Arbeitsplätze selber schaffen – Das argentinische Modell als Vorbild: besetzen, Widerstand leisten, weiterproduzieren

Von Daniel Kulla

Wenn ein Betrieb abgestoßen oder ausgeschlachtet werden soll, weil er auf diese Weise für Eigentümer und Teilhabende mehr Gewinn abwirft, kann er immer noch rentabel genug sein, um der Belegschaft, wenn sie ihn rechtzeitig übernimmt, einen Lebensunterhalt zu verschaffen.

Diese einfache Möglichkeit, die vom Insolvenzrecht vieler Staaten sogar vorgesehen ist, führte auch in Argentinien ein Schattendasein, bis die hochorganisierten und prinzipiell sehr entschlossenen dortigen Arbeitskräfte sich von der Schließungswelle in den 1990ern zu dieser riskanten und verzweifelten Vorgehensweise gedrängt sahen. Als erstes blockierten diejenigen, die keine Betriebe mehr zu besetzen und übernehmen hatten, da diese bereits geschlossen waren, kurzerhand die Straßen und bildeten Piquetes (Blockaden), um Hilfe zu erzwingen. Doch ab Ende des Jahrzehnts begannen die Versuche, die Schließungen selbst aufzuhalten, die nach einigen Fehlschlägen schließlich ab etwa 1998 zur heute noch vorherrschenden Form fanden: den von Belegschaftsgenossenschaften geführten Fabricas Recuperadas, also den wieder flott gemachten, genesenen oder instandbesetzten Betrieben.

Viele der Recuperadas führen sich auf das Décret des ateliers der Pariser Kommune vom 16. April 1871 zurück, das die Fortführung der von Eigentümern verlassenen Werkstätten durch Kooperativen der dort vorher Beschäftigten vorsah. Diese historische Politisierung hat mit den Lernprozessen zu tun, die durch die Betriebsübernahmen bei vielen Beteiligten angestoßen wurden.

Am Anfang sei es nur um den eigenen Arbeitsplatz gegangen, sagen sie fast alle, erst mit der Zeit sei klargeworden, was dies alles bedeutet und was alles daran hängt. Die ersten Besetzungen begannen oft damit, Türen einzutreten, Zäune aufzutrennen, sich aus Arbeitsmaterial zu bewaffnen — und die andere Seite in Gestalt der Polizei oder privater Schläger war nicht weniger zimperlich. Ohne zumindest die Androhung von Gewalt war nichts durchzusetzen.

Im südargentinischen Neuquén, wo es um eine riesige moderne Tongießerei ging und der Eigentümer vor Einsetzen der Ausschlachtung in die Flucht gestreikt werden konnte, bestand die Drohung in Tonkugelschleudern, aber im weiteren Sinne auch in der Versammlung immer größerer Mengen von Leuten aus dem Viertel, aus der Umgebung, aus kämpferischen Gewerkschaftssektionen (vor allem immer wieder die Lehrkräfte), schließlich aus den Stadtverwaltungen und lokalen Parlamenten. Das Ausmaß der staatlichen Repression wuchs, damit aber auch deren Sichtbarkeit und das politische Risiko, immer mehr Menschen gegen die Staatsgewalt, die unterdessen ab Ende 2001 einen ausgewachsenen landesweiten Aufstand niedergeschlagen hatte, und die politisch Verantwortlichen aufzubringen. Nachdem im Verlaufe von zwei Jahrzehnten weit mehr als 300 Betriebe in die Hand von insgesamt etwa 20.000 Arbeitskräften übergegangen sind, versuchen Staat und Kapital längst, den Prozess notfalls mit allen Mitteln zu stoppen, bevor er richtig beginnt. Denn sobald die Betriebe besetzt sind und die Übernahme in Aussicht steht, ist eine Räumung nur noch gegen die Öffentlichkeit durchzusetzen, die sich nach wie vor nach allen Umfragen und Studien in überwältigender Mehrheit auf der Seite der Recuperadas sieht.

Die neueren Fälle in den letzten Jahren entstanden dann auch durch kommunale Abstimmungen mit eindeutigen Ergebnissen und durch detailliert geplante, juristisch abgesicherte Nahtlos-Übergaben, gestützt auf eingespielte landesweite Organisationen — die Repression wurde so schlicht ausmanövriert. Doch macht der Apparat der bürgerlichen Herrschaft den Betrieben das Leben so schwer wie möglich, verschärft noch mal seit dem Regierungsantritt des konservativneoliberalen Mauricio Macri 2015. Schon vorher wurden die Recuperadas boykottiert und bekamen weder Kredite noch Subventionen. Nun ging es im Kontext eines gigantischen Sozialkahlschlags zur Erfüllung der IWF-Auflagen aggressiv auch an die Existenzbedingungen der instandbesetzten Betriebe, vor allem ihrer Einkommensstruktur, die auf sozial ohnehin kaum abgesicherter Kleinselbständigkeit (monotributismo) der Genossenschaftsmitglieder basiert. Diese verteidigten oder zurückgewonnenen Arbeitsplätze bieten keinen vollständigen Ersatz für reguläre oder gar tariflich abgesicherte Jobs. Versuche, die oft als sozialistisch missverstandenen früheren Kirchner-Regierungen (2003-2015) zu einer grundsätzlichen und wirksamen Änderung des Versicherungs- und Steuerstatus zu bewegen, waren ebenso erfolglos wie die Kampagnen zu mehr als nur partieller rechtlicher Unterstützung der Betriebe insgesamt.

Der Kirchnerismus blieb fest auf dem Boden seiner peronistischen Tradition und war nur zu möglichst kostenneutralen Zugeständnissen bereit, soweit die Eigentumsordnung unangetastet blieb — und ebenso die Hegemonie der Partei- und Gewerkschaftsorganisationen, die General Juan Peron während seiner ersten Präsidentschaft unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg zum Containment der starken argentinischen Arbeitskräftebewegungen eingerichtet hatte. Es handelt sich bei den Recuperadas um Defensiveinrichtungen, in Anerkennung des Umstands, dass die vormals gerade von den sozialistischen Unterstützenden angestrebte »Verstaatlichung unter Arbeiterkontrolle« angesichts der praktischen Position der Kirchneristas nicht zu halten und für die meisten Arbeitskräfte in den Betrieben schlicht nicht attraktiv war. Vielmehr galt sie unter den gegebenen Umständen eher als Falle. Dennoch wurde sich, wo die Betriebsstruktur das erlaubte, beharrlich um staatliche Aufträge bemüht, um aus der Abhängigkeit von Outsourcing/ Subsourcing (tercerizaciön) in den Zulieferketten der Großunternehmen zu entkommen. Aber selbst wo dies gelang (wie beim Textilbetrieb Brukman in der Innenstadt von Buenos Aires), nutzte die Regierung jede Gelegenheit, um die Betriebe unter Druck zu setzen und über den Tisch zu ziehen.

Es gehen also diejenigen fehl, die hier eine offensive Aneignung von Produktionsmitteln am Werk sehen und sich die Instandbesetzungen als leicht übertragbares Modell für ganz andere Konstellationen zurechtbiegen. Es sollen andererseits all die an ihrem Zynismus ersticken, die das überschießende Element der Recuperadas nicht erkennen wollen, vor dem das Kapital in Argentinien durchaus in Panik gerät. Denn an den konkreten Auflagen, die gegen die Betriebe immer wieder mit viel Aufwand, Manipulation und notfalls Erpressung durchgesetzt werden sollen (was bedauerlicherweise bei etwa der Hälfte der Betriebe in irgendeiner Form erfolgreich war), ist gut zu erkennen, dass die Infragestellung der ökonomischen Ordnung durch die interne Organisation, die Vorbildwirkung und die wechselwirkenden Solidaritätseffekte weiter und tiefer geht. Diese staatlichen Auflagen betrafen größtenteils die konkrete Erscheinungsform, die aus den Kämpfen direkt hervorgegangen war und in der die Belegschaften am wenigsten erpressbar waren — was der Hauptgrund dafür ist, dass diese so sehr unter Beschuss standen.

Die Betriebe waren und sind überwiegend egalitär organisiert, was sowohl die ökonomische Seite wie auch die Entscheidungsebene betrifft. Alle Mitglieder der Kooperative bekommen den gleichen »Lohn« (den gleichen Anteil am Gewinn) , und alle wesentlichen Entscheidungen werden von der Vollversammlung (Asamblea) aller Mitglieder getroffen, die alle einberufen können und auf der alle das gleiche Rede- und Stimmrecht haben. Die notwendigen Posten (Präsident, Schatzmeister usw.) bestimmt ebenfalls die Asamblea. Das bietet den Vereinnahmungs- und Bestechungsversuchen weniger Einfallstore und soll nach dem Willen derer, die die Betriebe letztlich als DIY-Billiglohnsektor ausnutzen wollen, entsprechend durch klassische Hierarchien ersetzt werden, deren Spitzen leichter erpressbar oder empfänglich wären. Die Erfahrung, Betriebe kollektiv und egalitär selbst führen zu können, auf Chefs und Management verzichten und sich trotz Kredit- und Subventionsboykott jahrzehntelang behaupten zu können, soll nach Willen von Bürgertum und Regierung, kirchneristisch oder nicht, auf keinen Fall um sich greifen.

Wie ist es zu dieser Konstellation gekommen, woher haben die Recuperadas ihre charakteristische Struktur? Rückblende in die späten 1990er. In Sin Patron, dem »Buch aus der Bewegung über die Bewegung«, das ich ins Deutsche übertragen habe, schildert die herausgebende Verlagskooperative Lavaca die Ausgangssituation. Nach dem Ende der neoliberalen Militärdiktatur von 1976 bis ’83 führte die Präsidialdemokratie deren ökonomische Agenda fort: »Argentinien hatte die Arena des Washington Consensus betreten. Staatlicher Terror war nicht länger nötig, um ihn durchzusetzen. Die Strategie der Repression wurde ersetzt durch die Strategie der Arbeitslosigkeit und des gesellschaftlichen Ausschlusses — das ökonomische Verschwindenlassen von Menschen. Innerhalb von 30 Jahren schrumpfte die Industrieproduktion um fast 50 Prozent, was unter anderem den Verlust von 600.000 Arbeitsplätzen bedeutete. Gegen Ende des Jahres 2000 waren laut einer Studie des Wirtschaftsministeriums unter den zehn größten Arbeitgebern des Landes vier Supermärkte, eine Fastfood-Kette und eine private Sicherheitsfirma – das heißt: schlecht bezahlte und unsichere Arbeitsplätze. Der industrielle Sektor schaffte es – mit Ausnahme der Zuckerfabrik Ledesma und des Lebensmittelherstellers Arcor — nicht unter die obersten 30.«

Wie die argentinische Politikwissenschaftlerin Magui Löpez hervorhebt, lagen um 2000 nicht nur die Reallöhne nur noch bei der Hälfte des Niveaus von 1970, es erreichten gleichzeitig sowohl die Arbeitslosigkeit als auch die informelle Arbeit Rekordhöhen. In dieser Situation fingen Belegschaften an, Betriebsschließungen nicht mehr hinzunehmen und nicht nur gegen sie zu protestieren, sondern sie eigenhändig rückgängig zu machen. Die ersten derartigen Versuche wie bei der Großschlachterei Yaguané scheiterten an den Schulden der vormaligen Eigentümer, welche die Belegschaften durch die direkte Übertragung zu übernehmen gezwungen waren. Obwohl der Betrieb unter Belegschaftskontrolle die Rindfleischindustrie in puncto Exporterlöse anführte, hatten die Mitglieder kaum genug zu essen. Die Form der Arbeiterkooperative setzte die Belegschaft selbst als Anspruch, gewissermaßen als Startkapital, und zog eine klare Linie zu den Schulden und Verbrechen der Alteigentümer. Zudem war diese Rechtsform erheblich billiger zu registrieren und fiel unter die Zuständigkeit des Instituto Nacional de Asociativismo y Economia Social (Inaes), einer bis dahin weitgehend brachliegenden Sozialinfrastruktur, die die instandbesetzten Betriebe nun quasi gleich mit rekuperiert haben. Die von Stilllegung und Arbeitslosigkeit bedrohte Belegschaft bei Ghelco, einem Zulieferbetrieb für die unter Bankaufsicht gestellte Freddo-Eisdielen-Kette, erfuhr von der Möglichkeit der Instandbesetzung durch einen Polizisten, der eigentlich ihr Protest- camp im Auge behalten sollte und ihnen dabei erzählte, wie die Belegschaft der nahegelegenen Wollefabrik Lavalån aus ihrem Betrieb geknüppelt worden war, aber als Genossenschaft wiederkam. Mit den ersten erfolgreichen Besetzungen und Fortführungen schon für bankrott erklärter Betriebe war eine Handlungsoption sichtbar in der Welt, die andere Belegschaften noch Ende der Neunziger zu ähnlichen Versuchen ermutigte. Ab dem Aufstand von 2001 kamen in einer Welle Dutzende mehr hinzu. Dieser Aufstand brach aus, nachdem das IWF-Labor Argentinien vor aller Augen zusammengebrochen war und die Auswirkungen sogar die Mittelschicht zu erfassen begannen, handgreiflich mit dem Einfrieren der Bankkonten. Vorher waren schon große Teile der übrigen Bevölkerung von den Werksschließungen, dem Ausverkauf und der »Séarpolitik« betroffen und hatten sich, anders als das im obigen Zitat vielleicht klingt, bei Widerstand brutaler, teils tödlicher Repression gegenübergesehen.

Die erste Welle der straßenblockierenden Piqueteros bestand noch überwiegend aus vormals Staatsangestellten, die ab etwa Mitte der 1990er auf den Verlust ihrer bisher sicher scheinenden Arbeitsplätze reagierten; die zweite Welle ab Ende des Jahrzehnts kam bereits zu großen Teilen aus dauerhaft verarmten Milieus, die gegen ihre Lebensumstände insgesamt protestierten. Diese beiden Wellen trafen im Dezember 2001 als Massenbewegung von Hunderttausenden ganz buchstäblich mit der von Verarmung bedrohten und auf leere Kochtöpfe schlagenden (cacerolazo) Mittelklasse im Zentrum von Buenos Aires zusammen und bilden die seither auf fast jeder größeren Demonstration in Sprechchören beschworene Einheit der Arbeiter (unidad de los trabajadores), die durch anhaltende Massenproteste innerhalb einer Woche mehrere Regierungen aus dem Amt jagte und schließlich dafür sorgte, dass wieder eine peronistische Regierung zumindest vorgab, den neoliberalen Ausverkauf zu beenden, und tatsächlich eine Reihe sozialer Maßnahmen ergriff. Die Repression, die nun entsprechend der Selbstverpflichtung der Regierung nicht mehr offiziell von der Bundespolizei kommen durfte, wurde auf lokaler und regionaler Ebene fortgeführt und nahm vielerorts auch informellen bis kriminellen Charakter an. Viele der Betriebsbesetzungen aus dieser Zeit hatten es mit Auftragsschlägern aus den Barras Bravas (organisierte Fußballfans) zu tun, der Terror reichte bis zur Bedrohung und Entführung von Angehörigen der Mitglieder von Arbeiterkooperativen.

Wie mit den Recuperadas in der Folge hauptsächlich umgegangen war Teil der allgemeinen Strategie gegenüber den sozialen Bewegungen, die den Aufstand getragen hatten. Neben der nun in der Tendenz dezentralisierten Repression und den Sozialmaßnahmen gab es den Versuch der direkten Vereinnahmung, den ich als »Entrismus von oben« beschrieben habe: die Bildung von kirchneristischen Fraktionen oder Vorposten in den Bewegungen und Strukturen, die durch exklusiven Zugang zu Mitteln und Informationen nach und nach per Erpressung und Überredung die Führung (oder zumindest Steuerung) übernahmen, die Selbstorganisation abwürgten und so insgesamt versuchten, halbwegs kostenneutrale Vorfeldorganisationen zu schaffen. Das geschah nacheinander mit fast allen tragenden Sozialbewegungen, angefangen mit den Piqueteros, vorläufig endend mit der LGBT-Bewegung. All dies wurde ganz ähnlich mit den Recuperadas versucht, allerdings mit geringerem Erfolg. Ihnen gelang es immer wieder, zentrale Teile des politischen Credos des Peronismus gegen die Regierung zu wenden, so vor allem durch die Idee der »genuinen Arbeit«, von der man tatsächlich leben kann, und des Anspruchs auf Eigentum durch Arbeit, die den Betriebsbesetzungen zusätzliche Legitimation verschaffen konnte.

Dennoch gab es, solange das politisch zu verantworten war, die lokalisierte Repression, dazu durchgängig die populären Versprechen der Unterstützung (praktisch wurden allerdings in den Jahren der Kirchner-Regierungen fast keine Subventionen gezahlt, und es herrschte fast völliger Kreditboykott) und ebenso die Übernahmeversuche. Bei letzteren spielte ein zweiter Dachverband die Hauptrolle, der der Nationalen Bewegung der instandbesetzten Unternehmen (MNER) die Hegemonie streitig zu machen versuchte. Angeführt von Luis Caro, der als Anwalt zunächst mehreren Belegschaften bei den Betriebsübernahmen geholfen hatte, band diese Nationale Bewegung der instandbesetzten Betriebe (MNFR) genannte Struktur immer mehr Betriebe direkt an die Regierung, versuchte Änderungen in der internen Organisation durchzusetzen, warf aufmüpfige Teile der Belegschaft raus und führte in Einzelfällen die gerade erst abgewendete Ausschlachtung fort. Da allerdings die MNER peronistisch geprägt war und es in der Auseinandersetzung folglich zu Loyalitätskonflikten kam, wandten sich manche Betriebe und Teile von Belegschaften denjenigen zu, die sich nicht hatten vereinnahmen lassen, vor allem den trotzkistischen Parteien Partido Obrero (PO) und Partido de los Trabajadores Socialistas (PTS). Diese hatten ihr anfängliches Beharren auf Verstaatlichung unter Arbeiterkontrolle aufgegeben und unterstützten die Belegschaften wirksam dabei, unter den gegebenen Bedingungen ihre Betriebe weiter selbstorganisiert und egalitär zu führen. Unter anderem diese konkrete Hilfe für die Recuperadas machte diese Parteien landesweit immer beliebter, die — als Ersatzinfrastruktur für Arbeitskämpfe außerhalb der peronistischen Großgewerkschaften überall bekannt — mittlerweile zur Wahlallianz Frente de Izquierda y de los Trabajadores (FIT) fusioniert im nationalen Parlament vertreten sind. Sie machten viele soziale Kämpfe so sichtbar, dass nicht mehr einfach an ihnen vorbei entschieden werden konnte. Und sie organisierten vielerorts die Betriebsübernahmen noch geschickter selbst mit.

Der Druckerei Madygraf in der Zona Norte (nördliches Industriegebiet von Buenos Aires) gelang so im Sommer 2014 eine praktisch nahtlose Fortführung des Betriebs. Dort wurden nicht nur viele Elemente der bisherigen Besetzungen aufgegriffen und ähnliche Erfahrungen gemacht (etwa das Ausbleiben von schwerwiegenderen Arbeitsunfällen seit der Übernahme), es gab auch Weiterentwicklungen und wichtige Modifikationen am Modell, so die Asambleas Reducidas, Vorgesprächsrunden für die Vollversammlungen, um Teile der Belegschaft, die im öffentlichen Diskutieren weniger geübt waren, an die Debatte und Entscheidung über den eigenen Betrieb heranzuführen. Die wichtigste Erfahrung bleibt jedoch die der gegenseitigen Unterstützung und der damit erzeugten Sichtbarkeit, sowohl zunächst im Betrieb, über die Abteilungsgrenzen und Lohnniveaus hinweg, als auch später in die Umgebung hinein: die anderen Betriebe, die anderen sozialen Kämpfe, die politische Nachbarschaft. Kaum etwas warf sich Jorge Medina, der über den Arbeitskampf bei Madygraf zur PTS kam und den ich Anfang 2016 als Sprecher der Kooperative vor Ort interviewte, so sehr vor, wie dass die Belegschaft an einer Soliaktion für eine andere umkämpfte Druckerei in der Zona Norte wegen eines fertigzustellenden Druckauftrags nicht teilnehmen konnte.

Viele der stärker politisierten Genossenschaftsmitglieder betonten, dass erst durch die Belegschaftskontrolle praktisch alle weiteren Entscheidungen über den Betrieb überhaupt so getroffen und durchgesetzt werden können. In den nach wie vor egalitär organisierten Recuperadas wurde zusätzlich hervorgehoben, dass das formale Eigentum einer Genossenschaft am Betrieb noch nicht ausreicht, sofern die vormalige Entscheidungsstruktur nur leicht modifiziert fortbesteht, der Chef einfach durch einen Präsidenten und das Management durch den Vorstand ersetzt wird. Zum anderen ging es ständig um das Verhältnis zur (damaligen) Regierung, zum Staat, um die gebrochenen Versprechen, die offene und versteckte Repression, Erpressung, Bestechungsversuche, all die vielen Manöver, um die Betriebe doch wieder stärker unter Kontrolle zu bekommen. Auch wurde viel darüber gesprochen, welche unterschiedlichen Konsequenzen aus diesem brüchigen Verhältnis zum Kirchnerismus gezogen wurden: der oft aus Mangel an noch offenstehenden Alternativen vollzogene Beitritt zu Luis Caros Re-Rekuperationsorganisation MNFR (die dennoch eine Form überregionaler Verbindung und Sichtbarkeit bedeutete und oft nach Abschaffung der egalitären Selbstverwaltung und Rausschmiss der Unruhestifter ein Ende der Repression); die zwischen den Recuperadas und der Regierung vermittelnde MNER, die weltanschaulich den »linksperonistischen« Kirchneristas nahesteht und deren bekanntester Vertreter Eduardo Murüa wohl genauso oft die erste Tür bei einer Besetzung eingetreten hat, wie er mit ansehen und zulassen musste, dass Recuperadas zu klassisch hierarchischen Genossenschaften an der Leine der Regierung wurden; schließlich die konsequente Unterstützungsstruktur der FIT, die immer dann zum Tragen kommt, wenn die inneren Rivalitäten der Parteien und ihrer Teile nicht mit dem alten Spiel »Wer sind die Menschewiki, wer die Bolschewiki, wer die Abenteurer« die Debatte dominieren, und die punktuell erstaunliche Erfolge erzielen konnte.

Auf die Frage, ob es Verbindungen nach Deutschland gebe, antwortet Murüa: »Nein, nichts. Aber das muss passieren. Unser Vorbild muss auch dort verbreitet werden. In Europa könnte es noch schneller gehen, die Betriebe sind in einem viel besseren Zustand. Wir können ihnen sagen, dass sie den Produktionsausstoß drastisch verringern und dennoch ihr Lohnniveau halten können — weil die Produktionskosten stark abnehmen, wenn ein Betrieb von den Arbeitern geführt wird.« Auf meine Anmerkung, in Deutschland könnte es auch darum gehen, die Produktion von Rüstungs- und Dual-Use-Gütern oder Autos auf andere, nützlichere Dinge umzustellen, sagt Murüa: »Die Selbstverwaltung ist wichtiger. Und vielleicht sollten die Arbeiter auch weiter Waffen produzieren — sie könnten sie selbst gebrauchen.«

Um von den Erfahrungen in Argentinien lernen zu können, hilft es, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede jenseits der Stereotype über angebliche »Mentalitäten« herauszustellen. Hier wie dort gibt es mit den Großgewerkschaften und den systemtragenden »Arbeiterparteien« (Sozialdemokratie / Peronismo) ähnlich mächtige strukturelle Widerstände, die sich aber teilweise einklagbar über das Wohl der Belegschaften legitimieren. Hier wie dort haben wir eine Vielzahl von Branchen in moderner industrieller Produktion, ebenso einen ausgeprägten Dienstleistungsbereich, und überall gibt es Schließungen von Betrieben, die für ihre Belegschaften weiterhin den Lebensunterhalt liefern könnten und die oft eine wichtige Rolle für ihre soziale Umgebung spielen. Argentinien ist ärmer, der Leidensdruck der Arbeitskräfte war oft sehr hoch und kaum mit dem hiesigen gleichzusetzen.

Doch auch und gerade, wenn einem am Wohlergehen der dortigen Arbeitskräfte liegen sollte, ist zu beherzigen, was sie üblicherweise antworten, wenn sie gefragt werden, was von Deutschland und Europa aus für sie getan werden kann. Meist wollen Menschen hier wissen, wo sie Produkte der dortigen Betriebe kaufen können, was angesichts des Marktprotektionismus der EU aber kein sinnvoller Weg ist. Verweisend auf die globalen Lieferketten und ihre Angreifbarkeit durch internationale Solidarität sagen die Leute in den Recuperadas meist: »Besetzt Betriebe bei euch, bestreikt Betriebe bei euch.«

 

Daniel Kullas Text ist eine gekürzte Fassung aus dem von Christopher Wimmer herausgegebenen Band »Where have all the rebels gone?« Perspektiven auf Klassenkampf und Gegenmacht (Unrast, 304 Seiten, 18 Euro)

 

 

Der Artikel erschien zuerst in konkret 4/2020 und wird hier mit freundlicher Genehmigung der Redaktion gespiegelt.

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