Mindestlohn steigt 2024 lediglich im Centbereich – wenn er denn überhaupt gezahlt wird

Der gesetzliche Mindestlohn liegt seit dem vergangenen Jahr bei zwölf Euro pro Stunde. Nun soll er zum 1. Januar 2024 auf 12,41 Euro steigen. Ein Jahr später ist eine weitere Erhöhung im selben Umfang auf 12,82 Euro vereinbart. Gemessen am bisherigen Mindestlohn entspricht das einer Anhebung um 6,8 Prozent, auf zwei Jahre verteilt.

Die Gewerkschaften sind darüber in Rage, wollten sie doch eine Anhebung des Mindestlohns auf 13,50 Euro durchsetzen. Inwieweit die Aufregung ehrlich ist, darf angesichts ihrer mageren Tarifabschlüsse in den Jahren 2022 und 2023, Absprachen mit Regierung und Unternehmerschaft in der konzertierten Aktion und der Zulassung von Sonderzahlungen als Tarifverhandlungsergebnisse fraglich bleiben.

Die EU-Richtlinie über angemessene Mindestlöhne empfiehlt eine Höhe von 60 Prozent des Medianeinkommens – das wären in Deutschland 13,50 Euro. Um die Altersarmut zu verhindern, müsste der Mindestlohn nach Ansicht der Sozialverbände sogar noch höher liegen.

Laut einer aktuellen Erhebung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) werden zwischen 750.000 und mehr als drei Millionen Beschäftigte um ihren Mindestlohn betrogen. Die Spanne ist so breit, weil illegale Aktivitäten schwer zu erfassen sind. Hinzu kommt, dass seit Einführung des Mindestlohns die Zahl der Arbeitsplätze in den Niedriglohnbranchen sogar zugenommen hat. Es trifft vor allem Minijobber, Studierende, Rentner sowie Menschen, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind.

Im Vorfeld der Diskussion um die Anhebung des Mindestlohns wurde auf der politischen Ebene erst einmal für die richtige Stimmung ganz laut getrommelt. Während Arbeitsminister Hubertus Heil eine deutliche Anhebung erwartete, entgegnete die FDP, dass es nicht die Aufgabe des Arbeitsministers sei, Einfluss zu nehmen. Die organisierte Unternehmerschaft sprach sogar von Sabotage.

Das wäre aber gar nicht notwendig gewesen, hat doch die Mindestlohnkommisssion ihre Aufgabe, für schlechte Mindestlöhne zu sorgen, glänzend erfüllt.

Nach Angaben des Statistischen Bundesamts im Frühjahr 2023 wurde fast ein Viertel aller Erwerbstätigen, genau 23,35 Prozent, ein Lohn von unter 14 Euro gezahlt. In absoluten Zahlen ausgedrückt erhalten 9,28 Millionen von insgesamt 39,8 Millionen Beschäftigten pro Stunde kaum mehr als den derzeit geltenden Mindestlohn von zwölf Euro und 15 Prozent oder rund sechs Millionen Erwerbstätige kommen nicht über diese Verdienstuntergrenze hinaus.

Was das für die Zukunft bedeutet, lassen die Zahlen des Bundesarbeitsministeriums (BMAS) erahnen: Nach 45 Beitragsjahren werden die hiesigen Altersbezüge aus der gesetzlichen Rentenversicherung im Mittel 1.543 Euro betragen. Männer kommen demnach auf eine Rente von durchschnittlich 1.637 Euro, Frauen auf 1.323 Euro. Im Ost-West-Vergleich bleiben die östlichen Bundesländer um mehr als 200 Euro hinter den westdeutschen zurück. Die zukünftige Situation wird wohl noch schlechter werden, wenn man die abschlagsfreie Rente hinzuzieht, die immer weniger Menschen geltend machen können und die Billiglöhne im Niedriglohnsektor die Ansprüche erheblich schmälern. Das BMAS geht sogar davon aus, dass so etwa jeder dritten Frau mit Vollzeitjob nach 40 Arbeitsjahren eine Rente mit weniger als 1.000 Euro pro Monat droht.

Mindestlohnerhöhung um magere 3,4 Prozent

Die Mindestlohnkommission hat gegen die Stimmen der Gewerkschaften einen für die Beschäftigten absolut nicht zufriedenstellenden Empfehlungsbeschluss gefasst. Demnach soll der Mindestlohn zum 1. Januar 2024 lediglich auf 12,41 Euro und ein ganzes Jahr später, zum 1. Januar 2025, auf 12,82 Euro steigen. Im ersten Jahr entspricht dies einer prozentualen Erhöhung um magere 3,4 Prozent, im zweiten Jahr sind es sogar nur 3,3 Prozent.

Der Beschluss kommt einer Missachtung des Gesetzgebers gleich, denn die Unternehmerschaft geht bei der Berechnung vom alten Mindestlohn in Höhe von 10,45 Euro aus und müsste eigentlich vom aktuellen 12 Euro Mindestlohn ausgehen.

Die Gewerkschaftsseite hatte zumindest 13,50 Euro gefordert und hat sich gegen den Vorschlag ausgesprochen. Sie wurde aber in der Kommission überstimmt.

Der Vorschlag der Mindestlohnkommission ist nun kürzlich von der Bundesregierung noch per Verordnung verbindlich gemacht worden.

Mindestlohnkommission

Die zentrale Aufgabe der Mindestlohnkommission ist es, der Bundesregierung alle zwei Jahre einen Vorschlag zur Anpassung des Mindestlohns zu machen.

Die Kommission besteht aus folgenden Personen:

Christiane Schönefeld

Vorsitzende

  • Jahrgang 1957
  • 1976 – 1986: Studium der Rechtswissenschaften an der Universität zu Köln
  • 1986 – 1995: verschiedene Positionen innerhalb der Bundesanstalt für Arbeit
  • 1995 – 1999: Direktorin des Arbeitsamtes Duisburg
  • 1999 – 2004: Vizepräsidentin des Landesarbeitsamtes Nordrhein-Westfalen der Bundesanstalt für Arbeit
  • 2004 – 2019: Vorsitzende der Geschäftsführung der Regionaldirektion Nordrhein-Westfalen der Bundesagentur für Arbeit
  • August 2018 – Januar 2019: Mitglied der Kommission der Bundesregierung „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“
  • 2019 – 2022: Vorstand Ressourcen der Bundesagentur für Arbeit
  • Mitglied des Hochschulrates der Fernuniversität Hagen

 

Stefan Körzell

Beschäftigtenseite

  • Jahrgang 1963
  • Gelernter Maschinenschlosser
  • Seit 1980 Mitglied der IG Metall (Industriegewerkschaft Metall)
  • Seit 2014 Mitglied des Geschäftsführenden DGB-Bundesvorstandes (Deutscher Gewerkschaftsbund)
  • Mitglied u.a. im Verwaltungsrat der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) und des Kuratoriums der Hans-Böckler-Stiftung
  • Mitglied im Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA)

 

Robert Feiger

Beschäftigtenseite

  • Jahrgang 1962
  • Ausgebildeter Industriekaufmann und Gewerkschaftssekretär
  • Seit 1982 Mitglied der IG BAU (Industriegewerkschaft Bauen, Agrar, Umwelt), seit 2013 ihr Vorsitzender
  • Mitglied im Aufsichtsrat des süddeutschen Bauunternehmens Bauer AG
    und der Zusatzversorgungskassen für das Baugewerbe
Andrea Kocsis

Beschäftigtenseite

  • Jahrgang 1965
  • Studium Sozialarbeit, Studium Anglistik, Germanistik, Romanistik
  • Beschäftigte und freigestellte Betriebsrätin Deutsche Post AG
  • Seit 1991 Mitglied ver.di
  • Seit 2001 Gewerkschaftssekretärin in ver.di
  • Seit 2007 stellvertretende Vorsitzende der ver.di
  • Stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende Deutsche Post AG
  • Mitglied u. a. im Verwaltungsrat der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) und
    im Vorstand der Hans-Böckler-Stiftung

 

Brigitte Faust

Unternehmerseite

  • Jahrgang 1955
  • Diplom-Betriebswirtin
  • Seit 1997 im Konzern Coca-Cola, 1997 bis 2008 Personalleiterin beim Konzessionär Bremer Erfrischungsgetränke, ab 2008 Director HR Employee & Industrial Relations
  • 2016 bis 2018 Geschäftsführerin/Arbeitsdirektorin von Coca-Cola European Partners Deutschland (CCEP DE)
  • Mitglied des Präsidiums der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA)
  • Vorsitzende des Ausschusses für Arbeitsmarktfragen der BDA
  • Präsidentin der Arbeitgebervereinigung Nahrung und Genuss (ANG)
  • Mitglied im Aufsichtsrat des Pensions-Sicherungs-Vereins aG (PSVaG)
  • Mitglied des Aufsichtsrates der Pfizer Deutschland GmbH

 

Steffen Kampeter

Unternehmerseite

  • Jahrgang 1963
  • Diplom-Volkswirt
  • Mitglied des Deutschen Bundestages von 1990 bis 2016, ab 1999 Obmann der CDU/CSU-Fraktion im Haushaltsausschuss. Von 2005 bis 2009 Haushaltspolitischer Sprecher der CDU/CSU-Fraktion
  • Von 2009 bis 2015 Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen
  • Seit Juli 2016 Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände
  • Mitglied im Kuratorium der Bibliotheca Hertziana – Max-Planck-Institut für Kunstgeschichte in Rom, Mitglied im Aufsichtsrat der Deutschen Bahn AG und der Deutschen Bahn Mobility Logistics AG, Mitglied im Verwaltungsrat der Deutschen Welle.
Karl-Sebastian Schulte

Unternehmerseite

  • Jahrgang 1972
  • Politik- und Wirtschaftswissenschaftler, Bankfachmann
  • 2004-2009 Geschäftsführer des Parlamentskreises Mittelstand (PKM) der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag
  • Seit 2010 Geschäftsführer des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks (ZDH) und des Unternehmerverbandes Deutsches Handwerk (UDH)
  • Mitglied des Verwaltungsrates der Bundesagentur für Arbeit
  • Mitglied des Tarifausschusses beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales
  • Initiative Neue Qualität der Arbeit (INQA): Mitglied des Steuerkreises
  • Verband Deutscher Bürgschaftsbanken: Mitglied des Vorstandes, Stellvertretender Vorsitzender
  • Mitglied im Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK)
Prof. Dr. Dr. h.c. Lars P. Feld

Wissenschaftliches Mitglied

  • Jahrgang 1966
  • Volkswirt, 2002 bis 2010 als Professor an den Universitäten Marburg und Heidelberg
  • Seit 2010 Direktor des Walter Eucken Instituts und Professor für Wirtschaftspolitik und Ordnungsökonomik an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
  • Seit 2003 Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium der Finanzen
  • Seit 2011 Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung
  • Seit 2013 Mitglied im Unabhängigen Beirat des Stabilitätsrats
  • Seit 2008 Ordentliches Mitglied der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina (Nationale Akademie der Wissenschaften)
  • Seit 2008 Mitglied und seit 2011 Sprecher des wissenschaftlichen Beirats der Stiftung Marktwirtschaft („Kronberger Kreis“)
Prof. Dr. Tom Krebs

Wissenschaftliches Mitglied

  • Physiker und Volkswirt (Ph.D. Columbia University)
  • Seit 2006 Professor für Makroökonomik an der Universität Mannheim
  • 2012 – 2020: Sprecher und Koordinator des DFG-Schwerpunktprogramms „Financial Market Imperfections and Macroeconomic Performance“
  • 2019 – 2020: Gastprofessor am Bundesministerium der Finanzen
  • 2017 – 2018: Senior Visiting Scholarund Berater an der Federal Reserve Band, Minneapolis
  • 2012 – 2018: Berater am Internationalen Währungsfonds
  • 2002 – 2012: Berater an der Weltbank

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Die Kommission prüft theoretisch im Rahmen einer Gesamtabwägung, wie hoch der gesetzliche Mindestlohn sein muss, damit er einen angemessenen Mindestschutz für Beschäftigte sicherstellen kann und spricht eine Empfehlung aus.

Um praktisch zu den Empfehlungen zu kommen und dabei den wissenschaftlichen Schein zu bewahren, wird häufiger auf Tricks ausgewichen. Immer wieder verweist die Unternehmerseite auf die Zustimmung der Mitglieder, die angeblich rein wissenschaftlich agieren. Doch ist z.B. das Wissenschaftliche Mitglied Prof. Dr. Dr. h.c. Lars P. Feld  Bundesfinanzminister Lindners Chefökonom, Mitglied der neoliberalen Mont Pèlerin Society, des CDU-Wirtschaftsrats und gern gesehener Redner bei Lobbyorganisationen wie der Initiative neue soziale Marktwirtschaft.

Da wundert es kaum, dass nicht die derzeitigen 12 Euro Mindestlohn, die von der Politik festgelegt wurden, sondern die 10,45 Euro der letzten Kommissionsempfehlung vom 1. Januar 2022 als Basis für die Anhebung genommen wurden. Man rechnet von diesem niedrigeren Ausgangspunkt aus und kommt natürlich zu niedrigeren Ergebnissen.

Die nächste Trickserei ist, dass die Anhebung des Mindestlohns nun den Steigerungen bei den Tariflöhnen folgt. Das darf eigentlich gar nicht sein, denn die Tariflöhne stiegen in den letzten Jahren auch in geringer werdenden Prozenten. Hinzu kommt, dass Menschen am unteren Ende der Einkommensverteilung am stärksten von der derzeitigen Inflation betroffen sind. Sie können auch gar nichts ansparen und müssen extrem gestiegene Kosten für Wohnen und Lebensmittel aufbringen. Der Bezug zu den Tariflöhnen ist somit noch einmal mehr aus der Zeit gefallen.

Es ist auch ein Skandal, dass die Gewerkschaften einfach überstimmt werden können, so wie jetzt wieder bei der neusten Empfehlung. Aber auch skandalös ist, dass der Mindestlohn nicht für Beschäftigte im Alter zwischen 15 und 18 Jahren, in Werkstätten beschäftigte Menschen mit Behinderung und für arbeitende Gefangene gilt.

Die Mindestlohnkommission erfüllt gegenwärtig genau ihre zugedachte Funktion, nämlich für schlechte Mindestlöhne zu sorgen.

Mindestlohn ist wichtig, wenn den Gewerkschaften der Wille und die Kraft fehlt, vernünftige Löhne zu erkämpfen

Kaum jemandem ist bewusst, dass rund 6 Millionen Menschen von einem steigenden Mindestlohn sozial und wirtschaftlich profitieren können, das sind 15 Prozent der Beschäftigten bei uns. Steigender Mindestlohn erhöht ganz direkt die Einkommen und damit auch ihre Lebensqualität.

Die Menschen können mehr Geld ausgeben, was wiederum die Wirtschaft ankurbelt und damit die Arbeitslosigkeit senkt. Je niedriger die Arbeitslosigkeit, desto höher die Verhandlungsmacht der Beschäftigten und ihrer Gewerkschaften.

Nur wenigen Menschen ist bekannt, dass auch Beschäftigte mit Einkommen direkt oberhalb des Mindestlohns profitieren. Wenn sich der Abstand verringert, können sie einfacher Lohnerhöhungen durchsetzen, das betrifft nochmal rund 5–6 Millionen Menschen. Der angemessene Mindestlohn kann das ganze Lohngefüge zu Gunsten der Beschäftigtenseite verschieben. Die Auswirkungen merken die Mindestlohnempfängern ganz direkt, indirekt die knapp darüber liegenden Beschäftigten und vermittelt über die Wirtschaftsauslastung, die gesamte arbeitende Bevölkerung.

Selbst für den Staat ist ein besserer Mindestlohn von Vorteil: Je höher der Mindestlohn liegt, desto weniger Sozialausgaben fallen an und desto mehr Steuereinnahmen fließen. Aber wenn wie mit der Empfehlung der Mindestlohnkommission der Mindestlohn real abfällt, wie jetzt vorgeschlagen, dann stärkt das strukturell die Unternehmerseite. Es steigert ihre Exporte und Profite zu Lasten der Löhne, der Nachfrage und der Staatsfinanzen.

Diese Überlegungen gehen theoretisch davon aus, dass ein gestiegener Mindestlohn auch tatsächlich von den Unternehmen an die Beschäftigten ausgezahlt wird. In der Praxis sieht das allerdings ganz anders aus.

Verstöße gegen den Mindestlohn

Um die Auswirkungen der Pandemie unberücksichtigt zu lassen werden hier vorrangig Daten aus dem Jahr 2019 genutzt. Damals hat die Finanzkontrolle Schwarzarbeit des Zolls (FKS) bundesweit insgesamt 4.220 Ermittlungsver­fahren wegen Mindestlohn-Verstößen gegen Unternehmen eingeleitet. Rund 1.000 Verstöße entfielen auf die Baubranche, 715 auf die Gastronomie und Hotellerie und 272 auf die Gebäudereinigung. Bei den meisten Verstößen wurde entweder der gesetzliche oder der branchenübliche Mindestlohn nicht ausgezahlt.

Geprüft wurden 44.702 Unternehmen aller Branchen, das sind etwa 10.000 weniger, als im Jahr 2019, damals wurden noch 54.733 Betriebe kontrolliert. Insgesamt wurden Bußgelder in Höhe von knapp 27,2 Millionen Euro fällig, davon allein 8,1 Millionen Euro bei den Baufirmen. Das geht aus aktuellen Zahlen des Bundesfinanzministeriums hervor. Gegen das Gastgewerbe verhängte man 6,16 Millionen Euro Bußgelder.

Die meisten Verstöße gab es mit 981 Fällen in Nordrhein-Westfalen. In Berlin wurden 201 Verstöße, in Niedersachsen 247 und in Hamburg 41 Fälle vom Zoll aufgedeckt.
Bei den oben genannten Fällen handelt es sich naturgemäß nur um die Verstöße, die bei Kontrollen festgestellt worden sind. Die tatsächliche Zahl dürfte weitaus höher sein.

Ob die vom Bundesfinanzministerium in Aussicht gestellte Personalaufstockung von 6.000 Stellen für die nächsten Jahre eine Verbesserung bringen wird, dürfte fraglich sein. Auch weil eine Bundestagsanfrage der Grünen ergab, dass derzeit mehr als 3.000 Planstellen nicht besetzt sind, da es keine geeigneten Bewerbungen gab. Außerdem werden bis 2030 mehr als 10.000 Beschäftigte in den Ruhestand gehen.

Bei Minijobs gibt es die meisten Verstöße

Die meisten Verstöße gegen den Mindestlohn gab es bei den Minijobs. Die geringfügig Beschäftigten werden in der Regel nur bei Anwesenheit bezahlt. Obwohl sie Anspruch darauf haben, erhalten sie meistens keinen bezahlten Urlaub und keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Das kommt vor allem bei kleinen und mittleren Unternehmen vor, dort sind auch die meisten tätig.

Neue Zahlen, die die FKS nun veröffentlichte, zeigen, dass vor allem in Speditionen, Landwirtschaft, Pflegeheimen, Gastronomie- und Reinigungsgewerbe, also in den klassischen Minijob-Unternehmen gegen die Auszahlung des Mindestlohns verstoßen wird.

Verstöße gegen das Arbeitszeitgesetz fallen erst bei Kontrollen auf

Die Unternehmen werden aufgrund der personellen Ausstattung beim Zoll behelligt, können ruhig schlafen und weiter von den Extra-Profiten träumen. Dreist wird die Auszahlung des Mindestlohns, die korrekte Aufzeichnung von Arbeitsstunden und das gesetzlich vorgeschriebene Bereithalten von Unterlagen flächendeckend in vielen Branchen unterlaufen.

Um prüfen zu können, ob ausreichender Mindestlohn gezahlt wird, müssen die Behörden erst einmal wissen, wie viele Stunden der Beschäftigte gearbeitet hat. Neben dem Zoll prüfen auch die Länder, ob die Unternehmen Arbeitszeiten und Überstunden ordentlich erfassen. Obwohl Schicht-, Nacht- und Wochenendarbeit seit Jahren zunehmen, kontrollieren die Behörden aber immer seltener die Einhaltung des Arbeitszeitgesetzes.

Hier liegt auch der Grund dafür, warum einige Branchen, wie die Gastronomie, immer schwerere Geschütze gegen den Mindestlohn auffahren – nicht wegen der Höhe des Lohns, sondern weil durch die Kontrollen erstmals die Verstöße gegen das Arbeitszeitgesetz ans Tageslicht kommen.

Forderungen nach mehr Kontrollen ist zweischneidig

Während die Firmen, die gegen den Mindestlohn verstoßen, kaum spürbare Konsequenzen zur tragen haben, kann eine Kontrolle für die Beschäftigten existenzielle Folgen auslösen.

Lohnabhängige, insbesondere im Niedriglohnsektor

  • sind auf die pünktliche und vollständige Auszahlung ihres Lohns angewiesen, als Voraussetzung, um für ihre täglichen und monatlichen Lebensunterhaltskosten aufkommen zu können.
  • stürzen in existenzielle Krisen, wenn der Lohn für sie und ihre Familien ausbleibt oder unvollständig ausgezahlt wird.
  • haben kaum Kapazitäten, sich mit der Einforderung ihrer Löhne, die sich teils über Monate hinziehen kann, zu beschäftigen.
  • müssen ihre Energie darauf konzentrieren, zeitnah eine neue und auskömmliche Beschäftigung zu finden.
  • mit ausländischem Pass steht die Sicherung und Verstetigung eines dauerhaften Aufenthalts in unmittelbarem Zusammenhang mit der Ausübung einer Erwerbstätigkeit.
  • als migrantische Beschäftigte, die nicht fließend Deutsch sprechen, benötigen im gerichtlichen Verfahren die Unterstützung durch Dolmet­scher, deren Honorar sich derzeit auf 85 Euro pro Stunde beläuft.
  • müssen bei arbeitsrechtlichen Verfahren mit einem hohen Zeitaufwand und der psychischen Belastung rechnen.
  • haben in der Regel keine finanziellen Rücklagen und die finanzielle Belastung durch ein arbeitsrechtliches Verfahren können hoch und von Beginn an nicht absehbar sein.
  • können zwar bei geringen Einkünften Prozesskostenhilfe in Anspruch nehmen, müssen diese allerdings zurückzuerstatten, wenn in den darauffolgenden vier Jahren das Einkommen steigt.
  • steht bei Gerichtsprozessen der verbundene Aufwand und die finanzielle Belastung meist nicht im Einklang mit den Ergebnissen der Gerichtsverfahren.
  • erhalten als Ergebnis der gerichtlichen Auseinandersetzungen erfahrungsgemäß meist nur die Hälfte der geforderten Summe als Vergleichsvorschlag, insbesondere wenn sie den Umfang der geleisteten Arbeitsstunden nicht ausreichend dokumentieren und nachweisen können.
  • müssen wenn sie vor Gericht Recht bekommen, sich die Frage stellen, ob der Betrieb zahlungsfähig und zahlungsbereit ist. Ist dies nicht der Fall, müssen sie im weiteren Verlauf noch Kosten für die Zwangsvollstreckung in Form eines Gerichtsvollziehers tragen, da sie hier einen Vorschuss leisten müssen. Beautragen sie dafür eine anwaltliche Vertretung, riskieren sie zusätzliche Kosten.
  • die nach der Beendigung eines Arbeitsverhältnisses erfolgreich ihren Lohn beim Arbeitsgericht einklagen, müssen damit rechnen, dass ihnen in der Folge das Jobcenter oder das Sozialamt nach dem so genannten Zuflussprinzip dieses Geld als Einkommen im laufenden Monat anrechnet

und Lohnabhängige, die durch den ausgefallenen Lohn Schulden gemacht haben, stehen die eingeklagten Gelder somit, auch wenn sie sich auf die Vergangenheit beziehen, nicht mehr zur Verfügung.

Diese schwerwiegenden Gründe verringern so unmittelbar eine möglicherweise vorhandene Motivation zu klagen und zeigen auch, wie es um das Recht auf gleichen Rechtszugang bestellt ist. Hier geht es in der Regel um die Durchsetzung von Existenz sichernden Mindestlohnansprüchen und Arbeitsgerichte sind kein Luxus, sondern eine Institution zur Sicherung von Rechtsansprüchen. Die ungleiche Inanspruchnahme des formellen Justizsystems ist durchaus ein Indiz für eine Verletzung des Rechts auf gleichen Rechtszugang und kann als Diskriminierung verstanden werden, die insbesondere arme, eingewanderte und nicht-weiße Personen betrifft.

 Tricks der Unternehmen, den Mindestlohn zu unterlaufen

Besonders kreativ sind die Unternehmen, wenn es um die Erfindung von Möglichkeiten geht, um den Mindestlohn zu unterlaufen. In der alltäglichen Praxis gab es bisher solche Tricksereien:

  • In manchen Betrieben wurde ohne Begründung der Mindestlohn nicht gezahlt oder behauptet, für bestimmte Tätigkeiten, Anstellungsverhältnisse wie Minijobs oder Betriebsgrößen gelte er nicht.
  • Es wurden den Beschäftigten neue Verträge mit reduzierter Arbeitszeit vorgelegt, aber die Arbeit im alten Umfang erwartet.
  • Im Einzelhandel haben Beschäftigte in Minijobs mit ihrem Vertrag übers Jahr gesehen eine feste Summe bekommen – ohne Berücksichtigung des Mindestlohns pro Zeitstunde.
  • Beschäftigte erhielten nur für eine geringe Stundenzahl den Mindestlohn, der Rest wurde „schwarz“ ausgezahlt.
  • In der Gastronomie wurden Trinkgelder verrechnet, indem das Trinkgeld in einen Topf geworfen wurde, um daraus die Lohnerhöhung zu finanzieren.
  • Zuschläge wie Urlaubs- oder Weihnachtsgeld wurden gestrichen, um damit formell den Stundenlohn anzuheben. Bei anderen Beschäftigten fiel der bisher gezahlte Sonn- und Feiertagszuschlag plötzlich weg.
  • Urlaubstage wurden auf das gesetzlich vorgeschriebene Minimum von 24 Tagen reduziert, um die Mindestlohnkosten wieder „reinzuholen“.
  • Minijobber wurden angehalten, Familienangehörige unter 18 Jahren bei ihrem Betrieb anzumelden, um die Ausnahmeregelung für Minderjährige zur Umgehung des Mindestlohnes zu nutzen.
  • Beschäftigte durchliefen ein mehrmonatiges Praktikum und bekamen dafür kein Geld. Laut Mindestlohngesetz ist ein freiwilliges Praktikum nach Studium oder Berufsausbildung ab dem ersten Tag der Beschäftigung mit dem Mindestlohn zu vergüten. Ausnahmen gibt es nur für bestimmte Pflicht- oder Orientierungspraktika. Reguläre Arbeit wurde so als Praktikum deklariert, obwohl es sich nicht um Lernverhältnisse handelte.
  • Die Unternehmen reduzierten formell die Arbeitszeit, um so bei gleichbleibendem Monatsentgelt auf Mindestlohnniveau zu kommen. So etwas bedarf einer Vertragsänderung, der beide Seiten zustimmen müssen.
  • Beschäftigte erhielten den Mindestlohn, mussten aber eine „Umsatzabgabe“ zahlen.
  • Ein Teil der Arbeit wurde zwar zum Mindestlohn abgerechnet, Überstunden tauchten aber auf dem Lohnzettel nicht auf. In einigen Betrieben wurden bis zu 200 Überstunden nicht bezahlt. Wenn nach den Belegen gefragt wurde, gab es die gar nicht.
  • Saisonarbeiter wurden während der Ernte nach Kilo und nicht nach abgeleisteten Stunden bezahlt.
  • Einige Unternehmen machten sich dagegen nicht einmal die Mühe, die Nichteinhaltung des Mindestlohns zu vertuschen. Sie weigerten sich ganz offen, den Mindestlohn zu zahlen.
  • Als Teil des zustehenden Lohns wurde den Beschäftigten im Sonnenstudio Solarium-Gutscheine, im Kino-Gutscheine für Popcorn oder in der Sauna Wellness-Gutscheine überreicht.
  • In Nagelstudios wurde nur für die Zeit bezahlt, in der die Angestellten auch Kunden betreuten.
  • Manche Gastronomen oder Friseure ließen ihre Angestellten als Selbstständige für sich arbeiten.
  • Frührentner, die als Busfahrer Schüler fuhren, sollten nur dann bezahlt werden, wenn die Busse auch besetzt waren.
  • In Bäckereien wurde die Vorbereitungszeit vor der Geschäftsöffnung unter den Tisch fallen gelassen.
  • Beschäftigte im Dienstleistungssektor haben eine Kundenpauschale erhalten, unabhängig von der Dauer ihrer Anwesenheit im Betrieb.
  • Eigentlich reguläre Arbeit, wie vor allem im Bereich Soziale Dienste, wurde als Ehrenamt deklariert und dort wurden Minijobs mit dem Ehrenamt gekoppelt.
  • Die Zeitvorgaben wurden so kurz bemessen, dass sie nichts mehr mit dem realistischen Zeitaufwand zu tun hatten und bezahlt wurde nur die vorgegebene und nicht die tatsächliche Zeit.
  • Im Taxigewerbe wurde das Mindestlohngesetz in besonderem Maße verletzt. Neun von zehn Taxifahrern arbeiteten für niedrigere Löhne. Von den mehr als 39.000 Vollzeitbeschäftigten der Branche verdienten zuletzt 87,7 Prozent weniger als die Niedriglohnschwelle von 2.056 Euro brutto im Monat

und

im Reinigungsgewerbe sind Arbeitsverträge mit 20 Wochenstunden verbreitet, doch in dieser Zeit kann die geforderte Zahl an Zimmern und Quadratmetern gar nicht gereinigt werden. Die Beschäftigten mussten fünf oder auch 10 Stunden mehr arbeiten, um ihr Soll zu erfüllen, aber es wurden nur 20 Stunden bezahlt.

Schlechte Aussichten

Wenn man sich also den Arbeitsmarkt anschaut, mit seinem hunderttausendfachen Missbrauch mit Leiharbeit, Werkverträgen und dem rund eine Milliarde dokumentierten Überstunden, die die abhängig Beschäftigten den Unternehmern jährlich mit mindestens 30 Milliarden Euro vergolden, dann kann gar nicht genug angeprangert, reglementiert und kontrolliert werden.

Richtungweisend ist auch die Anhebung der Verdienstgrenze für die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse, die den Niedriglohnsektor weiter ausbauen werden.

Der Mindestlohn wird mit demnächst 12,41 Euro pro Stunde aber weder die wachsende Armut und Lohnungleichheit verringern, noch die Ungleichheit bei der Einkommensverteilung verändern, noch die Zahl der sogenannten Aufstocker senken und schon gar nicht die Konsumnachfrage steigern. Steigende Preise bei geringen Lohnerhöhungen in der Vergangenheit fressen die Einkommen derzeit einfach auf.

Wer in dem Jubelchor das Lied von der Erfolgsgeschichte des Mindestlohns mitsingt, outet sich als jemand, der sich von der konkreten Lebenssituation der Beschäftigten um Lichtjahre weit entfernt hat und nicht mitbekommen hat, dass die Gewerkschaften nicht mehr in der Lage oder willens sind, Existenz und Altersvorsorge sichernde Löhne zu erkämpfen.

 

 

 

 

 

Quellen: WSI, Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK), WAZ, Gegenblende, Bundesfinanzministerium, FKS, IAQ Report, BA, IAB, telepolis

Bild: picture alliance/dpa-Zentralbild