Löhne, Preise und Profite

Von Jürgen Leibiger

Seit mindestens 150 Jahren lässt sich darauf wetten! Kaum stehen Lohn- und Gehaltsverhandlungen an, werden landauf, landab die Rufe lauter, die Gewerkschaften sollten sich angesichts steigender Preise und Rezessionsgefahren in ihren Forderungen zurückhalten. Sonst drohe eine „Lohn-Preis-Spirale“: Höhere Löhne gleich höhere Kosten (oder höhere Nachfrage) gleich höhere Preise gleich höhere Löhne und so fort. Bei diesem Spiel gebe es also nichts zu gewinnen. Was die Lohnabhängigen mit der einen Hand an höheren Löhnen erhalten, müssten sie wegen höherer Preise mit der anderen Hand wieder ausgeben.

Abgesehen davon, dass die Arbeitskosten im Durchschnitt der Volkswirtschaft weniger als 30 Prozent (im produzierenden Gewerbe deutlich weniger, bei Dienstleistungen mehr) des Produktionswertes ausmachen, scheint die Erklärung der Preisentwicklung aus der Entwicklung der Kosten auf den ersten Blick plausibel. (Deren Löwenanteil entfällt mit etwa 50 Prozent auf die Vorleistungen, vor allem Material- und Energiekosten.) Aber was aus Sicht eines einzelnen Unternehmens unwiderlegbar scheint, stellt sich aus gesamtwirtschaftlicher Sicht als Zirkelschluss heraus, denn damit wird behauptet, Preise seien durch Preise – die Preise der Produktionsinputs – bestimmt.

Stillschweigend ist außerdem unterstellt, die Unternehmen seien umstandslos in der Lage, steigende Kosten in höhere Preise umzumünzen, obwohl die gängigen Modelle eigentlich von vollkommener Konkurrenz ausgehen. Danach sind die Unternehmen sogenannte Preisnehmer: Ihr geringer Marktanteil mache es ihnen unmöglich, auf die Preise einzuwirken. Tautologischen Charakter hat auch die übliche Bestimmung der Preise aus Angebot und Nachfrage, denn zugleich wird unterstellt, das Angebot richte sich genau wie die Nachfrage nach den Preisen. Das Ei-Henne-Ei-Problem.

Um solchen zirkulären Preisbestimmungen zu entkommen, braucht es eine Erklärung, die unabhängig vom Kostenkalkül und von Angebot-Nachfrage-Relationen ist. Also wird die Geldmenge ins Spiel gebracht. Studierenden wird bereits im Grundstudium eine Gleichung vorgeführt, nach der das gesamtwirtschaftliche Preisniveau bei konstanter Umschlagsgeschwindigkeit des Geldes und gegebener Produktionshöhe von der umlaufenden Geldmenge bestimmt wird. Die politischen Entscheidungen der Zentralbanken, darauf gerichtet, die Schuldenpolitik der Regierungen durch Ankauf von Anleihen zu unterstützen, lasse die Geldmenge expandieren. Dies erhöhe die Nachfrage und damit die Preise. Die Nachfrage wird hiernach nicht durch die Preise, sondern durch politisches Handeln erklärt. Dagegen sprechen nicht nur theoretische Überlegungen, sondern auch empirische Beobachtungen. Zwischen der Preisbewegung und der Bewegung der Zentralbankgeldmenge, die zudem nur den weit kleineren Teil der gesamten zirkulierenden Geldmenge ausmacht, besteht keine statistisch signifikante Korrelation, ganz zu schweigen von einer Ursache-Wirkung-Beziehung. Bleibt man also in dem hier skizzierten theoretischen Rahmen, lässt sich die gesamtwirtschaftliche Preisbewegung überhaupt nicht erklären, man dreht sich ständig im Kreis. Dies erklärt zumindest teilweise, warum sich auch die Diskussion buchstäblich im Kreis bewegt.

Ein Zipfelchen der Wahrheit lässt sich innerhalb dieses Theorierahmens erhaschen, wenn die Voraussetzung der Existenz vollständiger Konkurrenz aufgegeben wird. Dadurch rücken auch die Unternehmen als aktiv handelnde Akteure ins Blickfeld. Unter den Bedingungen monopolistischer Konkurrenz können sie je nach Marktmacht steigende Kosten nicht nur einfach weitergeben, sondern Preise selbst setzen. Welche Rolle die Marktmacht spielt, haben erst jüngst empirische Analysen, so von Jan Eeckhout in dem Buch „The Profit Paradox“, gezeigt.

Die markups (Gewinnaufschläge auf die Kosten) haben sich in den vergangenen vierzig Jahren im globalen Durchschnitt von 7 auf 59 Prozent erhöht. Die oberen 10 Prozent der US-amerikanischen Firmen konnten diesen Aufschlag sogar von 50 auf 150 Prozent erhöhen. So sehr weit entfernt von diesen Relationen ist man in Deutschland nicht. Es ist vor allem der international monopolisierte Energiemarkt, der die Preise treibt. Was Wunder, wenn die Unternehmens- und Vermögenseinkommen hierzulande innerhalb der letzten beiden Jahre um über 35, die Arbeitnehmereinkommen aber gerade einmal um 10 Prozent gestiegen sind. Wenn also überhaupt von einer Spiralbewegung gesprochen werden kann, dann von einer Profit-Preis-Spirale. Völlig zu Recht wird angesichts explodierender Gewinne in bestimmten Branchen eine Übergewinnsteuer gefordert und auch dem Wirtschaftsminister Habeck ist zuzustimmen, wenn er über eine Verschärfung des Kartellrechts nachdenkt. Mal sehen, was jetzt wirklich passiert.

Werden die Preise also von den Unternehmen gemacht? Hat die Zentralbank die Fäden in der Hand (vergleiche Busch in Blättchen 13/2022)? Steuern Monopole, Spekulanten (vergleiche dazu meinen Betrag im Blättchen 12/2022) oder gar Regierungen direkt oder indirekt die Preisbewegung? Sie alle haben einen Einfluss, aber letzten Endes werden die Preise in ihrer generellen, langfristig durchschnittlichen Entwicklung vom Wert, dem Arbeitswert bestimmt. Von einer Reihe an Modifikationen abgesehen, bestimmt er im Wesentlichen das Niveau der Preise, wenn Angebot und Nachfrage ausgeglichen sind. Im Begriff der Inflation steckte ursprünglich eine Ahnung von diesem Zusammenhang: inflare bedeutet im Lateinischen „aufblähen“; eine Preisbewegung, die über ein irgendwie „natürlich“ gegebenes Niveau hinausgeht. Alle anderen genannten Faktoren können zu gewissen Abweichungen davon führen, die mehr oder weniger groß und durchaus auch längerfristig sein können, bevor sie in Krisen, im Platzen von Preisblasen wieder korrigiert werden.

Vor allem aber bewirken diese Faktoren Veränderungen der Verteilung des volkswirtschaftlich geschaffenen Werts. Steigende Löhne schmälern unter sonst gleichen Bedingungen den restlichen verteilbaren Neuwert, in den sich Kapital- und Anteilseigner, Kapitalfunktionäre, Kreditgeber, die Eigentümer von Grund und Boden und der Staat teilen müssen. Sie alle sind eigenständige Akteure dieses Spiels, von ihrem Kräfteverhältnis und ihrem Verhandlungsgeschick hängt es ab, wer wieviel von dem Kuchen erhält, dessen Größe den Rahmen abgibt, in dem man sich bewegt. Hat man die Macht, Steigerungen des eigenen Anteils preiswirksam zu machen, wirkt die entstehende Inflation mittels Realeinkommenseinbußen wie ein Tribut, den die übrigen Wirtschaftsteilnehmer an diese Mächtigen zu zahlen haben. Diese Macht liegt nicht bei den Arbeitnehmern und ihren Gewerkschaften.

Lange Zeit konnten sie den Verteilungsspielraum (Inflationsrate plus Arbeitsproduktivitätswachstum), der ihre Verteilungsposition konstant gehalten hätte, nur selten ausfüllen. Und das kurze Intermezzo von wenigen Jahren, als ihnen das gelang, ist seit zwei Jahren schon wieder vorbei. Auch für die bevorstehenden Tarifverhandlungen kündigten sie an, mit ihren Forderungen unter dieser Marke bleiben zu wollen, und appellieren an die Regierung, für Ausgleich bei den besonders von der Inflation betroffenen sozialen Gruppen zu sorgen. Realpolitik oder Zeichen vorauseilenden Gehorsams?

Übrigens ist gerade Karl Marx’ Vortrag „Lohn, Preis und Profit“ von 1865 in einer neuen Ausgabe beim Hamburger VSA-Verlag erschienen. Thomas Kuczynski hat die Schrift neu herausgegeben und kommentiert. Marx beantwortet darin zwei vor über 150 Jahren im Londoner Zentralrat der Internationalen Arbeiterassoziation von John Weston, einem seiner Mitglieder, gestellten Fragen: Würde eine Lohnerhöhung in einem Teil der Industrie nicht zulasten anderer Teile gehen? Und würden allgemeine Lohnerhöhungen nicht durch eine entsprechende Erhöhung der Preise unwirksam gemacht? Verblüffend aktuell, nicht wahr! Marx hielt damals einen populärwissenschaftlichen Vortrag und hat wichtige Seiten der Bestimmung von Preisen und Profiten, die er in den Entwürfen des „Kapitals“, zu diesem Zeitpunkt teilweise bereits niederschrieben, nicht thematisiert. Das gilt beispielsweise auch für die Rolle monopolistischer Marktformen und einer Geldpolitik bei Existenz nicht-konvertierbarer Papiergeldwährungen. Fragen, die sich damals, wenn überhaupt, dann nicht so scharf stellten. Vieles hat sich seitdem geändert und vieles wissen wir mehr, aber über einige grundsätzliche Zusammenhänge von Preisen, Löhnen und Profiten hat er nach wie vor Gültiges gesagt.

 

 

 

 

 

Der Beitrag erschien als Erstveröffentlichung in DAS BLÄTTCHEN 14/2022; www.das-blaettchen.de und wird mit freundlicher Genehmigung der Redaktion hier gespiegelt.
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