Das Berliner Vergesellschaftung-Gutachten

Von Jürgen Leibiger

Es war nur eine Nachricht unter vielen, als die Expertenkommission zum Berliner Volksentscheid „Vergesellschaftung großer Wohnungsunternehmen“ Ende Juni ihr Gutachten vorlegte. Tatsächlich aber ist der Vorgang von einiger Bedeutung. Artikel 14 des Grundgesetzes, in dem Enteignungen geregelt sind, kommt ständig zur Anwendung. Allein 2021 gab es 142 laufende Verfahren; die meisten wurden von Regierungen unter Führung von CDU/CSU für den Straßenbau initiiert. Hingegen soll der Artikel 15 über Vergesellschaftung nach 75 Jahren seiner Geltung zum ersten Mal überhaupt praktiziert werden. Zur Erinnerung: „Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden. Für die Entschädigung gilt Artikel 14 Abs. 3 Satz 3 und 4 entsprechend.“

Eigentlich existieren mehr als genug Kommentare des Grundgesetzes und natürlich wurde auch Artikel 15 immer wieder kommentiert. Aber bislang handelte es sich um Trockenübungen, nie lag ein konkreter Anlass vor. Diesmal ist das anders; es geht beim Berliner Wohnungsbestand ans Eingemachte.

Bis zu einer Viertelmillion Mietwohnungen mit einem Marktwert von 36 Milliarden könnten betroffen sein. Bei den Mietwohnungen, die sich im Eigentum verschiedener Firmen befinden, sind das nur sehr grobe Schätzungen. Da Wohnungsbestände am Markt ständig die Besitzer wechseln oder größere Bestände in kleinen Tranchen verkauft werden könnten, würden diese Zahlen im Ernstfall wohl niedriger liegen. Hier soll aber gar nicht dieser Fall im Mittelpunkt stehen, weshalb auch nur das Fazit der Initiatoren zum Gutachten zitiert wird: „Vergesellschaftung ist rechtssicher, bezahlbar und das Beste für Berlin.“

Obwohl das Gutachten nur die Verfassungsmäßigkeit des konkreten Vorhabens und die Suche nach rechtssicheren Wegen seiner Umsetzung zum Gegenstand hat, finden sich in ihm grundsätzliche Ausführungen zum Artikel 15, die über frühere Kommentierungen hinausgehen. Insbesondere wird noch einmal klargestellt, dass der Artikel keineswegs obsolet geworden ist. Daran ändere auch die Tatsache nichts, „dass sich seit 1949 in der Bundesrepublik Formen freier und sozialer Marktwirtschaft als Wirtschaftsform fest etabliert haben.“ Gegen ein Veralten des Artikels spreche auch die Ablehnung mehrfacher Versuche der FDP, den Artikel durch den Bundestag per Verfassungsänderung abschaffen zu lassen. Trotz Festschreibung der Marktwirtschaft in Dokumenten und Vertragswerken bleibe es bei der Offenheit des Grundgesetzes hinsichtlich der Wirtschaftsordnung. Sie ermöglichte den Kompromiss zwischen CDU/CSU und SPD im Parlamentarischen Rat: Gewährleistung des Eigentums auf der einen Seite und die Möglichkeit von Enteignungen sowie der Vergesellschaftung auf der anderen Seite. Die „Ablösung der kapitalistischen Ordnung“ sollte – wie schon kurz nach Inkrafttreten des Grundgesetzes in einem Kommentar festgehalten worden war – „ohne Verfassungsänderung und ohne Bruch in der legalen Kontinuität“ ermöglicht werden. Der Kampf um eine gemeinwirtschaftlich organisierte Wirtschaft ist also nach wie vor durch das Grundgesetz gedeckt. Es spiele „keine Rolle, ob in gesellschaftlichen Diskussionen der Gegenwart jene Kritik noch sehr lebendig ist oder nicht.“ Unter „jener Kritik“ versteht das Gutachten die Kritik am „Privateigentum an den Produktionsmitteln“, welches die „private Aneignung des durch die Arbeitsleistung realisierten Profits“ und seine privatnützige, im freien Belieben der Unternehmen stehende Verwendung erlaube. Damit seien „tiefgreifende wirtschaftliche und gesellschaftliche Asymmetrien“ und eine „besondere politische Macht“ verbunden. Diese Macht stehe in einer „normativen Spannung zum Prinzip gleichberechtigter Teilhabe, das die demokratische Verfassungsordnung kennzeichnet.“ Solche Feststellungen sind für die Kritiker der angepeilten Vergesellschaftung natürlich ziemlich starker Tobak.

Die Vorsitzende der Kommission, die frühere Bundesjustizministerin Prof. Dr. Herta Däubler-Gmelin, betonte: „Vergesellschaftung ist keine Enteignung.“ Damit meinte sie die Unterschiede zwischen der in Artikel 14 geregelten Enteignungs-Befugnis zum „Wohle der Allgemeinheit“, und der Überführung von Produktionsmitteln in gemeinwirtschaftliche Eigentumsformen im Artikel 15. In letzterem Artikel werde die Vergesellschaftung nicht als ein Mittel zum Zweck des allgemeinen Wohls bezeichnet. Der Zweck der Transformation des Eigentums sei vielmehr die Vergesellschaftung selbst. Damit ist die Vergesellschaftung außer an „ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt“ an keine weitere Bedingung geknüpft. Weder müsse eine bestimmte Vergesellschaftungsreife der Produktionsmittel vorliegen, noch müsse wie bei Enteignungen nach Artikel 14 geprüft werden, ob sie dem Wohl der Allgemeinheit diene. Das kann nur bedeuten, dass eine Vergesellschaftung per se dem Allgemeinwohl dient, weil dieses Gemeinwohl den gemeinwirtschaftlichen, nicht jedoch den privatnützigen Wirtschaftsformen immanent sei. Freilich müsse der Gesetzgeber die öffentlich-rechtlichen Träger des neu geschaffenen Gemeineigentums auf die öffentlichen, gemeinnützigen Zwecke dauerhaft verpflichten. Es dürfe nicht darum gehen, größtmögliche Erträge erwirtschaften zu wollen, selbst wenn diese Erträge öffentlichen Zwecken dienen sollten.

Umstritten war bei den Gutachtern neben anderem die Frage, ob die Vergesellschaftung ein staatlicher Eingriff in Grundrechte – in diesem Falle der Eigentümer – sei und deshalb zu prüfen wäre, ob ein solcher Eingriff „verhältnismäßig“ ist. Abgesehen davon, dass einige Kommissionsmitglieder den Artikel 15 selbst als Bestandteil des Grundrechtekatalogs betrachten und sich die Frage der Verhältnismäßigkeit deshalb gar nicht stelle, sind die meisten der Gutachter der Meinung, dass die Vergesellschaftung der in Rede stehenden Wohnungsbestände durchaus verhältnismäßig sei, das heißt ein ausgewogenes Verhältnis von Privat- und Gemeinwohlinteressen im Sinne des Grundgesetzes gewahrt würde.

Mit solchen Aussagen steht das Gutachten – das noch eine ganze Reihe weiterer wichtiger Fragen behandelt – in einem eklatanten Widerspruch zur herrschenden Volkswirtschaftslehre, in der das Privateigentum an den Produktionsmitteln und das privatnützige, profitorientierte Wirken privater Unternehmer seit Adam Smiths „unsichtbarer Hand“ und verstärkt mit dem Siegeszug neoklassischen und neoliberalen Denkens in Wirtschaft und Politik als prinzipiell (zumindest indirekt) gemeinwohlorientiert betrachtet wird. Deshalb werden im Hintergrund auch schon die Messer gewetzt, um dem unwilligen Berliner Senat Argumente zu liefern, das Vorhaben zu verzögern oder ganz auf Eis zu legen. Wohl ist er in der Pflicht, den Volksentscheid ernst zu nehmen, er ist aber nur dazu verpflichtet, entsprechende Maßnahmen einzuleiten. Welche Maßnahmen das im Einzelnen sind, wie sie und wann sie eingeleitet werden sollen, liegt weitgehend in seinem Ermessen. Das Gutachten einer Expertenkommission ist nicht unwichtig, aber letztlich ist es eine zwar fachlich fundierte, aber unverbindliche Meinungsäußerung.

Als die Berliner Expertenkommission gebildet wurde, rief das die Erinnerung an die in der Novemberrevolution 1918 einberufenen Sozialisierungskommissionen wach. Sie waren damals Teil der Hinhaltetaktik der Spitze der Mehrheits-SPD in der Frage der Vergesellschaftung der Produktionsmittel. Die Berichte und Publikationen der Kommissionen hatten in der öffentlichen Diskussion jener Jahre zwar eine Rolle gespielt, im Großen und Ganzen blieb ihre Arbeit jedoch folgenlos. Auch diesmal war die Schaffung der Kommission Teil der Verzögerungstaktik der Berliner SPD-Führung, die dafür von den Aktivisten der Enteignungskampagne heftig kritisiert wurde. Die Kommission hat allerdings ein Gutachten vorgelegt, das – für manche überraschend – die Initiatoren des Volksentscheids bestärkt. Auch 1919/1920 beinhalteten die Kommissionsgutachten eine Reihe von Vorschlägen zu ersten, wenn auch nur zaghaften Schritten einer Sozialisierung. Die damalige Regierung, da schon eine Koalition aus SPD, liberalen und konservativen Kräften, wischte trotz des gewaltigen Drucks von der Straße all das hinweg. Würde der Druck diesmal ausreichen, die Vorschläge der Kommission praktisch umzusetzen, wäre das ein gewichtiger Präzedenzfall.

 

 

 

 

 

Der Beitrag erschien auf https://das-blaettchen.de/ 26. Jahrgang | Nummer 16 | 31. Juli 2023 und wird mit freundlicher Genehmigung der Redaktion und des Autors hier gespiegelt.
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