Armutsberichterstattung zur Abschreckung – je mehr neoliberale Ideologie in das politische Handeln einzieht, desto weniger wird es die Verwirklichung sozialer Menschenrechte geben

Seit Anfang der 1990er Jahre werden Kommunen, Länder und auch der Bund von Sozialhilfeinitiativen, Erwerbslosengruppen und Arbeitslosenzentren aufgefordert, Armutsberichte anzufertigen. Davon versprach man sich, dass die Armut in die Öffentlichkeit kommt und aufgrund der Daten,  konkrete sozialpolitische Maßnahmen abgeleitet  und  Finanzmittel zur Verfügung gestellt werden.

Die angesprochenen Institutionen taten sich bis vor einigen Jahren schwer damit, Armuts- (und Reichtums)berichte zu veröffentlichen, weil sie wussten, dass nach der Hartz-Gesetzgebung, die Armut zugenommen hatte und Maßnahmen zur Armutsbekämpfung ihre Wirkung nicht erbrachten. Oft wurde auch seitens der Bundesregierung der Bericht beschönigt, Teile weggelassen und manchmal auch Daten und Fakten verfälscht.

Nun hat aber ein Paradigmenwechsel stattgefunden. Die Berichte und Studien sorgen nur noch für kurze Aufregung, ein Gewöhnungseffekt ist eingetreten. Niemand bestreitet mehr, dass es in Deutschland Armut gibt. Immer wieder werden aktuelle Studien veröffentlicht, die Armut allgemein und speziell bei alleinerziehenden Frauen, alten Menschen und Kindern als Dauerzustand beschreiben und es passiert nichts. Keine der Regierungsparteien ist in den vergangenen 20 Jahren gegen die katastrophalen Verhältnisse, die mittlerweile ganze Generationen von Kindern und Jugendlichen benachteiligten, angegangen.

Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Die Berichte scheinen nicht mehr Basis für die Bekämpfung der Armut und Entwicklung von Gegenstrategien zu dienen, sondern nur noch der Abschreckung. Sie sollen die Angst vor dem sozialen Abstieg schüren, die Menschen zur Selbstoptimierung anhalten und die Bevölkerung spalten.

Die Sozial- und Arbeitsmarktpolitik der vergangenen 30 Jahre, begleitet durch regelrechte Kampagnen der Konzernmedien, haben mit dazu beigetragen, dass die Politiker keine Angst haben müssen, wenn neue Meldungen über gestiegene Armut verbreitet werden, dass die Betroffenen ihre Rechte einfordern und die Systemfrage stellen. Die Angst liegt vielmehr bei den Betroffenen, selbst von Armut und Ausgrenzung erwischt zu werden. Die individuelle Schuldzuweisung, selbst für die Lage verantwortlich zu sein, hat gewirkt. Die Menschen in den prekären Lebens- und Arbeitsverhältnissen haben neben der lähmenden Angst verinnerlichte Schuldgefühle, weil sie sich und ihren Angehörigen keine gute Lebensperspektive bieten können.

Armut und Ungleichheit führen nicht nur zur materiellen Benachteiligung, sondern haben auch massive soziale und psychische Auswirkungen, mit dem Verlust von Selbstwertgefühl, da die konkrete Lebenssituation kein Leben in Würde erlaubt.

Eltern

Die armen und von Armut bedrohten Menschen leben im Dauerstress, vor allem, wenn sie für eine Familie sorgen müssen. Da wird das Monatsende gefürchtet, weil nicht sicher ist, ob man in der Lage sein wird, unerwartet anfallende Ausgaben noch leisten zu können.

Die Gängelung durch die Behörden und Institutionen zerstört jegliche Selbstbestimmung und nicht selten muss der gesamte Tag damit verbrachte werden, Steine, die die Behörden in den Weg legen, wegzuräumen und dabei nach außen den Schein zu erwecken, alles im Griff zu haben. Besonders Allenerziehende erleben oft, dass die Zukunftsangst psychiatriert wird, ihnen eine „Angststörung“ diagnostiziert wird, die das Jugendamt auf den Plan rufen kann, weil dann das „Kindeswohl“ gefährdet ist. Oder wenn das Jobcenter nicht gezahlt hat und Geld für Energieschulden beim Energieanbieter, der die Lieferung einstellen will, bei der Stadt oder Gemeinde geliehen werden muss, die dann die Frage stellen, ob überhaupt vernünftig gehaushaltet wird und die Kinder nicht in einem „unwirtschaftlich geführten“ Haushalt aufwachsen. Die Bedrohung, immer wieder ein neuer „Fall“ zu werden, ist permanent existent.

Mittlerweile muss um jede öffentliche Leistung gekämpft bzw. gerichtlich erstritten werden, immer wieder das Fehlen von Belegen angeführt und mangelnde Mitwirkung unterstellt und sanktioniert – obwohl alle Unterlagen nachweislich vorliegen.

Auch Versicherungsleistungen, für die jahrelang Beiträge eingezahlt wurden, müssen erstritten werden. Es kommt häufig vor, dass z.B. das Krankengeld, eine beitragsgeführte Versicherungsleistung, nicht ausgezahlt wird und die Familie mittellos dasteht.

Aus diesem Geflecht kommt der, dem die Leistungen zustehen und ohne die seine Existenz nicht gesichert ist, ohne anwaltliche Hilfe nicht heraus. Aber auch hier wurde durch die „Reform“ der Beratungs- und Prozesskostenhilfe im Jahr 2014 die Möglichkeit für arme Menschen zu ihrem Recht zu kommen, erheblich eingeschränkt.

Kinder

Kindern wird bei uns schon sehr früh ihr Platz in der Hierarchie gezeigt. Soziale Prozesse sorgen dafür, dass ein Aufstieg kaum noch gelingt und spätestens in der Grundschule nehmen Kinder die Unterschiede wahr und empfinden ihre konkrete Lebenssituation als individuelles Versagen.

Jedes Kind wird als soziales Wesen geboren, das von Anfang an nicht nur Gegenstände und Geräusche wahrnimmt, sondern auch Gefühle und Befindlichkeiten. Es reagiert auf Mimik, Gestik, Tonfall und Blick. Schon nach einigen Monaten kann ein Kind erkennen, ob seine Bezugspersonen traurig oder fröhlich sind. Ist das Kind 15 Monate alt, hat es schon ein Gerechtigkeitsgefühl entwickelt, mit 18 Monaten ist es in der Lage, andere Kinder zu trösten.

Jedes Kind, soweit es nicht vernachlässigt oder misshandelt wird, entwickelt früh Empathie, also sich in andere Menschen hineinzuversetzen und in sie hinein fühlen zu können. Ältere Kinder und Jugendliche empören und schämen sich, wenn berechtigte Interessen oder Ziele eines anderen Menschen nicht berücksichtigt werden, seine Gefühle verletzt und ihm in der Not Hilfe verweigert wird.

Was ist aber, wenn solche Empfindungen und Charaktere bei uns gar nicht mehr nachgefragt werden, wenn sie den vorherrschenden Normen und Werten widersprechen. Dort wo der Markt herrscht, herrscht auch die Vorteilsnahme auf Kosten anderer. Es gilt Wettbewerb, Konkurrenz und die brutale Durchsetzung von Eigeninteressen, als Voraussetzung für persönlichen und wirtschaftlichen Erfolg. Gleichgültigkeit und Rücksichtslosigkeit gewinnen die Oberhand.

Trotzdem ist das emphatische Empfinden die Grundlage für all das, was die Menschen verbindet, Mitgefühl, Rücksichtnahme, Kooperation und Solidarität. Die Empathie hat sich in der Evolution sogar als ein Mechanismus entwickelt, der für das Überleben notwendig ist.

Auch deshalb ist es sehr aufwendig, den jungen Menschen Anteilnahme und Mitfühlen abzugewöhnen.

Wie funktioniert es, aus einem liebevollen und mitleidenden Kind, einen machtbesessenen und rücksichtslosen Karrieristen zu machen?

In der Bildung und Erziehung werden ganz bestimmte Persönlichkeitsmerkmale belohnt. Die Kinder werden schon so früh wie eben möglich dem Wettbewerb ausgesetzt. Das Bildungsziel lautet Selbstmanagement, gearbeitet werden muss andauernd an der Steigerung des eigenen Marktwertes und die Kinder mit der höchsten Produktivität werden aus- und erwählt.

Die Medien spielen auch mit, überall gibt es Rankings, Suche nach dem Super Star und harte Wettbewerbe zu sehen, bei denen die Looser öffentlich scheitern.

Parallel dazu werden aufwendige Untersuchungen angestellt, um Kinder als Konsumenten zu gewinnen, die ihre Eltern mit ihren teuren Wünschen nerven. Da findet man heraus, dass Kinder in Alter von 6 Monaten schon innere Bilder von Firmen-Logos und Maskottchen entwickeln oder dass ein Kind im Alter von 2 Jahren Markentreue herausbilden kann. Trendforschung im Kinderzimmer ermöglicht dann Kids-Marketing. Es werden eigene Kindertypologien entwickelt, also welcher Kindertyp empfänglich für welche Produkte ist.

Immer wieder soll der Marktwert der Kinder und Jugendlichen gesteigert werden, durch ganz viel oberflächige Kontakte im Netz, richtiges Styling mit Markenkleidung und körperbetontem Habitus.

Kinder werden so zu reinen Konsumenten gemacht und sind damit verwertbar. Sie sollen nicht nur attraktive Waren kennenlernen, sondern auch die emotionalen Bedürfnissen entwickeln, dass es ungemein wichtig ist, Teil der Konsumwelt zu sein. Sie lernen die Regeln der manipulativen Kommunikation, bei der Waren mit Gefühlen verbunden werden, sie zum Kauf verführt und dann mit Glückshormonen belohnt werden.

Die Verengung der Sicht auf den Menschen als ökonomisch nützlich oder unnütz geht einher mit der Aussonderung der „Unnützlichen“. Nur bestimmte Kinder werden dem „Humankapital“ zugerechnet. Die als sozial marginalisiert definierten und „als Problem“ konstruierten Gruppen von Kindern, wie beispielsweise in Armut lebende Kinder, Kinder mit Behinderungen, Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf oder Kinder mit Migrationshintergrund werden meist nicht dem „Humankapital“ zugeordnet, sondern als marktwirtschaftlich nutzlos definiert.

Für Kinder entsteht durch diese andauernde Sortierung, ständigem Wettbewerb und Konkurrenzdruck, Eigenvermarktung und Selbstoptimierung die klassische Zwickmühle. Als soziales Wesen auf die Welt gekommen, das Mitgefühl, Rücksichtnahme, Kooperation und Solidarität praktiziert und dann weiß das Kind nicht mehr, welcher Botschaft es glauben soll. Sprachliche und nicht-sprachliche Kommunikation stimmen nicht mehr überein, es muss zwei gegensätzlichen Behauptungen oder Anweisungen gerecht werden. Was sie als Kleinkinder empfunden haben und was von der Familie oder in den pädagogischen Einrichtungen als Norm vermittelt wurde, steht nun den tatsächlichen Rahmenbedingungen, Normen und Werten und sogar Gesetzen völlig entgegen.

Werden sie einem solchen Kommunikationsmuster mehr und mehr ausgesetzt, erkranken sie. Aber dafür gibt ja auch schon lange eine marktgerechte Lösung.

Laut einer Studie der AOK gehören das Aufmerksamkeitsdefzit- und Hyperaktivitätssyndrom, besser bekannt als ADHS mittlerweile zu der am häufigsten diagnostizierten Entwicklungsstörung. Die Verschreibung des Arzneimittels das dagegenwirken soll – vielen als Ritalin bekannt – hat sich in den vergangenen 7 Jahren verdoppelt. Besonders häufig müssen die sogenannten Kannkinder, die gerade erst in die Grundschule gekommen und kurz vor dem Stichtag 6 Jahre alt geworden sind, dieses Medikament nehmen. Weil sie „altersgerecht verspielt“ oder „unbändig und überaktiv“ sind, müssen sie mit einem Psychopharmakon behandelt werden, das ihnen später häufig als Einstiegsdroge für die Sucht nach Medikamenten und illegaler Substanzen dient.

Es gibt seit Jahren ein Bündnis von Ärzten, Pharmaindustrie, Lehrern und Eltern, das daran arbeitet, dem Zappelphilipp die aufgedrückte Karriere nicht zu vermasseln. Im Stress von Schulzeitverkürzungen und Pisa Untersuchungen und den entsprechenden Lehrplänen schon in der Grundschule ist für „Störer“ kein Platz und die heftigen Nebenwirkungen werden bei den „Stillsitzdrogen“ leicht in Kauf genommen.

Kinder brauchen viel mehr als gute Zeugnisse, gradlinige Lebensläufe und Ausdauer im Konkurrenzkampf, sie brauchen Freiräume, Platz für Abenteuer, Räume zur Selbstentfaltung und die Chance, auch mal scheitern zu dürfen.

Jugendliche

Jugendliche haben zunehmend Schwierigkeiten, sich eine Welt jenseits von Geld und Ware vorzustellen. Sie werden in eine städtisch ausgerichtete Gesellschaft hineingeboren und darin sozialisiert, in der mittlerweile alles zur Ware geworden ist, selbst ihre Bildung, Gesundheit und soziale Kontakte. Sie sind einem permanenten Konkurrenzdruck ausgeliefert, bei dem kein Platz mehr für „konkrete Utopien“ ist.

Die Logik von Geld und Ware durchdringt alle Lebensbereiche bis hinein in ihre alltägliche Lebensführung. Sie müssen sich zunehmend als lebendige Waren- und Geldsubjekte verstehen und andauernd an ihrer Selbstoptimierung arbeiten. Ihr möglichst makelloses Gesicht ist zum Markenzeichen mutiert und muss zu Werbezwecken in den „sozialen“ Netzwerken öffentliche gezeigt werden.

Die jungen Menschen wissen genau, dass ihre vielen virtuellen Freunde eigentlich mehr ihre Konkurrenten sind und ihr zukünftiges Leben an Reichtum, Konsumieren, Spaß haben, individuelle Stärke und Durchsetzungsvermögen gemessen wird.

Sie wissen wahrscheinlich noch nicht, dass

  • ihre Arbeitskraft im Zuge der dritten, der mikroelektronischen industriellen Revolution überflüssig geworden ist und nicht mehr gebraucht wird.
  • sie anders als noch ihre arbeitslosen Vorgängergenerationen, nicht zur industriellen Reservearmee gehören, die nach einer Krise wiedereingestellt wird, sondern dass sie überflüssig sind
  • sich durch die Globalisierung und Rationalisierung die Produktivität immens erhöht hat, aber die Anzahl der Arbeitsplätze nicht. Eher hat sich die weltweite Massenarbeitslosigkeit strukturell verfestigt
  • sie keine durchgängige Beschäftigungsbiografie haben werden, sie meist flexible Beschäftigungsverhältnisse eingehen müssen, die kaum eine Lebensplanung ermöglichen und sie sich nicht um eine ausreichende Altersvorsorge kümmern können
  • im Konkurrenzkampf soziales Verhalten als Schwäche ausgelegt wird, Gesund- und Fittheit ausgestrahlt werden müssen, sie ständig erreichbar und mobil sein müssen und nirgendwo Wurzeln schlagen können

und wenn sie eine Arbeit haben, sie ständig einer Überforderung ausgesetzt sein werden, die sie langfristig körperlich und seelische erkranken lässt.

Je mehr neoliberale Ideologie, desto weniger Verwirklichung sozialer Menschenrechte

Die neoliberale Gesellschaft produziert Individuen, die auf die Funktion des Konsumenten reduziert sind, als Norm gilt nur die aktuelle Effizienz, das Ziel ist Gewinn und die Tugend Habgier.

In ihr gibt es keinen fürsorgenden, sondern den strafenden Staat und kein unabhängiges Individuum mehr. Die Instanzen, die früher helfen sollten, wie Beratungsstellen, Erziehungshilfe und das Gesundheitswesen sind selbst Teil des Wettbewerbs geworden und wollen die Ursachen dieser schrecklichen Entwicklung nicht mehr bekämpfen.

Je mehr die neoliberale Ideologie Einzug in das politische Handeln findet, desto weniger wird es die Verwirklichung sozialer Menschenrechte geben!

 

 

 

Quellen: Butterwegge, Heitmeyer, Ossietzky

Bildbearbeitung: L.N