Corona-Hilfen: Alle hilfebedürftigen Gruppen müssen gleichbehandelt werden – Brief von GGUA und Tacheles an Arbeitsminister Heil

Sehr geehrter Herr Minister Heil,

in den letzten Tagen hat die Bundesregierung bzw. der Koalitionsausschuss mehrere sozialrechtliche Sonderregelungen für einkommensschwache Personenkreise umgesetzt bzw. beschlossen. Dies begrüßen wir grundsätzlich. Wir befürchten allerdings, dass ein ganzer Teil der einkommensschwachen Menschen in Deutschland bei diesen Hilfen leer auszugehen droht: Insbesondere geflüchtete Menschen mit einer Aufenthaltsgestattung und Duldung dürften viele der verabredeten Zuschüsse nicht erhalten können. Dasselbe gilt für bestimmte EU-Bürger*innen, die weit unterhalb der Armutsgrenze leben müssen, weil sie aufgrund der gesetzlichen Ausschlussregelungen noch nicht einmal SGB-II / XII-Leistungen bzw. Kindergeld erhalten. Auch einkommensschwache Personen, die Wohngeld und / oder Kinderzuschlag erhalten, drohen außen vor zu bleiben. Diese Ungleichbehandlung zulasten der einkommensschwächsten Gruppen ist nicht hinnehmbar. Wir bitten Sie daher, folgende Aspekte in der weiteren Umsetzung zu berücksichtigen.

1. Kinderbonus:

Die Regierungsparteien haben im Koalitionsausschuss am 3. Februar verabredet, dass „auf das Kindergeld ein einmaliger Kinderbonus von 150 Euro gewährt“ werde, der nicht mit anderen Sozialleistungen verrechnet wird. Das Problem: Menschen mit Aufenthaltsgestattung und Duldung sowie mit einigen Aufenthaltserlaubnissen, aber auch nicht erwerbstätige Unionsbürger*innen haben keinen Anspruch auf Kindergeld und werden daher auch den Kinderbonus nicht erhalten. Dies war auch im Jahr 2020 bereits so. Diese Kinder sind aber von den sozialen Auswirkungen der Pandemie mindestens genauso betroffen, wie alle anderen. Daher muss zumindest diesmal die gesetzliche Regelung so ausgestaltet werden, dass auch Kinder, für die kein Anspruch auf Kindergeld besteht, den Kinderbonus dennoch erhalten.

 

2. Corona-Zuschuss in der Grundsicherung

Die Koalitionsfraktionen haben beschlossen, dass „erwachsene Grundsicherungsempfänger aufgrund der durch die COVID-19-Pandemie ihnen entstehenden Mehraufwendungen eine einmalige Sonderzahlung in Höhe von 150 Euro“ erhalten sollen. Was zur „Grundsicherung“ zählt, lässt der Wortlaut des Beschlusses offen: Ohne Zweifel ist damit die Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II sowie die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem SGB XII gemeint und vermutlich auch die Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII. Ob die Bundesregierung aber auch die Grundleistungen nach § 3 AsylbLG dazu zählt, bleibt offen. Hier wird es in der konkreten gesetzlichen Ausgestaltung darauf ankommen, dass auch diese Gruppe den Zuschuss von 150 Euro erhalten wird, da eine Ungleichbehandlung überhaupt nicht nachvollziehbar und gerechtfertigt wäre. Abgesehen davon wird es darauf ankommen, dass nicht nur einmalig, sondern dauerhaft eine deutliche Erhöhung der Regelbedarfe durchgesetzt wird.

 

3. Schulcomputer für Schüler*innen

SGB II: Die BA hat in Abstimmung mit dem BMAS am 1. Februar 2021 (https://www.arbeitsagentur.de/datei/weisung-202102001_ba146855.pdf) eine Weisung veröffentlicht, nach der die Jobcenter für alle Schüler*innen im SGB II-Leistungsbezug zur Übernahme der Kosten für digitale Endgeräte im Rahmen eines Zuschusses verpflichtet werden. Rechtsgrundlage für die Kostenübernahme ist der seit 1. Januar bestehende § 21 Abs. 6 SGB II:

„Bei Leistungsberechtigten wird ein Mehrbedarf anerkannt, soweit im Einzelfall ein unabweisbarer, besonderer Bedarf besteht; bei einmaligen Bedarfen ist weitere Voraussetzung, dass ein Darlehen nach § 24 Absatz 1 ausnahmsweise nicht zumutbar oder wegen der Art des Bedarfs nicht möglich ist. Der Mehrbedarf ist unabweisbar, wenn er insbesondere nicht durch die Zuwendungen Dritter sowie unter Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten der Leistungsberechtigten gedeckt ist und seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht.“

Die BA stellt in der Weisung klar, dass

• die Kostenübernahme als Zuschuss und nicht als Darlehen erfolgen muss. Bereits seit 1. Januar 2021 bewilligte Darlehen für denselben Zweck sind in einen Zuschuss umzuwandeln.

• die Kostenübernahme dann erfolgt, wenn die Schule bestätigt, dass die digitale Ausstattung notwendig für die Teilnahme am Distanzunterricht ist und auch nicht anderweitig (z. B. über das Ausleihen von Schulcomputern) bereitgestellt wird.

• im Regelfall bis zu 350 Euro pro Schüler*in für Tablet / PC inkl. Zubehör wie Drucker geleistet werden und

• dieser Anspruch für alle Schüler*innen an berufsbildenden oder allgemeinbildenden Schulen bis 24 Jahre besteht. Dies gilt auch für Auszubildende, die eine Ausbildungsvergütung erhalten.

Die Weisung ist grundsätzlich zu begrüßen, da damit erstmals ein Mehrbedarf für Computer anerkannt und recht klar geregelt wird. Allerdings ist die Höhe von i. d. R.

350 Euro zu gering für Tablet / PC inkl. Zubehör. Das LSG Thüringen hat mit Beschluss vom 8.1.2021- L 9 AS 862/20 B ER insgesamt 500 € für Computer nebst Zubehör zur Verwirklichung des Rechtes auf Bildung und Chancengleichheit zuerkannt. Diese 500 € sehen wir als notwendig an. Zudem sollte der Anspruch nicht auf die Zeiten von Distanzunterricht beschränkt werden, da auch während Präsenzunterricht die Ausstattung mit digitalen Endgeräten unverzichtbar ist, so auch das LSG Thüringen. Auch wenn nur aufgrund des PC-Bedarfs Hilfebedürftigkeit gegeben sein sollte und kein laufender Leistungsbezug vorliegt, müssen die Bedarfe übernommen werden.

Dauerhaft ist der bessere Weg den Anspruch auf digitale Endgeräte in die BuT-Leistungen einzugliedern (§ 28 SGB II).

 
SGB XII / § 2 AsylbLG:

Für Leistungsberechtigte nach SGB XII (Hilfe zum Lebensunterhalt nach SGB XII, Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, Analogleistungen nach § 2 AsylbLG) entfaltet die Weisung keine Wirkung. Es fehlt bei diesem Kreis eine klare Rechtsgrundlage zur Erbringung der einmaligen Leistungen, da anders als im SGB II keine entsprechende Norm im Gesetz eingeführt wurde. Nach der geltenden Rechtslage kommt nur ein Darlehen im Rahmen des § 37 SGB XII in Frage (das aber aufgrund des viel zu geringen Anteils für Bildungsbedarfe im Regelsatz unzumutbar ist) oder in verfassungskonformer Auslegung des § 27a Abs. 4 SGB XII zu erbringen ist: Dieser Paragraf ist vom Wortlaut her nur auf regelmäßig wiederkehrende zusätzliche Bedarfe und nicht auf einmalige ausgerichtet. Das Bundesverfassungsgericht hat aber klargestellt, dass in eine derartige Norm dann verfassungskonform auch auf einmalige Bedarfe ausgelegt werden muss oder eine andere Rechtsgrundlage zur Deckung der einmaligen Bedarfe geschaffen werden muss (BVerfG, Urteil vom 23. Juli 2014; 1 BvL 10/12, Rn. 116).

 

Forderungen:

• Kinder im SGB XII-Bezug dürfen nicht schlechter gestellt werden als Kinder im SGB-II-Bezug.

• Daher ist als Zwischenlösung durch das BMAS eine Weisung zu erlassen, in der die Sozialämter angewiesen werden digitale Endgeräte in verfassungskonformer Auslegung zu gewähren.

• Dauerhaft ist der Gesetzgeber aufgefordert, eine Rechtsgrundlage im SGB XII für die Übernahme einmaliger zusätzlicher Bedarfe entsprechend § 21 Abs. 6 SGB II zu schaffen.

• Die Ergänzung des § 34 SGB XII (Bildungs- und Teilhabepaket) um den Anspruch auf digitale Endgeräte. Damit würde der Anspruch dauerhaft und unabhängig von Distanzunterricht als existenzieller Bedarf von Schüler*innen normiert und es wäre klargestellt, dass er auch unabhängig von einem laufenden Leistungsbezug erbracht werden muss, wenn nur aufgrund der BuT-Bedarfe Bedürftigkeit entstehen sollte (§ 34a Abs. 1).

 

§ 3 AsylbLG:

Für Kinder im Grundleistungsbezug existiert als Rechtsgrundlage § 6 Abs. 1 S. 1 AsylbLG:

„Sonstige Leistungen können insbesondere gewährt werden, wenn sie im Einzelfall zur Sicherung des Lebensunterhalts oder der Gesundheit unerläßlich, zur Deckung besonderer Bedürfnisse von Kindern geboten oder zur Erfüllung einer verwaltungsrechtlichen Mitwirkungspflicht erforderlich sind. Die Leistungen sind als Sachleistungen, bei Vorliegen besonderer Umstände als Geldleistung zu gewähren.“

Trotz der „Kann-Formulierung“ besteht regelmäßig kein Entschließungsermessen, sondern nur Auswahlermessen – es handelt sich also faktisch um einen Anspruch. Dass auch für Schüler*innen im AsylbLG-Bezug die Bedarfe für Schulcomputer ebenso entstehen und gedeckt werden müssen, wie für SGB-II-beziehende Schüler*innen, sollte unstrittig sein. Somit wäre bereits jetzt für die Sozialämter eine Gewährung möglich und könnte u. U. auch gerichtlich durchgesetzt werden.

 

Forderungen:

• Es bedarf einer Weisung des BMAS an die Bundesländer bzw. Erlasse / Anwendungshinweise der Bundesländer an die Kommunen, sich bei der Anwendung des § 6 AsylbLG an den Vorgaben der BA-Weisung zu orientieren.

• Schulcomputer sollten in § 34 SGB XII (BuT-Leistungen) einbezogen werden. Diese Norm ist auch im AsylbLG entsprechend anwendbar (§ 3 Abs. 4 AsylbLG).

• Für Kinder, die einer Leistungskürzung nach § 1a AsylbLG unterliegen, ist § 6 versperrt. Hier bedarf es einer Klarstellung im Gesetz oder per Weisung, dass Kinder nie einer Leistungskürzung nach § 1a AsylbLG unterworfen werden dürfen, zumal sie ausländerrechtlich nicht handlungsfähig sind. Abgesehen davon muss – solange die Leistungskürzungen nach § 1a AsylbLG nicht vollständig abgeschafft sind – eine Gesetzesänderung erfolgen, dass auch bei § 1a-Kürzungen die Leistungen des § 6 AsylbLG zusätzlich erbracht werden müssen.

 

Kinderzuschlag / Wohngeldbezug

Auch für Schüler*innen in geringverdienenden Familien, die zwar kein SGB II beziehen, aber im Kinderzuschlag / Wohngeldbezug sind, müssen Schulcomputer übernommen werden. Dies kann nur über eine Einbeziehung der Schulcomputer in die BuT-Leistungen erfolgen (§ 28 SGB II).

Sonstige Auszubildende und Studierende Hier sind das BMAS und BA gefragt, in einer Weisung klarzustellen, dass digitale Endgeräte nicht im Mindestabsetzbetrag von 100 EUR, welcher in pauschaler Form vom BAföG, BAB und Ausbildungsvergütung nach § 11b Abs. 2 SGB II abzuziehen ist, enthalten sind, sondern dass es sich um einen zusätzlichen Bedarf nach § 21 Abs. 6 SGB II handelt, der insofern Hilfebedürftigkeit vorliegt, in voller Höhe zusätzlich geltend gemacht werden kann.

 

4. Anspruch auf Masken

Eine Änderung der Corona-Schutzmaskenverordnung sieht vor, dass neben den schon bisher bestehenden Risikogruppen (Personen über 60 Jahre und Personen mit Vorerkrankungen) auch Leistungsberechtigte nach dem SGB II einen Anspruch auf medizinische Schutzmasken erhalten. Begründet wird die das mit, dass bei SGB-II-Berechtigten „aufgrund sozial bedingt ungünstigeren Gesundheitschancen ein erhöhtes Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf nach einer Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 besteht.“ Die Krankenkassen werden verpflichtet, Berechtigungsscheine an den Personenkreis auszustellen, die Kosten trägt der Gesundheitsfonds.

Es ist nicht nachvollziehbar, dass Leistungsberechtigte nach SGB XII (Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, Hilfe zum Lebensunterhalt) sowie nach § 2 bzw. 3 AsylbLG nicht als anspruchsberechtigte Gruppe in der Schutzmaskenverordnung aufgenommen worden sind. Das Risikopotenzial ist bei diesen Gruppen genauso groß oder sogar größer als bei SGB II-Berechtigten. Diese Personengruppen müssen mit aufgenommen werden und ein anderer Weg als über Berechtigungsscheine der Krankenkassen festgelegt werden, da diese Personen vielfach nicht über eine Krankenversicherung verfügen und auch nicht durch eine Krankenkasse betreut werden (§ 3 AsylbLG).

Dieses Problem stellt sich auch bereits bisher: Personen über 60 Jahre und mit gesundheitlichen Vorerkrankungen, die nicht Mitglied einer Krankenkasse sind und auch nicht über eine Krankenkasse betreut werden, können faktisch ihren Anspruch auf Schutzmasken nicht geltend machen. Das betrifft sowohl Personen im Grundleistungsbezug des AsylbLG als auch EU-Bürger*innen ohne Leistungsbezug und ohne Krankenversicherung. Für diese muss ein Weg gefunden werden, unabhängig von einem Berechtigungsschein der KK ihren Anspruch auf Schutzmasken auch tatsächlich umsetzen zu können.

Wir bitten Sie, sehr geehrter Herr Minister, diese Anregungen bei der weiteren Gesetzgebung zu berücksichtigen.

 

 

Mit freundlichen Grüßen

Harald Thomé (Tacheles e.V. Erwerbslosen- und Sozialhilfeverein; Rudolfstr. 125; 42285 Wuppertal)

Claudius Voigt (GGUA Flüchtlingshilfe e.V., Hafenstr. 3-5, 458153 Münster)

 

 

 

 

 

Quelle: https://tacheles-sozialhilfe.de
Bild: Sozialberatung Kiel