Haben oder nicht haben. Gegenüber Arbeitsrechten besteht ein weltweites Rollback

Von Helmut Weiss und Mag Wompel

Es liegt nicht zuletzt im Eigeninteresse des Kapitals, Arbeitsbeziehungen zu verrechtlichen. So gibt es in vielen Ländern verbriefte Arbeitsrechte. Sie sind nicht zu verwechseln mit dem Recht auf menschenwürdige Arbeit. Außerdem sind sie Ausdruck der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse. Deshalb können sie auch wieder eingeschränkt werden.

Arbeitsrecht mit all seinen Gesetzen, Bestimmungen und seiner unterschiedlichen Rechtsprechung gibt es in etwa, seit es industrielle Lohnabhängigkeit gibt. Noch heute ist die Illusion verbreitet, es sei als Schutz der ArbeitnehmerInnen aus reiner Fürsorge den Lohnarbeitenden gegenüber geschaffen worden, um die Menschenrechte auch ins „Reich der Unfreiheit“ zu bringen. Doch beispielsweise bei der Begrenzung der Arbeitszeit, die zuerst vor allem für Kinder eingeführt wurde, galt die Sorge einem Mindestniveau an schulischer, verwertbarer Bildung, also dem Erhalt und Nachwuchs der auszubeutenden Arbeitskraft.

Auch das Kollektivarbeitsrecht – also Regelung der Interessenvertretung durch Betriebsrat oder Gewerkschaft – war nicht von Demokratisierungsbestrebungen geleitet. Es diente der Kanalisierung und Kontrolle der alltäglichen Konflikte am Arbeitsplatz, die dem Interessengegensatz von Kapital und Arbeit entspringen. Daran hat sich wenig geändert, weshalb das Arbeitsrecht ständig Anpassungen an das bestehende Kräfteverhältnis von Kapital und Arbeit unterworfen ist. Dies gilt in Deutschland insbesondere für das Betriebsverfassungsgesetz, aber auch für den so genannten Sozialstaat, also für das komplementäre soziale System der Absicherung von Lohnabhängigen bei Arbeitslosigkeit oder -unfähigkeit.

Da die Rechte der Lohnabhängigen mehr den kapitalistischen Staat vor ihnen als diese selbst schützen sollen, gehen sie natürlich nicht so weit, die Eigentumsrechte und die Verfügungsgewalt der UnternehmerInnen samt ihrer Profitmaximierungsbestrebungen ernsthaft einzuschränken. Dies gilt weltweit, und folgerichtig bedeutet das Arbeitsrecht in keinem Staat der Erde ein Recht auf angemessen entlohnte und menschenwürdige Arbeit.

Rechte als Akt der Emanzipation

Trotz dieser erheblichen Einschränkungen sind auch rudimentäre Arbeitsrechte besser als keine. Zu der weiterhin verbreiteten Sklaverei stellen sie einen wesentlichen Unterschied dar: den zwischen Rechten (die im optimalen Fall unveräußerlich sind) und dem Hoffen auf Gnade. Bei aller Unsicherheit, geltendes Recht auch tatsächlich durchsetzen zu können, stellt ein verbrieftes Recht einen Zugewinn an Freiheit gegenüber dem Ausgeliefertsein an willkürliche, paternalistische Gnade dar. Diese im 17./18. Jahrhundert gemachte Erfahrung ist durchaus aktuell. Das verdeutlichen die virulenten Debatten um Steuern versus Spenden, Sozialstaat versus Essenstafeln oder Charity versus Steuern. Daher gilt – bei aller oft berechtigten Kritik – dass es ein Privileg ist, zum Beispiel auf Betriebsräte schimpfen zu können. Zuerst einmal muss die Belegschaft einen solchen haben und dies auch in Deutschland gegen Widerstände erkämpfen, wie es aktuell etwa die Kuriere bei Deliveroo tun.

Weltweit betrachtet gibt es immer noch viele Länder, in denen grundlegende Arbeitsrechte oft unter Lebensgefahr erkämpft oder verteidigt werden müssen. Der Widerstand des Kapitals geht von körperlicher Gewalt über tödliche Arbeitsbedingungen bis zur Lebensgefahr für GewerkschaftsaktivistInnen, wie die unzähligen Morde in Kolumbien deutlich zeigen. Viel zu selten können Gewerkschaften ausreichend mobilisieren, etwa wenn es um den Widerstand gegen Reformen des Arbeitsrechtes im Sinne der Unternehmen oder die Ausweitung der Rechte von Arbeitenden und Erwerbslosen geht. Doch es gibt Fälle, in denen es gelingt. Ein Beispiel aus Südafrika: Die dortige Bewegung für ein Verbot der Zeitarbeitsfirmen ist so stark, dass selbst der Gewerkschaftsbund Cosatu – der ganz offiziell zur Regierung gehört – gezwungen war, eine entsprechende Kampagne zu organisieren. Die Gewerkschaften waren sozusagen mobilisierungspflichtig, gedrängt von einer breiten Proteststimmung.

Gerade die Kämpfe der Zeit- und LeiharbeiterInnen in der Automobilbranche sind für die globalen Konzerne überall ein wachsendes Problem: Etwa der Kampf der LeiharbeiterInnen von VW in China, der trotz der Einheitsfront von Behörden, Unternehmen und – deutschem! – Weltbetriebsrat Teilerfolge erzielte (siehe Infokasten). Aktuell gibt es einige Länder, wie etwa Südkorea, Indien oder auch die USA, in denen die Bewegungen für die Reduzierung der zum Teil unmenschlich langen Arbeitszeiten und für einen zum Leben ausreichenden Mindestlohn dazu führen, dass die Gewerkschaftsbewegung wieder erstarkt – allerdings oft jenseits der großen Gewerkschaften. Das beste Beispiel dafür ist heute Südkorea, wo der große Beitrag des Gewerkschaftsbundes KCTU zum Sturz der reaktionären Park-Regierung auch dazu führte, den Einfluss der Gewerkschaftsbewegung zu stärken, inklusive Verkürzung der Wochenarbeitszeit und Erhöhung des Mindestlohns.

Ein Zurück ist jederzeit möglich

Vielerorts – auch in Deutschland – erfolgt derzeit ein Rollback gegen arbeitsrechtliche Errungenschaften. Da sind Abwehrkämpfe gefragt, um das Schlimmste zu verhindern. Leider legitimiert diese notgedrungene Verteidigung den unzureichenden Status Quo in der Arbeitswelt, so dass sich die Maßstäbe des Normalen und Wünschenswerten zuungunsten der Lohnabhängigen verschieben.

In Deutschland passiert das derzeit bei den Angriffen auf das Arbeitszeitgesetz. Unter dem Label der Wettbewerbsfähigkeit sollen mit dem angeblichen Sachzwang der Digitalisierung gesundheits- und gesellschaftspolitische Beschränkungen der Arbeitszeit aufgehoben und vollends nach den Wünschen der ArbeitgeberInnen flexibilisiert werden. Als Motivierungspeitsche dient die Drohung mit massiven Arbeitsplatzverlusten durch Robotorisierung.

Die Verschlechterung der Arbeitsgesetzgebung ist seit etwa dem Beginn der so genannten Finanzkrise 2008 in über hundert Staaten der Erde Regierungsauftrag. Die Forderungen der Unternehmen und ihrer Interessensvertretungen sind zwischen Helsinki und Johannesburg, Chicago und Addis Abeba weitgehend deckungsgleich: Es geht darum, die Verfügung über die Ware Arbeitskraft auszuweiten. In föderativ organisierten Ländern kommen auch auf Ebene der Bundesstaaten weitere entsprechende Maßnahmen im Sinne des Kapitals dazu: In den USA ist dies beispielsweise die irreführend „Right to work“ genannte Gesetzgebung. In Indien waren es die Modellreformen des heutigen Präsidenten Narendra Modi im Bundesstaat Gujarat.

Dass die Einschränkung von Arbeitsrechten ein Prozess ist, der stufenweise immer weiter getrieben wird, zeigt sich aktuell sehr deutlich in Frankreich. Das „Loi Travail“ war in den vergangenen zwei Jahren gleich zweimal Gegenstand von Angriffen, wobei die zweite Gegenreform von Präsident Emmanuel Macron 2017 per Dekret durchgepeitscht wurde. Sie hatte unter anderem die Abschaffung von Ausschüssen zum Ziel, die sich mit Fragen der Arbeitssicherheit auseinandersetzten. Auch die per ‚legalem‘ Putsch eingesetzte brasilianische Rechtsregierung hat eine ähnliche Reform durchgesetzt. In Brasilien ging es darum, künftig unbegrenzt Subunternehmen einsetzen zu können – was Arbeitsbedingungen verschlechtert.

Eine weitere Gemeinsamkeit dieser Gegenreformen in vielen Ländern sind die Zielgruppen. So versuchen die aktuellen Reformen in Frankreich, die Legalisierung des Aufenthaltsstatus von migrantischen ArbeiterInnen zu erschweren: Zu groß ist das kapitalistische Interesse an der gesteigerten Ausbeutung von Rechtlosen. Neben Arbeiterinnen in sogenannten informellen Bereichen und migrantischen Arbeitskräften sind insbesondere junge Menschen immer wieder Ziel politischer Schritte, die Rechte und Einkommen mindern. Jede Minute Arbeitszeitverkürzung oder Arbeitsentdichtung sind, ebenso wie jeder Cent Lohn, für das Kapital entgangener Gewinn. So ist die Arbeitgeberlobby auch bei Gesetzgebern und Arbeitsgerichten unermüdlich aktiv.

Rechte nehmen, Rechte stärken

Ein wichtiger erster Schutz gegen die Enteignung schwer erkämpfter Rechte ist, sie offensiv zu nutzen. Denn Rechte sind nur dann etwas wert, wenn man von ihnen Gebrauch macht. Ein lehrreiches Beispiel hierfür ist der erfolglose Kampf gegen den Angriff auf den Bildungsurlaubsanspruch in Nordrhein-Westfalen im Jahr 2000. Dieser Anspruch wurde beschränkt. Die vom DGB mitgetragene Begründung besagte, dass der Bildungsurlaub ohnehin immer weniger genutzt wird.

Ähnliches könnte heute hinsichtlich der Angriffe auf das Arbeitszeitgesetz drohen. Nach neuesten Statistiken werden in Deutschland jährlich fast eine Milliarde Arbeitsstunden nicht bezahlt, weil die Arbeitszeit nicht erfasst wird und die KollegInnen unter Druck stehen. Gleiches gilt für verfallenden Urlaubsanspruch oder die tarifliche 35-Stunden-Woche in der Metallindustrie, in deren Genuss nicht einmal ein Drittel der Beschäftigten kommt. So wurde die 35-Stunden-Woche in der letzten Tarifrunde nach oben “flexibilisiert”.

Von zentraler Bedeutung ist in diesem Zusammenhang das Streikrecht, das immer mehr an Wert verliert, je weniger es genutzt wird. Damit wird auch die Waffe der bloßen Streikandrohung, auf die sich die DGB-Gewerkschaften gern verlassen, zunehmend stumpf. Einziges letztes Mittel wäre dann ein politischer Streik. Aber der ist verboten und wird vom DGB abgelehnt. Dass man Streikrechte stärkt, wenn man sie sich nimmt, zeigten Anfang März 2018 die LehrerInnen im US-Bundesstaat West Virginia. Dort sind Streiks im öffentlichen Dienst verboten. Aber weder darum, noch um die entsprechenden Drohungen des Obersten Staatsanwaltes haben die LehrerInnen sich geschert – ihnen reichte es schlicht und ergreifend. Und zwar so sehr, dass sie sich auch von dem kümmerlichen Abschluss der Gewerkschaften (ohne Mitgliederabstimmung) nicht vom weiteren Streiken abhalten ließen. Dabei erreichten sie eine Gehaltserhöhung, eine eher nebulöse Vereinbarung zur Krankenversicherung und eine neue Arbeitskampferfahrung. Zitat einer Aktivistin: „Es gibt keinen illegalen Streik, wenn Du ihn gewinnst.“

Ungleich schwieriger ist die Situation von Beschäftigten in Ländern, die keinerlei Streikrecht kennen. Aber es gibt ebenfalls viele Länder, in denen das Streikrecht deutlich weiter geht als hierzulande. Nicht umsonst organisiert zum Beispiel das konservative Bürgertum in Australien gerade eine Kampagne, um Solidaritätsstreiks zu verbieten, wie im Fall der Solidarität mit dem Dockerstreik. Und auch wenn die Generalstreiks in Griechenland ein Stück weit zum Ritual erstarren mögen: Im Gegensatz zu Deutschland gibt es dort dieses Recht, und es wird wahrgenommen.

Wer sich verlässt, ist verlassen

Auch bestehende Rechte können Lohnabhängigen vorenthalten werden. Dies geschieht entweder durch Druck auf Betroffene und deren Interessenvertretung oder durch Unwissenheit. Oft gibt es eine Kombination aus beidem. Ein Beispiel ist die “Jagd auf Kranke”: der Druck zur Anwesenheit auch im Krankheitsfall. Die beliebteste Form des Drucks auf Kranke sind „Rückkehrgespräche“. Oft sind diese durch eine Betriebsvereinbarung gestützt, in der sich ArbeitgeberInnen und Betriebsrat “einig sind”, einen möglichst geringen Krankenstand anzustreben, um beispielsweise im Wettbewerb zu bestehen. Zwar mögen die meisten Betriebsräte die Gründe kennen, die sie dazu bringen, solchen Druck mit betrieblichem Gesundheitsschutz zu verwechseln. Doch die meisten Lohnabhängigen sind sich ihrer Rechte und Pflichten oft nicht bewusst. Während der eine glaubt, wegen Krankheit auf keinen Fall gekündigt werden zu können, glaubt die andere, sich auf gar keinen Fall Kranksein erlauben zu dürfen. Dabei steckt der Teufel wie so oft im Detail – und hoher Krankenstand kann den besten Schutz vor Personalabbau bedeuten.

Bei der hier negativ gezeichneten Rolle des Betriebsrats wird deutlich, dass es nicht ausreicht, Rechte zu kennen und zu nutzen. Für die Frage, wessen Rechte ein Betriebsrat vertritt, ist ausschlaggebend, dass er es interessen- und gegenmachtorientiert tut. Dabei ist durchaus Kreativität gefragt und hier fängt der Bereich an, an dem die Arbeit eines Betriebsrats auch Spaß machen kann. Denn juristische Rechte können sozialen Fortschritt bremsen – und sollen es oft auch, vor allem bei Kollektivrechten. Sie tun es jedoch nur, wenn sich Betriebsräte zu sehr auf sie verlassen. Dies widerfährt beispielsweise allen Betriebsräten, die vergessen haben, dass das Betriebsverfassungsgesetz nicht von unten erkämpft, sondern den Lohnabhängigen samt dem Zwang zur „vertrauensvollen Zusammenarbeit“ zwischen Kapital und Betriebsrat aufgedrückt wurde.

Wenn aber Betriebsräte (oder ähnliche Interessenvertretungen) im weltweiten Kampf der Standorte immer erpressbarer werden und die Gewerkschaften immer kleiner und schwächer – was leider für fast alle Länder unter “neoliberaler” Regie gilt – dann bleibt nur noch der Kampf um Arbeitsrechte außerhalb der Arbeitsverhältnisse: in der politischen Arena. So kam in Deutschland der (wenn auch unzureichende) Mindestlohn politisch zustande, außerhalb der Tarifautonomie. Dementsprechend sind Ausnahmeregelungen und Kontrollen oft nur durch moralische Appelle und Petitionen zu beeinflussen – diese haben aber Nachteile: Sie sind ein Zurück in rechtlose Zeiten der Gnade, und entfachen zugleich die Illusion der Gerechtigkeit im Kapitalismus. Sie offenbaren unsere Ohnmacht.

Glücklicherweise öffnen sich aber hierzulande Teile der Linken erneut für Klassenpolitik und verstärken ihre außerbetriebliche Unterstützung von Betriebskämpfen. In arbeitsrechtlich noch schlechter gestellten Ländern war dies notwendigerweise schon immer gang und gäbe.

 

 

 

Helmut Weiss und Mag Wompel arbeiten beim Arbeitswelten-Internetportal LabourNet Germany, weitere Infos www.labournet.de

Bild: ig bau weser-ems