Was passiert, wenn man Menschen von Wasser und Lebensmitteln abschneidet? „Kein Essen, kein Strom, kein Treibstoff, kein Wasser. Es sind menschliche Tiere und wir behandeln sie entsprechend.“ (der israelische Verteidigungsminister Gallant am 2. Tag nach dem Hamas-Angriff).
Gleichzeitig bombardiert die israelische Armee den Grenzübergang zu Ägypten, über den „humanitäre Hilfe“ kommen könnte; die Hilfslieferungen stauen sich vor der Grenze, weil Israel ägyptischen Angaben zufolge bis heute keine Feuerpause zusagt.
Was passiert seitdem in Gaza mit den zweieinhalb Millionen Menschen? Übrigens: Auch Tiere brauchen Wasser und Fressen.
Die Feststellung, dass es sich beim Überfall der Hamas um eine bestialische Tat handelt, die durch nichts zu rechtfertigen ist, wird vorgebracht, um die nächste bestialische Tat gegen die „menschlichen Tiere“ zu rechtfertigen.
Tiere sind zu so etwas allerdings nicht in der Lage. Und als „Mensch“ hat das so bezeichnete Gattungswesen zum Gemetzel an Seinesgleichen weder einen Grund und schon gleich nicht die Mittel zur Durchführung.
Beides, Grund und Mittel für Krieg, Vergeltung, Vertreibung stiftet erst die segensreiche Vergesellschaftung „des Menschen“ im modernen Nationalstaat. Der gründet die souveräne und exklusive Verfügung über sein Volk und sein Territorium auf sein Gewaltmonopol – ein im konkreten Fall gleich dreifach tödlicher Anspruch.
Das nationalsozialistische Deutschland erklärte die jüdischen Teile seiner Bevölkerung zu Schädlingen an seinem Staat. Deshalb wurden sie vertrieben und vernichtet.
Die geflüchteten Juden schlossen sich einem von den USA geförderten Staatsprojekt Israel an. Das beruhte seinerseits auf der Vertreibung der Palästinenser aus ihrer Heimat. Die bis heute andauernde gewaltsame Auseinandersetzung mit ihnen ist Programm des „Staats der Juden“, der die muslimischen Araber nach innen diskriminiert und sich nach außen expansiv gegen die Palästinenser durchsetzt.
Die Palästinenser in ihrem materiellen Elend und ihrer Rechtlosigkeit kämpfen – wiederum um einen Staat. Einen eigenen – als sei das die Lösung ihrer Probleme. Ein solcher wurde ihnen von der internationalen Staatengemeinschaft auch immer wieder versprochen, allerdings ohne dass sich dafür (wie in anderen Fällen) ein genügend machtvoller „Pate“ gefunden hätte.
Während Deutschland und Israel es zu Staatswesen gebracht haben, deren Militärapparate respektiert werden und die ihre Ansprüche bis weit über die eigenen Grenzen hinaus definieren (als „Freiheit“, „Sicherheit“ oder „Verantwortung“ natürlich), sind die Palästinenser deshalb „Terroristen“ geblieben. Ihr Kampf um einen Staat gilt nicht als Krieg, weil sie noch keiner sind (ein Dilemma, das die jüdischen Siedler in Palästina auch erlebt haben).
Zur Unversöhnlichkeit des jeweiligen staatlichen Anspruchs kommt mit Militär oder Terrororganisation dann auch das Mittel in die Welt, die für nötig gehaltene Gewalt auszuüben.
Fehlen dann nur noch die Menschen, die die entsprechenden Maßnahmen tragen. Nicht als Tiere und nicht als Menschen, sondern als begeisterte Staatsbürger, die moralisch und religiös gefestigt im Namen von Rache und Vergeltung ihrer Nation zu jedem Opfer bereit sind.
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In Israel gibt es nach dem Überfall der Hamas (am 8. Tag) mehr als 1.300 Tote und 3.600 Verletzte. Fast 200 Geiseln wurden verschleppt.
Die Zahl der Toten und Verletzten in Gaza steigt inzwischen stetig an, (am 8. Tag) über 2.200 Tote und mehr als 8.000 Verletzte, darunter 500 Kinder (Al Jazeera).
Am Mittwoch, dem 4. Tag des Kriegs, hatte die israelische Armee bereits 6000 Bomben auf das am dichtesten besiedelte Gebiet der Welt abgeworfen.
Ziel nach Angaben der Tagesschau: die Führungsebene der Hamas.
Zerstört nach Angaben von Al Jazeera: 22.600 Wohneinheiten, 19 medizinische Zentren (13 Krankenhäuser und andere medizinische Zentren sind teilweise betriebsbereit, das Beit Hanoon Hospital und das Al-Oyun Hospital aufgrund der Bombardierung komplett außer Betrieb), 20 Krankenwagen, 90 Bildungseinrichtungen (20 davon UNRWA-Einrichtungen, dem Hilfswerk der Vereinten Nationen für Flüchtlinge im Nahen Osten, zwei dienten auch als Notunterkünfte), 70 Industrieanlagen (die meisten Abwasserpumpstationen und vier von fünf Kläranlagen haben ihren Betrieb eingestellt; Abwasser und feste Abfälle sammeln sich auf den Straßen), 49 Medienbüros.
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Am Freitag, dem 6. Tag des Kriegs, fordert die israelische Armee die mehr als eine Million Bewohner von Gaza City zum Verlassen der Stadt auf.
Die deutschen Medien übernehmen die Darstellung der israelischen Armee von einer „Massenevakuierung“. Eine Million Menschen soll weg – ohne dass es dafür Fluchtmittel, ein Ziel, eine offene Grenze oder aufnahmebereite Nachbarstaaten gibt. Und das binnen 24 Stunden.
„Massenevakuierung“? Das suggeriert, dass es dabei um den Schutz der Leute gehen soll und dass das in irgendwie organisierter Form angegangen wird. Nichts davon ist der Fall. Hier geht es erkennbar zunächst um freie Bahn für die bevorstehende Bodenoffensive des israelischen Militärs. Zweitens um eine präventive Schuldzuweisung für die dabei anfallenden Opfer an diejenigen, die der Warnung nicht Folge leisten, weil sie wissen, dass sie nie mehr in ihre Heimat zurückkommen werden, wenn sie jetzt gehen und/oder auf die Hamas hören, die die Menschen zum Bleiben auffordert. Und drittens mit großer Wahrscheinlichkeit um eine Vertreibung auf Dauer.
Die Vereinten Nationen, die Menschenrechtskommission in Genf, die Hilfsorganisationen schlagen Alarm. Eine solche Flucht sei natürlich nicht durchführbar; es seien horrende Opfer unter den bereits durch die vorherigen Angriffe Verletzten zu erwarten, Krankenhäuser würden sich in Leichenhäuser verwandeln usw. usf.
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Annalena Baerbock ist vor Ort: „Vor ein paar Tagen kam mitten in den Trümmern ein kleines Mädchen zur Welt. Ich habe gehört, es heißt Miriam. Ihre Familie musste Schutz in der U-Bahn suchen – wie Millionen anderer Menschen überall. Schutz vor Bomben und Raketen, vor Panzern und Granaten. Sie leben in Angst, sie leben in Schmerz. Sie sind gezwungen, sich von ihren Liebsten zu trennen.“
Ach nein, pardon, das war ja ihre UN-Rede zum Ukraine-Krieg, das kleine Mädchen hieß damals Mia und eine U-Bahn haben sie auch gar nicht in Gaza. Jetzt sind wir dagegen im Nahen Osten und „die Unterstützung Israels ist deutsche Staatsraison“ (Baerbock im Bundestag). Der Blick auf die geschundene Zivilbevölkerung in Gaza sieht deshalb so aus: „Die Hamas missbraucht Unschuldige als Schutzschilde. Ihre Tunnel, ihre Waffenlager und Kommandozentralen befinden sich ganz bewusst in Wohnhäusern. Das stellt alle, die den Terror bekämpfen wollen, vor unglaubliche Herausforderungen. Gerade weil wir als Demokratien, wie Israel, wie Deutschland, wie viele andere Länder, das humanitäre Gebot, den elementaren Schutz der Zivilbevölkerung, ernst nehmen.“ (Baerbock, 12.10.)
Aushungern? Verdursten? Permanentes Bombardement? Angriffe auf die zivile Infrastruktur, die Baerbock im Fall des Ukraine-Kriegs als „Zivilisationsbruch“ gewertet hatte? Die Panik einer Flucht ohne Ausweg? Fällt der wertebasierten deutschen Außenpolitik zu diesem „Ernstnehmen des elementaren Schutzes der Zivilbevölkerung“ irgendwas ein? Ja: „Israels Sicherheit ist und bleibt deutsche Staatsraison.“ (Baerbock in Israel, 10.10.23)
Zusatz: Israel hat mittlerweile auf Druck der USA zugestanden, demnächst wieder Wasser nach Gaza zu lassen. Allerdings: Nur in den Süden! Die beabsichtigte Entvölkerung von Gaza City dürfte also voran kommen. Der israelische Vertreibungswille und die humanitäre Selbstdarstellung der Schutz- und Weltmacht dieses Staates wären einmal mehr aufs Beste versöhnt. Jetzt muss Israel nur noch den Wasserhahn aufdrehen…
Am 16.10. warnt die WHO, dass das Wasser in Gaza noch für 24 Stunden reicht.
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„Wir dachten, wir würden weiterhin nach Gaza gehen, ein paar Brosamen in Form von Zehntausenden von israelischen Arbeitserlaubnissen verteilen – immer unter der Bedingung, dass sie sich gut benehmen – und sie trotzdem im Gefängnis halten. Wir werden Frieden mit Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten schließen und die Palästinenser werden vergessen sein, bis sie ausgelöscht sind, wie es sich einige Israelis wünschen.
Wir werden weiterhin Tausende von palästinensischen Gefangenen festhalten, manchmal ohne Gerichtsverfahren, die meisten von ihnen politische Gefangene. Und wir werden nicht bereit sein, über ihre Freilassung zu diskutieren, selbst wenn sie schon seit Jahrzehnten im Gefängnis sitzen. (…)
Am Samstag sprachen sie bereits davon, ganze Stadtteile in Gaza auszulöschen, den Streifen zu besetzen und Gaza zu bestrafen, ,wie es noch nie zuvor bestraft wurde‘. Aber Israel hat seit 1948 nicht aufgehört, Gaza zu bestrafen, nicht einen Moment lang.“
Das schreibt der israelische Journalist Gideon Levy in der Zeitung Haaretz.
Kaum denkbar, dass ein deutscher Journalist das zurzeit ohne Folgen in Deutschland äußern könnte. Das wäre ja „whataboutism“ gegenüber dem bestialischen, brutalen, perfiden, feigen, unvorstellbar grausamen, hinterhältigen, barbarischen Terror der Hamas. Hierzulande gilt bekanntlich jegliche Erhellung von Gründen als Rechtfertigung des per Definition grundlos Bösen.
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Staatlich angeordnetes Verhungern und Verdursten in Gaza, zum Tode verurteilte Patienten, eine hilflos ihrer Vernichtung entgegensehende Bevölkerung, abgeriegelt in ihrem Gefängnis – gibt es dazu aufgeregte Berichte der deutschen Presse über „die menschliche Katastrophe“? Interviews mit Politikern, was Deutschland tun könne angesichts eines drohenden Genozids? Spendenaufrufe für die Opfer? Wenigstens „Brennpunkte“ nach der Tagesschau? Nein, das ist nach dem Überfall der Hamas fürs erste vorbei – Freitag (der Tag der von Israel verlangten Flucht von einer Million Menschen!) und Samstag geht es völlig unaufgeregt ins Abendprogramm; erst am Sonntag setzt die ARD einen an.
Verteilung von Aufmerksamkeit und Mitleid in der freien und staatsfernen deutschen Presse entsprechen – wie immer das zustande kommt – ziemlich haarscharf der deutschen Staatsraison.
Wenn das den deutschen Muslimen unerträglich erscheint, ist das ihr Problem (bzw. wird ihnen gerade zielgerichtet zum Problem gemacht). Die Demonstrationsfreiheit für pro-palästinensische Positionen ist in Deutschland stark eingeschränkt (um es vorsichtig zu sagen); aus Gaza ist eh wenig zu hören – die israelische Demokratie hat ja präventiv 49 Pressezentren in Schutt und Asche gelegt, um die Welt vor unschönen Bildern zu bewahren.
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Damit auch der Krieg in der Ukraine nicht vergessen wird:
Angebracht wären jetzt Demonstrationen gegen die Freiheit aller Staaten, die ihre Bevölkerungen im Frieden und im Krieg gegeneinander hetzen – für die Konkurrenzfähigkeit ihrer Standorte, für ihre vitalen nationalen Interessen und ihre Einfluss-Sphären, für ihre historisch verbrieften Rechte und und und
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Die Autorin:
Renate Dillmann ist freiberufliche Journalistin. Studium der Politikwissenschaft und Geschichte an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz; Promotion zur Staatstheorie von Thomas Hobbes an der Fernuniversität Hagen. Seit vielen Jahren Lehrbeauftrage an der Evangelischen Hochschule Bochum.
Sie ist Autorin von „China – ein Lehrstück“ (2021) und zuletzt erschien von ihr: „Abweichendes zum Ukraine-Krieg“ (2023): Sammlung von Artikeln, die seit dem 24.2.2022, dem Beginn des Ukraine-Kriegs, erschienen sind. Teil 1 enthält Artikel, die sich mit dem Krieg, seinen Zwecken, seinen Begründungen auseinandersetzen. Teil 2 beschäftigt sich mit den deutschen Medien und ihren Leistungen im Ukraine-Krieg. Taschenbuch – 123 Seiten. 8,00 €. ISBN-13, 978-3982027791.
Bild: Mohammad Abu Elsebah dpa