtlichen Regelungen und kulturellen Gewohnheiten, um sich in dieser Gesellschaft zurechtzufinden und die Arbeitsdisziplin zu entwickeln, die den meisten deutschen Bürgern durchs Ausbildungswesen zur zweiten Natur geworden ist. Hinzu kommen die vielen Beschäftigten, die im Niedriglohnsektor arbeiten und von ihrem Lohn nicht leben können, deshalb als „Aufstocker“ firmieren.

Die Leistungen, die der Sozialstaat erbringt, zielen nicht darauf, diesen Menschen das Leben angenehm, sondern sie selber wieder tauglich zu machen, nämlich für besagte Benutzung. Wer von seiner Arbeitskraft leben muss, steht also in einer doppelten Abhängigkeit: Er muss jemanden finden, der ihn benutzen will, und diese unsichere Angelegenheit kann er nicht mit eigenen Mitteln durchstehen, so dass er abhängig von staatlich organisierten Leistungen ist.

Not durch sozialstaatliche Betreuung – Hartz IV

Der Sozialstaat, der sich um die Existenz dieser Bürger sorgt, weiß, dass bei ihnen einiges im Argen liegt: „Zugleich haben die außergewöhnlichen Herausforderungen, mit denen sich Staat und Gesellschaft in Folge des Kriegs in der Ukraine konfrontiert sehen, es vielen Menschen in den sozialen Mindestsicherungssystemen erschwert, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Gerade die dynamischen Preisentwicklungen bei Energie und Lebensmitteln sorgen hier für erhebliche Probleme. Aufgabe des Sozialstaats ist, die Menschen in dieser Lage zu unterstützen und dafür Sorge zu tragen, dass die Leistungen der Mindestsicherungssysteme auch in dieser Situation auskömmlich sind… Eine angemessene Erhöhung der Regelbedarfe ist notwendig, denn die bisherige Fortschreibung der Regelbedarfe bildet die Inflationsentwicklung erst im Nachgang ab.“

Dass erst „Putins Krieg“ den Menschen, die auf Grundsicherung angewiesen sind, die sozialen Notlagen beschert hat, gehört zur hiesigen Legendenbildung und Kriegspropaganda (https://www.heise.de/tp/features/Verarmung-und-Spaltung-neuerdings-nur-durch-Putin-7216949.html). Schließlich bezeugt die Zahl der Tafeln im Lande – die mit 940 (https://www.tafel.de) die der Jobcenter übersteigt – oder der Kleiderkammern und Winterhilfsaktionen, dass schon vor dem Krieg die Leistungen der sogenannten Mindestsicherungssysteme kein Auskommen gesichert haben, dass der Staat vielmehr seit Jahrzehnten einen Teil seiner Bürger von privater Wohlfahrt abhängig gemacht hat.

Auch haben sich die Preise nicht einfach „dynamisch“ entwickelt. Sie sind vielmehr das – marktwirtschaftlich logische – Resultat des Wirtschaftskrieges, den Deutschland gegen Russland führt. Und wenn die bisherige Berechnung der Regelbedarfe kritisiert wird, so sollte man sich erinnern, dass sie genau aufs Konto der Parteien geht, die jetzt regieren; die waren ja in unterschiedlicher Kombination in den letzten Jahrzehnten an der Macht. Mit ihren Regelsätzen haben sie also während der Preissteigerungen der vergangenen Jahre systematisch die Verelendung der Aussortierten betrieben.

Jetzt wird eine Korrektur angemeldet. Die soll dazu führen, dass erwachsene Leistungsbezieher 53 Euro mehr im Monat erhalten. Die kümmerliche Erhöhung macht deutlich, dass die Ampel-Koalition auch weiter darauf achten will, dass der Zwang zur Arbeit für die Sozialleistungsbezieher erhalten bleibt. Dabei gesteht die Regierung zudem ein, dass sie nicht einfach an eine Verbesserung gedacht hat, sondern gerichtlichen Vorgaben folgt: „Damit soll auch der im Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 23. Juli 2014 enthaltene Vorgabe einer zeitnahen Reaktion auf eine offensichtliche und erhebliche Diskrepanz zwischen der tatsächlichen Preisentwicklung und der bei der Fortschreibung der Regelbedarfsstufen berücksichtigte Entwicklung der Preise für regelbedarfsrelevante Güter und Dienstleistungen entsprochen werden.“

Ein Skandal und eine Gemeinheit gegenüber den Betroffenen ist es offenbar nicht, wenn Regierungen acht Jahre lang ein Verfassungsgerichtsurteil ignorieren! Dass sie es jetzt zur Kenntnis nehmen bzw. als Begründung für ihr Handeln heranziehen, soll offenbar für sie sprechen. Mit der Anpassung der Regelsätze wollen sie aber nicht nur die Not der Leistungsbezieher abmildern, sondern verfolgen gleich höhere Ziele: „Es geht darum, mehr Respekt, mehr Chancen auf neue Perspektiven und mehr soziale Sicherheit in einer modernen Arbeitswelt zu verankern und unnötige bürokratische Belastungen abzubauen.“

Wie alles in dieser Gesellschaft hat offenbar auch der Respekt seinen Preis, ist in dem Fall billig zu haben. Etwas diffiziler sind die Ansagen zur Verankerung von mehr Chancen und neuen Perspektiven in einer modernen Arbeitswelt. Werfen wir dazu einen Blick auf die (un-)nötigen bürokratischen Belastungen!

Die Lösungen: näher am Bürger, näher am Bedarf

„Ziel der Einführung des Bürgergeldes ist es daher, gesetzliche Rahmenbedingungen zu schaffen, dass es Menschen im Leistungsbezug möglich wird, sich stärker auf Qualifizierung, Weiterbildung und Arbeitssuche zu konzentrieren.“

Erst wird wieder klargestellt, wozu die Menschen in dieser Gesellschaft da sind: zum Arbeiten. Ihnen dazu zu verhelfen, darin besteht die Leistung des Staates. Dass es dieser Hilfe bedarf, liegt – aus sozialstaatlicher Perspektive – nicht an der Wirtschaft, die sie nicht benutzen will, sondern an ihnen selbst und ihrer mangelnden Benutzbarkeit. Hat der Staat in der Vergangenheit den Mangel meist an ihrem unzureichenden Arbeitswillen festgemacht und sie darauf verpflichtet, möglichst schnell jede Arbeit anzunehmen – Vorrang der Vermittlung für die Jobcenter –, entdeckt er nun einen Mangel bei der Qualifikation. Denn der Arbeitsmarkt hat sich verändert: „Auch hat sich die Situation auf dem Arbeitsmarkt seit der Einführung der Grundsicherung für Arbeitssuchende im Jahr 2005 grundlegend geändert. Arbeitskräfte, insbesondere qualifizierte Arbeitskräfte, werden vielerorts gesucht. Der Arbeitsmarkt ist insgesamt in einer guten Verfassung. Die Zahlen zeigen aber auch, dass Langzeitarbeitslose von dieser positiven Entwicklung oft nicht profitieren können.“

Also braucht es zusätzliche Mittel, um die Menschen wieder tauglich für den Arbeitsmarkt und damit unabhängiger von staatlicher Hilfe zu machen. Dass sie als Lohn- und Gehaltsempfänger auch weiter in Abhängigkeit bleiben, davon zeugen natürlich die anderen Sozialgesetzbücher. Damit aber das staatlich anvisierte Ziel der „Modernisierung“ erreicht werden kann, bedarf es der Änderung bisheriger Regelungen. Dazu gehört neben einer etwas aktualisierten Fortschreibung der Regelsätze ein anderer Umgang der Jobcenter mit ihrer „Kundschaft“: „Menschen im Leistungsbezug sollen sich stärker auf Qualifizierung, Weiterbildung und Arbeitssuche konzentrieren können, die Potenziale der Menschen und die Unterstützung für eine dauerhafte Arbeitsmarktintegration sollen stärker im Fokus stehen.“

Das bisherige Schikanesystem, das die Menschen – obgleich „vom Markt“ als untauglich und damit nicht gefragt befunden – ständig dazu anhielt, ihre Arbeitsbereitschaft unter Beweis zu stellen, gilt nun als ineffektiv; es habe Menschen nur gelegentlich zu Kurzzeitjobs verholfen, damit zu Dauerkunden gemacht hat etc. Deshalb sollen nun andere Regeln im Umgang mit den Klienten her. Dazu gehören Vertrauens- und Karenzzeiten. Doch hier hörte die Einigkeit der Parteien von Ampel und CDU auf. So hieß es im Regierungsentwurf:

„Um den Leistungsberechtigten zu ermöglichen, sich bei gleichzeitiger Existenzsicherung auf die Arbeitssuche zu konzentrieren, sollen in den ersten zwei Jahren des Bürgergeldbezugs Karenzzeiten für die zu übernehmenden Kosten der Unterkunft und Heizung und für die Berücksichtigung von Vermögen eingeführt werden. In diesem Zeitraum wird bei der Bedürftigkeitsprüfung Vermögen nicht berücksichtigt, sofern es nicht erheblich ist.“

Wer sich um seine Weiterbildung für einen neuen Job kümmern muss, sollte sich ganz darauf konzentrieren. Vom Streit mit der Sozialbürokratie darüber, wie sehr er sein Vermögen aufzubrauchen hat und wovon er leben soll, sollte er für einige Zeit befreit werden. Das war der CDU zu lang und nun lautet der Kompromiss: „Der Vermittlungsausschuss schlägt demnach vor, die sogenannte Karenzzeit, in der die Kosten für die Unterkunft in tatsächlicher Höhe und die Heizkosten in angemessener Höhe anerkannt und übernommen werden, auf ein Jahr zu halbieren…“ (https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2022/kw47-pa-vermittlungsausschuss-buergergeld-921210 ) Wenn es um den Druck auf die Armen geht, kann man nicht kleinlich genug sein und muss möglichst genau prüfen, was denen zusteht und was nicht.

Die Höhe des Schonvermögens – Beträge von 60.000 Euro und mehr waren in der Diskussion –wurde vor allem von den Kritikern des Gesetzes moniert. Zwar kann es kaum viele Menschen mit solchem Vermögen unter den Hartz IV-Beziehern geben, doch wurde dieser Punkt im Streit zwischen Opposition und Regierung zur Prinzipienfrage.

Stellt sich nur die Frage, wie kommen Menschen, die auf Hartz IV angewiesen sind, zu solchen Beträgen? Arbeitnehmer müssen lange sparen, um so viel zusammen zu bekommen. Es gibt natürlich nach langer Berufstätigkeit Abfindungen für Entlassene, wenn sie in den Genuss eines Sozialplans kommen. Solche Gelder sofort für die Existenzsicherung einzusetzen, verbietet sich aber aus Sicht der Regierung. Sie hat ja seit der Rentenreform und den massiven Rentensenkungen unter Rot-Grün den Bürgern immer wieder vor Augen geführt, dass die Altersrenten nicht zum Leben reichen, man daher privat Vorsorge zu betreiben hat. Nicht zuletzt wurde dazu die Riesterrente eingeführt. Dass die Bürger fürs Alter selber vorzusorgen haben, darin sind sich alle Parteien einig. Der Regierung ging es darum, zu dokumentieren, dass dies auch möglich ist, und sie wollte nicht, dass durch den Einsatz dieser Vorsorgegelder im Notfall der Arbeitslosigkeit die Unmöglichkeit der eigenen Altersvorsorge offenkundig wird.

Die CDU sah in der Höhe dieses Schonvermögens ein anderes Prinzip verletzt, dass nämlich jeder Bürger alle seine Mittel für seinen Lebensunterhalt zunächst selber einsetzen muss, bevor er staatliche Hilfe erhält. Auch dieser Grundsatz wird von allen Parteien geteilt und so konnte man sich schnell einigen: „Vermögen ist danach nicht zu berücksichtigen, wenn es in der Summe 40.000 Euro für die leistungsberechtigte Person und 15.000 für jede weitere in dieser in Bedarfsgemeinschaft lebenden Person überschreitet“. (Dokumente des Vermittlungsausschusses).

Doch nicht nur an die Alten haben die Sozialpolitiker der Koalition gedacht, und so heißt es im Regierungsentwurf: „Anlässlich der Einführung des Bürgergeldes werden die Grundabsetzbeträge für Schülerinnen und Schüler, Studierende und Auszubildende erhöht, um die Erfahrung zu verstärken, dass sich die Arbeitsaufnahme auszahlt.“

Eine wahrlich großzügige Leistung, dass diejenigen, die arbeiten und Geld verdienen, davon einen größeren Teil behalten dürfen. Zur reformerischen Tat wird es nur dadurch, dass bislang diese Gelder auf das Einkommen der Bedarfsgemeinschaft angerechnet wurden. Haben Jugendliche damit die schlechte Erfahrung gemacht, dass sich die Aufnahme von Ferienjobs oder Ausbildungsverhältnissen für sie nicht lohnt? Der Sozialstaat hegt immer den Verdacht, dass sich Menschen in der staatlich zugelassenen Armut einrichten, also braucht der Nachwuchs hier „Verstärker“, die ihn im richtigen Sinne konditionieren.

Die Perspektive: Zurück auf den Arbeitsmarkt

Auch der Eingliederungsprozess selber kommt ins Visier der Reformer: „Weiterentwicklung des Eingliederungsprozesses – Einführung eines Plans zur Verbesserung der Teilhabe (Kooperationsplan) mit Vertrauenszeit und Kooperationszeit. Die Eingliederungsvereinbarung im SGB II wird durch einen von den Leistungsberechtigten und Integrationsfachkräften gemeinsam erarbeiteten Kooperationsplan abgelöst. Dieser dokumentiert in klarer und verständlicher Sprache die gemeinsam entwickelte Eingliederungsstrategie. Er dient als ‚roter Faden‘ im Eingliederungsprozess und stellt ein Kernelement des Bürgergeld-Gesetzes dar. Er enthält keine Rechtsfolgebelehrung. Im Hinblick auf vereinbarte Mitwirkungshandlungen (Eigenbemühungen, Maßnahmeteilnahmen und Bewerbungen auf Vermittlungsvorschläge) wird im Kooperationsplan die Selbstverantwortung der Leistungsberechtigten und ihre Vertrauensbeziehung zur Integrationsfachkraft mit dem Ziel einer vertrauensvollen Zusammenarbeit gestärkt. Mit Erstellung des Kooperationsplans beginnt eine sechsmonatige Vertrauenszeit.“

Die Ersetzung der Eingliederungsvereinbarung durch einen Kooperationsplan erscheint zunächst als reine Umbenennung, ist es aber nicht, was der Verweis auf die Rechtsfolgebelehrung deutlich macht. In der Eingliederungsvereinbarung wurde bisher festgelegt, was der Hartz IV-Bezieher zu leisten hatte. Es handelte sich um einen rechtlich bindenden Vertrag, wobei der Schein gleicher Vertragspartner sehr durchsichtig war: War die eine Seite doch auf Geld angewiesen, während die andere Seite diktieren konnte, was dafür an Leistungen zu erbringen war.

Weil es sich um eine Rechtsregelung handelte, war dieser Vertrag auch entsprechend formuliert und nicht unbedingt für den Leistungsbezieher verständlich, was in der Vorgabe für den neuen Kooperationsplan angesprochen wird. Verstöße gegen diesen Vertrag wurden sanktioniert, landeten sehr häufig vor Gericht und nicht selten bekamen die klagenden Leistungsbezieher Recht. Von daher wurde im Regierungsentwurf diese Form der Vereinbarung als ineffektiv aufgegeben und durch einen Plan ersetzt, der während der Vertrauenszeit fast ganz auf Sanktionen verzichtet. Bei wiederholtem Versäumnis von Terminen konnte aber auch während der Vertrauenszeit das staatlich fixierte Existenzminimum um 10 Prozent gekürzt werden.

Das ging den Vertretern der christlichen Nächstenliebe zu weit: „Gänzlich entfallen soll nach dem Vermittlungsergebnis die vom Bundestag beschlossene sechsmonatige Vertrauenszeit, in der auch bei Pflichtverletzungen keine Sanktionen verhängt worden wären. Bei solchen Sanktionen soll nach dem Vermittlungsergebnis ein dreistufiges System Anwendung finden: Bei der ersten Pflichtverletzung mindert sich das Bürgergeld für einen Monat um zehn Prozent, bei der zweiten für zwei Monate um 20 Prozent und bei der dritten für drei Monate um 30 Prozent.“ (Dokumente des Vermittlungsausschuss) Und so wurde auch hier eine schnelle Einigung hergestellt, denn dass Sanktionen sein müssen, war offenbar auch den Ampel-Vertretern eine Selbstverständlichkeit.

„Außerhalb dieser sechs Monate besteht die Kooperationszeit. Die Zusammenarbeit zwischen Integrationsfachkräften in den Jobcentern und erwerbsfähigen Leistungsberechtigten erfolgt in dieser Zeit grundsätzlich ohne Rechtsfolgenbelehrungen. Wenn in der Kooperationszeit jedoch Absprachen zu Mitwirkungshandlungen (Eigenbemühungen, Maßnahmeteilnahmen und Bewerbungen auf Vermittlungsvorschläge) von Leistungsberechtigten nicht eingehalten werden, sollen diese Pflichten durch Aufforderungen mit Rechtsfolgenbelehrungen rechtlich verbindlich festgelegt werden.“ So lautete schon der Regierungsentwurf.

Womit klargestellt wird, wie sich die Kooperation zwischen Jobcentermitarbeitern und Arbeitslosen auf Augenhöhe vollzieht. Eben nach dem Motto: „Bist Du nicht willig, so brauch‘ ich Gewalt.“ Das Bundesverfassungsgericht hatte jedoch die Sanktionsmöglichkeiten eingeschränkt, indem es darauf hinwies, dass es sich bei den Hartz IV-Leistungen um die Sicherung des Existenzminimums und damit um die Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins handele. Dessen Senkung widerspreche somit den eigenen Maßstäben! Dieses Bedenken greift der Gesetzgeber jetzt auf:

„Leistungsminderungen wegen wiederholter Pflichtverletzungen und Meldeversäumnisse betragen höchstens 30 Prozent des maßgebenden monatlichen Regelbedarfs. Kosten der Unterkunft und Heizung werden nicht gemindert. Die Leistungsminderung beträgt bei einer Pflichtverletzung 20 Prozent des maßgebenden Regelbedarfs. Bei jeder weiteren Pflichtverletzung mindert sich das Bürgergeld um 30 Prozent des maßgebenden Regelbedarfs… Die bisherigen verschärften Sonderregelungen für die unter 25-jährigen Hilfeempfänger entfallen.“

Auf diese Weise kann auch der Betrag für die Menschenwürde gesenkt werden! Doch nicht nur mit Strafen sollen die Hilfeempfänger zu tauglichen Arbeitskräften gemacht werden, es gibt auch Anreize: „Um weitere Anreize zu schaffen, Geringqualifizierte auf dem Weg zu einer abgeschlossenen Berufsausbildung zu unterstützen und ihnen damit den Zugang zum Fachkräftearbeitsmarkt und zu den am Arbeitsmarkt besonders nachgefragten Berufen zu öffnen, erhalten Teilnehmende an einer berufsabschlussbezogenen Weiterbildung im SGB II und SGB III künftig ein monatliches Weiterbildungsgeld in Höhe von 150 Euro, wenn sie arbeitslos sind oder als Beschäftigte aufstockende SGB II-Leistungen beziehen.“

Wer sich diesen Lockungen dennoch verschließt und sich nicht als Kunde ins Jobcenter begibt, ist freilich nicht vor sozialstaatlicher Fürsorge sicher: „Zur Verbreiterung ihres Förderspektrums kann die Agentur für Arbeit oder ein durch diese beauftragter Dritter künftig eine ganzheitliche Betreuung (Coaching) durchführen. Diese verfolgt das Ziel eines grundlegenden Aufbaus der Beschäftigungsfähigkeit von erwerbsfähigen Leistungsberechtigten, die aufgrund von vielfältigen individuellen Problemen besondere Schwierigkeiten haben, Arbeit aufzunehmen. Das Coaching kann auch aufsuchend oder beschäftigungsbegleitend erfolgen.“

Sich den Anforderungen des Arbeitsalltags zu unterwerfen, erfordert eben eine gewisse Selbstorganisation und Disziplin. Wem das fehlt, dem soll auf die Sprünge geholfen werden. Jugendliche, die in der Arbeitssuche keine Perspektive für sich sehen und möglicher Weise auf Abwege geraten, werden als Sicherheitsproblem ins Auge gefasst, dem es vorzubeugen gilt. Also muss man sie aufsuchen, um die „Beschäftigungsfähigkeit“ an ihnen vor Ort herzustellen.

Fazit

Jetzt wurde im Bundestag die Einigkeit zwischen Regierung und CDU/CSU als größter Oppositionspartei hergestellt. Die AfD, der der Druck auf die Sozialleistungsempfänger zu gering war, blieb bei ihrer Kritik, sie hatte für Deutschland eine „aktivierende Grundsicherung“ gefordert, „die sicherstellt, dass wirklich Bedürftige die Hilfe erhalten, die sie benötigen“. Auch die Linke war nicht überzeugt, sie hatte vor allem die Höhe der Regelsätze bemängelt.

Aber mit dem von der AfD benannten Prinzip stimmen im Grunde alle Parteien überein – und so ist ja auch der Grundsatz der Hilfen im § 1 SGB I gemeint: Es braucht eine Grundsicherung, damit die Menschen wieder tauglich gemacht und in Arbeit gebracht werden. Sie selber sind dafür verantwortlich, obwohl sie die Sache nicht in der Hand haben. Zur Ausgestaltung des Drucks, der dazu auf sie ausgeübt wird, bieten sich dann viele Varianten an: mehr Zwang zur Arbeit hier, Verstärkung der Anreize da, weniger Schonung der bescheidenen Eigenmittel, größere Nähe zum Klienten etc. Darüber darf munter gestritten werden, das zeichnet unsere demokratische Kultur aus!

 

 

 

 

 

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Bild:der paritätische