Alt, arm und abgehängt

Von Christoph Butterwegge

Immer mehr älteren Menschen wird in Deutschland die Würde genommen. Covid-19-Pandemie, Energiepreisexplosion und Inflation besonders verheerend. Doch Altersarmut ist keine Naturkatastrophe.

Während die bereits seit geraumer Zeit auf einem hohen Niveau verharrende Kinderarmut mittlerweile in der (Medien-)Öffentlichkeit relativ viel Aufmerksamkeit erfährt, stellt die Altersarmut nach wie vor einen blinden Fleck dar, obwohl das Armutsrisiko keiner anderen Altersgruppe in den vergangenen Jahren stärker gestiegen ist als jenes der Senior:innen. Man kann sogar von einer Reseniorisierung der Armut sprechen, nachdem zur Jahrtausendwende von einer „Infantilisierung der Armut“ (Richard Hauser) die Rede war.

Beide Tendenzen bestehen nebeneinander, denn aufgrund der Tatsache, dass von einer sozialen Misere auch wieder mehr Senior:innen betroffen sind, die jahrhundertelang als „würdige Arme“ galten, heute jedoch bezichtigt werden, nicht genug vorgesorgt zu haben, wird kein einziges Kind materiell bessergestellt.

Umso notwendiger ist es, dieses politische Armutszeugnis in einem vermögenden Land zu skandalisieren und gleichzeitig Druck auf Regierende wie Parlamentarier:innen auszuüben, damit sich etwas ändert.

Die markantesten Besonderheiten der Altersarmut

Altersarmut ist mindestens durch fünf Merkmale gekennzeichnet, die sie deutlich von allen übrigen Armutsformen unterscheiden und ihre Beseitigung oder Verringerung durch politische Gegenmaßnahmen am dringlichsten erscheinen lassen:

  1. Armutserfahrungen sind für alte Menschen besonders deprimierend, diskriminierend und demoralisierend: Ihnen wird durch Bedürftigkeit, finanzielle Einschränkungen und Entbehrungen nicht bloß die Würde genommen, sondern auch der Lohn für ihre Lebensleistung vorenthalten, ohne dass diese Form „struktureller Gewalt“ (Johan Galtung) bisher von der Öffentlichkeit als solche erkannt, geschweige denn von einer Bundesregierung ernsthaft bekämpft worden ist.
  2. Das im Art. 1 Satz 1 GG zur Fundamentalnorm unserer Verfassung erhobene Gebot, die Würde des Menschen zu wahren, wird durch ein Leben in Armut missachtet. Senior:innen, denen im Unterschied zu jungen Menschen die Hoffnung auf ein durch Aufnahme von Erwerbstätigkeit (wieder) steigendes Einkommen fehlt, droht dieses Schicksal bis ans Lebensende. Alternativen zu ihrer prekären Situation gibt es praktisch nicht; was allein bleibt, ist Perspektivlosigkeit.
  3. Wenn nicht außergewöhnlich günstige Umstände eintreten, wächst die Armutsbetroffenheit von Senior:innen in den letzten Lebensjahren sogar noch, weil sich ihre Einkommenssituation zumindest im Regelfall nicht mehr wesentlich verbessert, während die Kosten für Arzneimittel sowie medizinische und Pflegedienstleistungen im Alter drastisch zunehmen.
  4. Armut geht oft mit Einsamkeit und sozialer Isolation einher. Davon sind ältere Menschen ohnehin häufiger betroffen als jüngere. Während der Covid-19-Pandemie trugen Quarantänemaßnahmen und die Abschirmung der in Alten- bzw. Pflegeheimen lebenden Senior:innen gegenüber Besucher(inne)n dieser Einrichtungen dazu bei, dass sich die Tendenz zum Alleinsein verstärkte.
  5. Die Covid-19-Pandemie, die Energiepreisexplosion und die Inflation treffen alte Menschen härter als junge, weil sie in der Regel nicht mehr erwerbstätig und deshalb viel zu Hause sind, was ihre Heizkosten genauso in die Höhe treibt wie die Tatsache, dass sie kälteempfindlicher sind. Außerdem bekommen sie viel seltener einen Bankkredit zur Bewältigung finanzieller Überbelastung als junge Menschen, weil man ihnen die Tilgung von Schulden nicht mehr zutraut. Immer häufiger steht am Ende ein ordnungsamtliches oder Sozialbegräbnis.
Indikatoren, Ausmaß und Dimensionen der ergrauenden Armut

Nie war die ältere Generation hierzulande so tief in Arm und Reich gespalten wie heute: Auf der einen Seite konzentriert sich das Vermögen bei wenigen Hyperreichen, auf der anderen Seite wissen viele Rentner:innen nicht mehr, wie sie ohne den Gang zu einer Lebensmitteltafel über die Runden kommen sollen. Unter deren zwei Millionen Stammkund:innen befinden sich immer mehr alte Menschen.

Während sich wohlhabende und reiche Senior:innen auf Kreuzfahrtschiffen vergnügen, die Hyperreichen gehören, putzen alte Frauen, deren Rente nicht zum Leben reicht, öffentliche Toiletten, tragen frühmorgens Zeitungen aus oder füllen Supermarktregale auf. Vielerorts gehören Senior:innen, die in Müllcontainern nach Pfandflaschen suchen, längst zum Stadtbild.

Obwohl die Armut zunehmend ergraut, gibt es unterschiedliche, wenn nicht sogar gegensätzliche Zahlenangaben zur Betroffenheit der älteren Menschen. Wer das Problem verharmlosen möchte, wie es die Bundesregierung immer noch tut, nennt vor allem die Anzahl der Bezieher:innen von Grundsicherung im Alter.

Im Dezember 2021 bezogen 589.000 Menschen die Leistungen der Altersgrundsicherung. Das waren zwar mehr als doppelt so viele wie im Jahr 2003, als die Grundsicherung im Alter und bei (voller) Erwerbsminderung eingeführt wurde, aber nur etwa 3,2 Prozent der Senior:innen.

Die zuletzt vom Statistischen Bundesamt veröffentlichte Zahl von 628.600 Grundsicherungsempfänger(inne)n im Juni 2022 ließ kurz aufhorchen, weil die Vergleichszahl des Vorjahresmonats über 50.000 niedriger lag. Aus dieser Perspektive erscheint Altersarmut trotzdem immer noch als Rand(gruppen)problem, das bloß eine kleine Minderheit der Menschen trifft. Aus einschlägigen Untersuchungen der Armutsforschung geht jedoch hervor, dass die sog. Dunkelziffer sehr hoch ist, weil nur einer von drei Anspruchsberechtigten diese Transferleistung beantragt.

Einen sehr viel besser geeigneten Indikator für die wachsende Altersarmut stellt das Kriterium der Europäischen Union dar, wonach armutsgefährdet ist, wer in einem Mitgliedsland über weniger als 60 Prozent des mittleren Nettoäqivalenzeinkommens verfügt. Als einkommensarm kann hierzulande somit ein Alleinstehender gelten, der weniger als 1.148 Euro (2021) im Monat zur Verfügung hat.

Demnach hat die Altersarmut in Deutschland mit 17,4 Prozent und knapp drei Millionen betroffenen Senior:innen genauso einen Höchststand erreicht wie die Armut insgesamt mit 16,6 Prozent der Bevölkerung und 13,8 Millionen Betroffenen.

Kürzlich regten sich CDU/CSU-Bundestagsabgeordnete und Journalist:innen der Mainstreammedien darüber auf, dass über zwei Millionen Rentner:innen die Energiepreispauschale in Höhe von 300 Euro doppelt erhalten: einmal als Erwerbstätige und ein zweites Mal als Rentner:innen.

Niemand erkannte den eigentlichen Skandal und fragte sich, warum überhaupt so viele Menschen im Rentenalter noch arbeiten (müssen): 1,15 Millionen Rentner:innen haben einen Minijob; 900.000 Rentner:innen sind sozialversicherungspflichtig beschäftigt. 835.000 Senior:innen hatten 2021 sogar mit 67 und mehr Jahren noch einen Minijob und 217.000 waren noch sozialversicherungspflichtig beschäftigt, sicher nicht zuletzt wegen einer zu geringen Rente.

Altersarmut per Gesetz? – Erklärungsansätze und die von ihnen benannten Entstehungsursachen

Geht es um die Gründe für wachsende Armut im Alter, kann man im Wesentlichen zwei Erklärungsansätze unterscheiden.

1. In biologistischer Manier wird Altersarmut zu einer Naturkatastrophe erklärt, die im demografischen Wandel begründet liegt, und damit jegliche Verantwortung der politischen Entscheidungsträger geleugnet. Die demografische Entwicklung erscheint als Krisen- bzw. Katastrophenszenario, das zu einer umfassenden Modifikation der Alterssicherungssysteme (Kürzung von Leistungen, Verschärfung der Anspruchsvoraussetzungen und Privatisierung von Risiken) zwingt. Die Höhe der Renten hängt aber nicht von der Biologie, sondern von der Ökonomie und von der Politik ab.

Entscheidend ist nämlich, wie viel Reichtum ein Land erzeugt und auf wen, genauer: auf welche Klassen und Bevölkerungsschichten, aber auch auf welche Altersgruppen, man ihn wie verteilt. Bei einer stagnierenden bzw. künftig sinkenden Bevölkerungszahl, wie sie in demografischen Horrorszenarios beschworen wird, müsste im Falle eines (inflationsbereinigt) weiterhin recht kontinuierlich wachsenden Bruttoinlandsprodukts eigentlich für alle genug da sein. Überzeugend wirkt dieser Erklärungsansatz daher bei genauerer Betrachtung nicht.

2. In einem politökonomischen Ansatz sind für die wachsende Altersarmut vor allem zwei Ursachenbündel verantwortlich: Die nach der Weltwirtschaftskrise 1974/75 betriebene Demontage des Sozialstaates im Allgemeinen und der Gesetzlichen Rentenversicherung im Besonderen einerseits sowie die seit dem Jahrtausendwechsel forcierte Deregulierung des Arbeitsmarktes andererseits.

a. Das am 1. Januar 1992 in Kraft getretene Rentenreformgesetz brachte für die Versicherten erstmals spürbare Verschlechterungen mit sich. So ging man von der brutto- zur nettolohnbezogenen Anpassung der Renten über, verkürzte die Höchstdauer der Anrechnung von Ausbildungszeiten, ließ die Rente nach Mindestentgeltpunkten auslaufen, hob die Altersgrenzen für den Renteneintritt von Frauen schrittweise von 60 auf 65 Jahre an und führte Abschläge von 0,3 Prozent pro Monat bei vorzeitigem Rentenbezug ein, die bis zum Tod wirksam sind. SPD und Bündnisgrüne nahmen eine (Teil-)Privatisierung der Altersvorsorge vor, entlasteten die Arbeitgeber (Senkung der gesetzlichen Lohnnebenkosten) und senkten das Sicherungsniveau (von damals 53 Prozent vor Steuern auf 48 Prozent vor Steuern heute).

Die Riester-Reform brach 2001/02 mit zwei für den Sozial(versicherungs)staat konstitutiven Grundsätzen, dem Prinzip der paritätischen Finanzierung und dem Prinzip der Lebensstandardsicherung. Sie war eine Anschubfinanzierung für die Börse; im Unterschied zu Banken, Finanzdienstleistern und Versicherungen, die von der „kapitalgedeckten“, d.h. finanzmarktabhängigen Altersvorsorge profitierten, hatten insbesondere Geringverdiener:innen nichts davon.

Auch die 2007 erfolgte Anhebung des Renteineitrittsalters von 65 auf 67 Jahre war eine verkappte Rentenkürzung, weil aufgrund gesundheitlicher Probleme vorzeitig in den Ruhestand wechselnde Personen häufiger bzw. höhere Abschläge hinnehmen müssen.

b. Mit der „Agenda 2010“ von Gerhard Schröder wurde der Kündigungsschutz gelockert, die Leiharbeit liberalisiert und ein mittlerweile zwischen 20 und 25 Prozent aller Beschäftigten umfassender Niedriglohnsektor etabliert, der als Haupteinfallstor für Altersarmut fungiert. Besonders das als „Hartz IV“ bekannte Gesetzespaket hat bewirkt, dass immer weniger Arbeitnehmer:innen genug Rentenanwartschaften aufbauen können, um im Alter finanziell abgesichert zu sein.

Aufgrund diskontinuierlicher Erwerbsverläufe und prekärer Arbeitsverhältnisse bleiben die Rentenzugänge derzeit immer stärker hinter den Bestandsrenten zurück. Paketzusteller:innen, Getränkelieferanten und Fahrradkuriere arbeiten zwar hart, können aber nicht auf eine auskömmliche Rente hoffen.

Was zu tun ist

Wenn die obige Analyse der Entstehungsursachen von Altersarmut richtig ist, muss eine Gegenstrategie auf zwei Ebenen ansetzen: Notwendig ist die Reregulierung des Arbeitsmarktes, ergänzt um die Fortentwicklung der Gesetzlichen Rentenversicherung zu einer solidarischen Bürger- bzw. Erwerbstätigenversicherung.

1. Nur ein Mindestlohn in existenzsichernder Höhe, also von mehr als 12 Euro brutto pro Stunde, die Streichung sämtlicher (besonders vulnerable Gruppen wie Langzeitarbeitslose, Jugendliche ohne Berufsabschluss und Kurzzeitpraktikanten treffender) Ausnahmen sowie eine flächendeckende Überwachung durch die zuständige Finanzkontrolle Schwarzarbeit des Zolls könnten bewirken, dass der Mindestlohn überall ankommt. Er sollte perspektivisch nach angloamerikanischem Vorbild zu einem „Lebenslohn“ (living wage) weiterentwickelt werden, der nicht bloß die Existenz, sondern auch die Teilnahme am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben ermöglicht.

Tarifverträge müssen durch Erleichterung der Allgemeinverbindlichkeitserklärung wieder ihre gesellschaftliche Normsetzungswirkung entfalten, Minijobs in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse umgewandelt, alle sachgrundlosen Befristungen aufgehoben und Leiharbeitsverhältnisse entweder ganz verboten oder stärker reguliert werden.

2. Es reicht nicht, die Riester-Reform rückabzuwickeln, die Dämpfungs- bzw. Kürzungsfaktoren (Riester-Treppe sowie Nachhaltigkeits- und Nachholfaktor) aus der Rentenanpassungsformel herauszunehmen, das offizielle Renteneintrittsalter stabil zu halten und die Bundesagentur für Arbeit wieder Rentenversicherungsbeiträge für Erwerbslose zahlen zu lassen.

Eine solidarische Bürger- bzw. Erwerbstätigenversicherung hat im Hinblick auf die Altersvorsorge zwei Grundfunktionen: Lebensstandardsicherung und Armutsbekämpfung. Sie muss einerseits dafür sorgen, dass alle Menschen, die jahrzehntelang berufstätig waren, den während ihres Erwerbslebens gewohnten Lebensstandard nach dessen Beendigung halten können, und andererseits sicherstellen, dass Menschen, die eine diskontinuierliche Erwerbsbiografie aufweisen, nicht erwerbsfähig und/oder lange Zeit arbeitslos waren, im Alter würdevoll leben können.

Selbstständige, Freiberufler:innen, Beamte, Abgeordnete und Minister:innen müssten ebenso Beiträge entrichten wie die Arbeitnehmer:innen. Nicht bloß auf Löhne und Gehälter, sondern auf sämtliche Einkunftsarten, d.h. auch Kapitalerträge, also Zinsen, Dividenden und Tantiemen, sowie Miet- und Pachterlöse wären Beiträge zu entrichten. Die bisher Solidarität limitierende Beitragsbemessungsgrenze müsste entweder auf- oder stark angehoben werden, damit es privilegierten Personengruppen nicht mehr möglich ist, sich ihrer Verantwortung für sozial Benachteiligte teilweise zu entziehen.

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Der Autor:

Christoph Butterwegge hat von 1998 bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt und zusammen mit Gerd Bosbach und Matthias W. Birkwald das Buch Armut im Alter. Probleme und Perspektiven der sozialen Sicherung herausgegeben. Zuletzt ist von ihm Die polarisierende Pandemie. Deutschland nach Corona erschienen.

 

 

 

 

 

 

 

Der Beitrag erschien auf Onlinemagazin für Politik & Medien im digitalen Zeitalter | Telepolis (heise.de) und wird hier mit freundlicher Genehmigung des Autors gespiegelt.
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