Demokratisierung von Erinnerungskultur – Der Septemberstreik 1969 bei Hoesch

Von Peter Birke

Die „wilden Streiks“ im September 1969 forderten die Arbeiter_innenbewegung in dreifacher Weise heraus: Sie waren erstens Ausdruck betrieblicher Sozialkonflikte zwischen Kapital und Arbeit, aber auch zweitens Ausdruck einer Vertretungs- und Repräsentationslücke, die etwa durch die Zentralisierung der Tarifpolitik ausgelöst wurde. Waren sie insofern auch Konflikte zwischen gewerkschaftlich hochorganisierten Belegschaften und der Haupttendenz der gewerkschaftlichen Politik, so repräsentierten die Septemberstreiks jedoch drittens auch bestimmte Beschäftigtengruppen eher als andere: Im Hoesch-Fall handelte es sich vor allem um qualifizierte, männliche Arbeiter.

Der folgende Text argumentiert, dass sich alle drei Konfliktlinien in den Formen wiederfinden, in denen an die Septemberstreiks erinnert wird: Dies gilt für die historische Literatur, es gilt aber auch für die konkreten, physischen Orte der Ereignisse wie das Union-Gelände und die Westfalenhütte, die einerseits durch „Nachnutzung“, „Umnutzung“ sowie in dem vorliegenden Falle auch „new built gentrification“ neu definiert werden, andererseits zu Erinnerungsorten werden, was hier am Beispiel des Hoesch-Museums vor Tor 1 der ehemaligen Westfalenhütte gezeigt wird. Und es gilt schließlich, last but not least, für die Erinnerungsarbeit der Gewerkschaften, wie am Beispiel der IG Metall gezeigt werden kann. In Bezugnahme auf die Erinnerungsarbeit der genannten Akteur_innen fragt der Text, wie die erwähnten Konfliktlinien aufgenommen werden und wie sie in einer an Demokratisierung interessierten Erinnerungsarbeit aufgenommen werden könnten.

Wilde Streiks fordern die Erinnerungskultur der Arbeiter_innenbewegung immer wieder heraus. Schon der Begriff war und ist umstritten. Zeitgenössisch galt die Bezeichnung manchmal als despektierlich, und selbst die Streikenden wiesen sie oft weit von sich: Man wollte nicht als „wild“ bezeichnet werden, man war doch zivilisiert, sogar bürgerlich!

Doch es passte im Grunde auch keine andere Bezeichnung. So erwies sich das Attribut „spontan“ – als eine Art Tarnung von den Beteiligten selbst durchaus sehr oft verwendet – als irreführend: wilde Streiks waren gerade deshalb, weil Teilnehmende mit Repressionen zu rechnen hatten, oft extrem gründlich und geradezu akribisch vorbereitet. Auch waren die Bezeichnungen „inoffiziell“ oder „nicht-gewerkschaftlich“ wenig treffend, weil Gewerkschafter_innen fast immer an zentraler Stelle an Vorbereitung und Durchführung der Streiks beteiligt waren. Immerhin markierte die Zuschreibung „nicht-gewerkschaftlich“ einen wichtigen Aspekt, denn Arbeitskämpfe, die nicht im Rahmen von Tarifverhandlungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden geführt werden, galten und gelten im Rechtsverständnis bundesdeutscher Arbeitsgerichte überwiegend als „illegal“. Alles in allem zeigt der Versuch, das Phänomen wilder Streik sprachlich zu begreifen, die historisch und räumlich sich wandelnde Bedeutung des Phänomens.

Wilde Streiks sind also eines der vielen moving targets der Geschichte, ein uneinheitliches, schwach institutionalisiertes, schwer zu greifendes Phänomen. Man kann sie sich, in Anschluss an Berger und Seiffert, als wandelbar, kontingent und relational vorstellen: Als eine Aneinanderkettung historisch-spezifischer Ereignisse, die nicht wie ein Denkmal fest in der kollektiven Erinnerung eingemauert sind, sondern Erinnerungsarbeit herausfordern: Ereignisse, die ihren Sinngehalt erst verraten, wenn man Verläufe, Wendepunkte und Resultate rekonstruiert und kontextualisiert. Und zudem als Ereignisse, die leicht in Vergessenheit geraten und deren Akteur_innen heute zumeist im doppelten buchstäblichen Sinne verschwunden sind, namentlich einerseits als Gruppe (Industriearbeiter_innen) und andererseits in Person (als historisch handelnde Personen und Persönlichkeiten).

Dieses Motiv des Verschwindens ist in den vergangenen zwanzig Jahren Ausgangspunkt von einigen Untersuchungen gewesen, die sich zugleich mit der aktuellen Situation der Arbeiter_innenklasse befasst haben. So verglichen die französischen Soziologen Stéphane Beaud und Michel Pialoux in einer zwischen 1983 und 1997 angelegten Langzeitstudie und auf Grundlage von Feldbeobachtungen und Interviews Arbeitshaltungen und lebensweltliche Orientierungen von Beschäftigten der PeugeotWerke von Socheaux-Montbéliard. Diese Untersuchung gibt der Frage der Erinnerung – hier im Sinne einer intergenerationellen Tradierung, aber auch eines Verlusts kollektiver Ansprüche an „gute Arbeit“ – systematisch Raum. Das gilt beispielsweise für das „errungene“ Verständnis von Arbeitstempo oder Pausen, aber auch für moralisch-normative Ordnungen wie „Fleiß“ oder „Aufstieg“, die durch die Zumutungen der fraktalen, in Profit-Center aufgeteilten Fabrik ebenso herausgefordert werden wie durch die damit verbundenen Haltungen neuer Beschäftigten-Generationen.

Aber es gilt auch gleichzeitig für frühere soziale Ansprüche also nicht einfach um „errungene“, sondern vielmehr historisch „zu erringende“ Verbesserungen, um neue Ansprüche an bessere Arbeit, die weniger entfremdet, weniger physisch und psychisch vernutzend, gesellschaftlich sinnvoll und ökologisch tragfähig sein könnte. Nicht die „Errungenschaften“ der fordistischen Ära als solche verschwinden, sondern auch die Erinnerung an Potenziale einer anderen, demokratisierten Arbeitswelt. Es ist die historische moralische Ökonomie der Arbeiter_innenklasse (Thompson), die im Zeitalter der prekären Beschäftigung dem Verschwinden ausgesetzt ist, die einerseits eine bestimmte alltägliche Praxis und die damit verbundenen Werte und Normen repräsentiert, andererseits aber eine Erinnerung an eine vergangene Zukunft.

Diese Unterscheidung ist für einen Text über wilde Streiks wichtig, denn gerade die Arbeitskämpfe der 1968er Jahre erhalten auch jene zweite, auf die Zukunft gerichtete Dimension. Meine These ist, dass diese Dimension vor allem in den egalitären Tendenzen dieser Streiks repräsentiert ist, und ich behaupte, dass demokratische Erinnerungs-Arbeit nicht zuletzt die „Rettung“ und/oder „Aufhebung“ dieser Spuren sich vorzunehmen hätte. Im Mittelpunkt steht deshalb hier der Bezug zwischen jenen historischen sozialen Kämpfen und gegenwärtigen Konflikten.

Diese Bezugnahme hat schließlich noch eine weitere Dimension, nämlich die der konkreten Folgen der historischen industriellen Produktion. Gegenwart der Geschichte in diesem Sinne zeigt beispielsweise der Dokumentarfilm Gliultimo fuochi (Die letzten Feuer), den die italienische Journalistin und Filmemacherin Manuela Pellarin 2004 veröffentlicht hat. Dieser Film besteht überwiegend aus Interviews mit Menschen, die in den 1960er und 1970er Jahre im Chemiekomplex von Porto Marghera bei Venedig gearbeitet haben. Erzählt werden dabei nicht nur die aktuellen Lebenslagen der Betroffenen und ihrer Kinder, dabei auch das Thema der „Entsicherungsgesellschaft“ skizzierend, sondern auch der bis heute andauernde Kampf mit und gegen die gesundheitlichen Folgen der Arbeit im Chemiebetrieb, also eine weitere, öffentliche Form der aktiven, kollektiven Erinnerungsarbeit: Hier als Ausdruck nicht des Verschwindens von Ansprüchen an die Arbeit, sondern des Versuchs, die Anerkennung menschlicher Würde und der Unverletzlichkeit der Person heute gegen den früheren Arbeitgeber durchzusetzen.

Was Porto Marghera für Italien und Socheaux-Montbéliard für Frankreich sind, könnten die Hütten und Stahlwerke von Hoesch in Dortmund für das bundesdeutsche Beispiel sein. Inwiefern ist das, was man als vergangene Zukunft bezeichnen mag (historische soziale Ansprüche) und umgekehrt, die Gegenwart der Vergangenheit, in der Erinnerung an die Arbeitskämpfe von 1969 repräsentiert? Und wer repräsentiert, wer sind die Akteur_innen der Erinnerungspolitik? Ich werde in den nächsten Abschnitten zuerst skizzieren, wie und in welchen aktuellen ökonomisch-politischen Kontexten „Hoesch“ heute als Erinnerungsort von wilden Streiks fungiert (und warum nicht). Dabei wird auch darauf eingegangen, wie in diesem Zusammenhang ein Museum und die historische Literatur als Akteur_innen von Erinnerungsarbeit sich positionieren. Zweitens werde ich am Beispiel einer Szene aus dem wilden Streik des Septembers 1969 das dort aufgehobene Erinnerungspotenzial diskutieren. Dieses Potential wird sodann schließlich anhand einiger Hauptwerke der gewerkschaftlichen Erinnerungsarbeit auf die dort dominierenden (freilich selbst differierenden) Narrative bezogen. Am Ende des Texts werde ich fragen, wie vorhandene und zu entwickelnde demokratische Erinnerungskulturen in die gefundenen Konstellationen eingreifen könn(t)en.

 

Erinnerungsorte: Die letzten Feuer

Wovon sprechen wir, wenn wir von der Hoesch AG sprechen? Um was für einen Ort handelte und handelt es sich? Was die chemische Industrie für Porto Marghera und die Autoindustrie für Socheaux-Montbéliard war, waren die Werke der Hoesch AG einstmals für Dortmund. Mitte der 1960er Jahre arbeiteten fast 50.000 Menschen im Hoesch-Konzern, und der Anteil der Stahlwerker an der arbeitenden Bevölkerung der Ruhr-Metropole war unübersehbar: Hoesch war ohne Zweifel der entscheidende Faktor im Wirtschaftsleben der Stadt. Für die Septemberstreiks des Jahres 1969 war eines der Werke Ausgangspunkt. Der Arbeitskampf begann am Dienstag, den 2. September, auf der Westfalenhütte im Norden der Dortmunder Innenstadt, und verbreitete sich danach in rasendem Tempo in der gesamten bundesdeutschen Montanindustrie. Die Geschichte des Streiks bei Hoesch ist für die Rekonstruktion dieser Streikbewegung von kaum zu leugnender Bedeutung.

Zugleich ist auch Hoesch, sogar wohl noch stärker als andere Industriebetriebe, ein Exempel für das Verschwinden der Arbeiter_innenklasse. Dabei verschwand zunächst das Unternehmen selbst, 1992 wurde es „feindlich“ durch die ThyssenKrupp AG übernommen, 2018 fusionierte ThyssenKrupp mit dem internationalen Stahl-Giganten Tata, hat also heute, ebenso wie der größte Konkurrent Arcelor-Mittal (mit seinem Bremer Stahlwerk) seinen Hauptsitz in Indien. Auf dem Gelände der ehemaligen Westfalenhütte sind jedoch von ehemals etwa 25.000 heute lediglich noch 1.350 hochspezialisierte Stahlarbeiter_innen beschäftigt. In Dortmund an der Eberhardtstraße ist ThyssenKrupp (und Tata) Steel heute vor allem spezialisierter Automobilzulieferer. Sogar der bescheidene Rest wird vor dem Hintergrund einer gefühlt seit Ewigkeiten anhaltenden „Stahlkrise“ noch gefeiert: Ende des Jahres 2018 hat die Nachricht, dass eine zweite Feuerbeschichtungsanlage im Jahre 2020 etwa 100 Arbeitsplätze sichern wird, wie lokale Medien berichteten, „die Sektkorken knallen lassen“. Der Betriebsrat erklärte:

„Nach jahrelangem Hoffen, Warten und vor allem Kämpfen ist am heutigen Vormittag die Freigabe der Investition final beschlossen worden […]. Damit haben sich alle gemeinsamen Anstrengungen, unseren schönen Standort wettbewerbsfähig zu machen und für die Zukunft aufzustellen, gelohnt.“

Aber Hoesch bestand in der Nähe der Dortmunder City aus zwei Komplexen, neben dem Komplex der Westfalenhütte existierten die Union-Werke auf der anderen Seite der City, am Rande der Nordstadt. Dort ist anders als an der ehemaligen Westfalenhütte die Montanindustrie mittlerweile vollkommen verschwunden. 2015 schloss die letzte verbleibende Anlage, ein ebenfalls hoch spezialisiertes Werk für die Herstellung von Spundwänden für den Hafen- und Wasserbau. 350 Beschäftigte, darunter allerdings ein Anteil von fast einem Drittel Leiharbeiter_innen, wurden, wie es ein Arbeiter gegenüber der Tageszeitung Die Welt ausdrückte, „kurz vor Weihnachten vom Hof gejagt“. Die Zeitung begann ihren Bericht, genreüblich, melancholisch:

„Es sind die Stille und die Kälte, die Stefan Läster irritieren. Bis zum Vortag hat er in der Halle 700 Grad Celsius heißen Stahl gewalzt. Der Lärm schmerzte in den Ohren. Jetzt stehen die mannshohen Walzrollen regungslos da. In einer Ecke glühen Stahlquader aus. Läster ist allein. Er will sich verabschieden. Vor den Walzen hat er zwei Jahrzehnte seines Berufslebens verbracht. ‚Gestern Abend haben wir den Ofen ausgemacht‘, sagt er. ‚Das war es dann jetzt.‘“

Das „113 Jahre alte Walzwerk“ sei, wie die Welt weiter etwas martialisch schreibt, als „Verlierer aus dem globalen Stahl-Krieg“ hervorgegangen. „Gewinner“ und „Verlierer“ finden sich also in derselben Stadt – wobei die personell vergleichsweise kleine Zahl der „Gewinner“ durch starke Spezialisierung und einen anerkannt hohen Produktionsdruck sowie durch die Etablierung eines Rands von prekärer Beschäftigung rund um die zentralen Arbeitsplätze überlebt. Aber auch auf der Sonnenseite der Stahlindustrie ist die Durchsetzungsfähigkeit der Beschäftigten nicht sehr hoch. Anders als in den 1960er Jahren wird ihr Arbeitsplatz kaum noch als bedeutend für die Entwicklung des Ruhrgebiets oder der Industrie als Ganze wahrgenommen. Es ist höchstens ein (letzter?) Haltpunkt, der, wie die Dortmunder Bundestagsabgeordnete Poschmann formulierte, immerhin noch „ordentlich bezahlte Arbeitsplätze fernab von Mini-Jobs und Mindestlöhnen“ bietet. Freilich kann die Strahlkraft dieses Konzepts angesichts der verhältnismäßig geringen Zahl dieser Arbeitsplätze, die weniger als zehn Prozent allein der industriellen Arbeitsplätze der Stadt Dortmund umfassen, bezweifelt werden. Tatsächlich entstehen am ehemaligen Hauptsitz der Hoesch AG überwiegend Arbeitsplätze im notorisch durch Niedriglöhne und miserable Arbeitsbedingungen öffentlich diskutierten Logistikgewerbe.

Der Komplex der früheren Union-AG nahe der Nordstadt, 1966 unter dem Firmennamen Dortmund-Hörder-Hütten AG in die Hoesch AG integriert, ist nach der Schließung des letzten verbliebenen montanindustriellen Werks auf dem Gelände hingegen, in der Bezeichnung der Stadtplaner_innen, zu einer „Keimzelle kreativer Stadtentwicklung“ geworden. Dort soll nunmehr im starken Maße auch Wohnungsbau stattfinden. Begleitet wird der Umbau insbesondere des Walzwerks von einem städtisch moderierten Rahmenprogramm: So sollen die Industriegebäude für die „Atmosphäre“ des neuen „Union-Viertels“ sorgen, wie etwa die stark sanierungsbedürftige „Feldherrnhalle“ (ehemals Fa. Himmelreich) an der Emscher, das sogenannte „Emscherschlösschen“ sowie die alte Walzendreherei. Für den Wohnungsbau steht unter anderem die Essener Thelen-Gruppe, die insbesondere auf die Konzeption von „Trendvierteln“ spezialisiert ist und aus ihrer hohen Renditeerwartung vor Ort keinen Hehl macht.

Die beiden nahe der City gelegenen großen Werkskomplexe sind also entweder als Industriegebiet neu definiert worden (Westfalenhütte) oder im Prozess einer kompletten funktionalen Umwandlung begriffen (Union). Was macht das mit den kollektiven Erinnerungen, insbesondere an die sozialen Kämpfe, die an den genannten Orten stattgefunden haben? Die Tendenz des Verschwindens ist auch hier kaum zu leugnen. Mit dem Erlöschen der „letzten Feuer“ verschwinden förmlich auch die Leistungen und Biografien derjenigen, die diese Feuer einst entzündet haben, wie es oben durch den Bericht in der „Welt“ illustriert wird. Die postindustrielle Stadt entsteht auf den ersten Blick als „etwas ganz Anderes“ – und auch die romantisierende Erinnerung an „die Kumpel“ – wie unlängst angesichts der letzten Zechenschließungen etwa durch den Fußballverein Borussia, der historisch selbst stark mit der Westfalenhütte verknüpft war – ändert daran wenig.

Beim zweiten Hinsehen ist aber auch der Einbau der Industriegeschichte zu beobachten, zumindest im Falle der Union, also dort, wo ein neues stadtpolitisches Projekt entstanden ist, welches an die Konventionen der Neubau-Gentrifizierung anschließt. Hier wird Industriearbeit vor allem als atmosphärische Note des Stadtumbaus begriffen. Diese Art des Verschwindens – die man als Rekuperation bezeichnen könnte – findet sich ähnlich in etlichen anderen Städten, so etwa in Hafenstädten wie Marseille (Panierviertel mit dem neuen Museumsviertel) oder Hamburg („Hafen-City“). Sie ist mit einer sozialen und sozialpolitischen Verwandlung begriffen, es entstehen als „neu“ definierte Stadtteile, vorrangig für Menschen, die die entstehenden hohen Mieten tragen können.

Wie lässt sich die aktuelle Situation der Industriebeschäftigten auf diese Rekuperation beziehen? Sie stehen förmlich mit dem Rücken zur Wand. Die Polarisierung zwischen den wenigen noch existierenden Arbeitsplätzen, aus denen „alte“ soziale Ansprüche wie existenzsichernde Löhne, unbefristete Beschäftigung oder Mitbestimmungsrechte abgeleitet werden können, und in unterschiedlicher Weise prekarisierten Arbeitsverhältnissen ist unübersehbar. Diese Spannung lässt – einschließlich der Erfahrung des Verlusts solcher Arbeitsplätze – die Gegenstände verschwinden, um die es „damals“ ging: Vor allem gilt dies bezogen auf den Aspekt der „vergangenen Zukunft“ – während die Arbeitsverdichtung heute oft vergleichbare Ausmaße annimmt wie im Sommer 1969, wenngleich sie mit anderen Belastungsformen verknüpft sein mag, ist die Vorstellung von einer Industriearbeit, durch die hindurch zugleich Ansprüche an eine andere, demokratisierte Arbeitswelt verbunden werden, kaum noch ein Thema.

Der Septemberstreik als moving target

Berger und Seiffert haben das Konzept des Erinnerungsorts als „Verfestigung der Erinnerung in der Zeit“ und insofern auch das tradierte Konzept musealer Erinnerung (als „Sammlung von Gegenständen“) kritisch beleuchtet. Wüstenberg schließt sich dieser Position an, indem sie eine demokratisierte Erinnerungskultur fordert, welche Erinnerungsorte hinsichtlich ihrer „Wandelbarkeit, temporale[r] Kontingenz und Funktion im gesellschaftlichen Machtgefüge“ untersuche. Eine demokratische Erinnerungskultur kennt zivilgesellschaftliche Akteure und Institutionen aller Art – darunter auch, wie wir noch zeigen werden, Gewerkschaften. Es ist aber unbestritten, dass Museen hier eine hervorgehobene Rolle spielen. Im Ruhrgebiet generell, vor allem aber auch in Dortmund, sind lokalgeschichtliche und auf die (Arbeit in der) Montanindustrie bezogene Museen insofern von kaum zu unterschätzender Bedeutung. Wie hier mit dem Spannungsfeld zwischen einer „Verfestigung in der Zeit“ und einer „kritischen Analyse gesellschaftlicher Macht“ umgegangen wird, werde ich deshalb nun am Beispiel der Rezeption der Septemberstreiks im Dortmunder Hoesch-Museum diskutieren.

Das Museum der Hoesch-Werke („Hoesch-Museum“) befindet sich in der ehemaligen Zentrale des Konzerns an der Eberhardtstraße in Dortmund. Es wurde 2005 eröffnet, namentlich angesichts der „enorme[n] Bedeutung, die die Stahlindustrie für das Ruhrgebiet im Allgemeinen und Hoesch und seine assoziierten Unternehmen für den Ballungsraum Dortmund im Besonderen spielten.“ Das Museum beschreibt die eigene Konzeption wie folgt:

„Das Hoesch-Museum möchte die Erinnerung an eineinhalb Jahrhunderte Stahlindustrie in Dortmund erhalten, den Strukturwandel im lebendigen Dialog begleiten und nicht zuletzt dokumentieren, wie hoch der Stellenwert dieser High-TechBranche nach wie vor ist.“

Selbstverständlich spielen dabei die Arbeitsbedingungen auch eine Rolle, Besucher_innen können aktuell sogar in ein „3-D-Stahlwerk“ eintauchen. Auch insgesamt ist die Technik-Faszination in der Ausstellung prägend. Die „Hoeschianer“ werden dabei nicht immer, aber immer wieder, als Menschen vorgestellt, die unabhängig von ihrer konkreten Stellung im Produktionsprozess eine „einheitliche Identität“ entwickelt hätten.

Angesichts dieses harmonischen Bildes ist es zunächst etwas überraschend, dass Arbeitskämpfe gleichwohl zum festen Inventar der HoeschGeschichte gehören. Sinnbildlich kann dafür die Art und Weise stehen, wie das Thema in den veröffentlichten Jahrbüchern des Hoesch-Museums aufgegriffen wird – kurz gesagt, immer wieder, aber immer wieder nur am Rand. Etwas polemisch könnte man vielleicht sogar sagen, die Streiks sind dort aufgehoben wie eine Topfpflanze – sie gehören dazu, ihre Erinnerung wird gepflegt, aber sie werden kaum wirklich beachtet: In nahezu allen Jahresrückblicken taucht namentlich das „Streikfeuer“ und die „Streiktonne“ auf, ein Begriff, dessen Bedeutung aber nicht weiter erklärt wird. Von außen erschließt sich diese Merkwürdigkeit kaum, es kann mithin sein, dass die Bedeutung von „Streiktonne“, die einem, sagen wir mal, Göttinger Museumsbesucher wohl erklärt werden müsste, in Dortmund so selbstverständlich ist, dass alle weiteren Hinweise auf Bedeutungen überflüssig sind. Wie dem auch sei – ein empirischer Beleg wird sich hier nicht finden – meines Erachtens ist wahrscheinlicher, dass es sich um eine Art begriffliche Versteinerung handelt, wie ein Wort, das sozusagen in der Luft stehen geblieben ist und sich dort seit langer Zeit nicht mehr bewegt, und bei dem man sich darauf verlassen kann, dass es niemals auf einen aktuellen Bedeutungsgehalt hin überprüft wird. Entsprechend würden wohl auch die wenigsten Besucher_innen des Museums das „Streikfeuer“ vor Hoesch beispielsweise mit einer brennenden Feuertonne vor Neupack in Hamburg aus dem monatelangen Streik von 2012/13 assoziieren.

Den einigen Jahresrückblicken beigefügten Abbildungen ist jedenfalls zu entnehmen, dass es sich in Wahrheit um nichts Anderes als schlicht um eine kohlen- oder holzbeheizte Feuertonne handelt, die vermutlich am Ausstellungsort (vor dem Tor 1 der Westfalenhütte, am Sitz der Hauptverwaltung) während Arbeitskämpfen regelmäßig in Erscheinung getreten ist. Diese Tradition fortsetzend, wird die Tonne bei besonderen Events des Museums regelmäßig angezündet, so zum Beispiel 2011/12 bei der Veranstaltung ExtraSchicht, bei der es laut Jahresbericht „Hüttenschmankerln am Streikfeuer“ zu genießen gab.

Eine bemerkenswerte Ausnahme bildet das Jahr 2014, in dem auf eine Veranstaltung zum 45-jährigen Jubiläum der Septemberstreiks hingewiesen wird. Diese sei von ehemaligen Betriebsräten organisiert worden und von knapp 100 Menschen, „darunter überwiegend frühere Mitarbeiter der Westfalenhütte“ besucht worden. Karl Lauschke berichtete auf dieser Veranstaltung, die in vorliegendem Text auch als erstes, gutes Beispiel gewerkschaftlicher Erinnerungsarbeit gelten kann – als Historiker und ausgewiesener Experte zur Arbeit in der Stahlindustrie – über die Rolle der Septemberstreiks in der Geschichte der Bundesrepublik, und er benannte deren wesentliche Ursachen: „Tarifvertragslaufzeiten mit geringen Lohnzuwächsen bei boomender Stahlkonjunktur mit zahllosen Überstunden; ferner schwer erträgliche Arbeitsbedingungen durch die Hitze des Sommers 1969, geringere Verdienste in der Westfalenhütte im Vergleich zu anderen Betrieben.“ Während hieran deutlich wird, dass es sich auch im Fordismus bei vielen Tätigkeiten auf der Hütte um gesundheitlich schwerst belastende handelte, kann die Veranstaltung insgesamt wohl am ehesten eingeordnet werden als Ehemaligen-Treffen. Sie trug durchaus zur Kanonisierung der Septemberstreiks als Teilgeschichte des Kampfs um soziale Errungenschaften bei – eine Leistung, denn in der historischen Streikforschung ist dies bis heute in der Tat nicht unumstritten. Gleichzeitig wurde der Streik aber als ausnahmig im Sinne von „bis dahin einmalig in der Geschichte der Bundesrepublik“ gezeichnet, während die Gruppe, die innerhalb des Museums die Erinnerungsarbeit am Beispiel der Septemberstreiks vorantreibt, nicht zuletzt aus betrieblichen Veteranen besteht, die in erster Linie an ihre eigene, lokale Existenz erinnern.

Dies ist alles in allem und wie bereits erwähnt aller Ehren wert und man kann es auch durchaus als durchaus geglückten Versuch beschreiben, in jenen erwähnten Kampf um museale Deutungshoheiten einzugreifen: Auch beispielsweise zu thematisieren, dass ein Protest gegen die Arbeitsverhältnisse mitten im Fordismus als legitim erscheinen konnte. Gleichzeitig wird der Streik durch die Betonung der Besonderheit (so im Erklärungsmuster des Zusammentreffens der Faktoren Hochkonjunktur, Tarifpolitik, Wetter usw.) quasi aus der Kontinuität der Streikgeschichte der 1960er und 1970er herausgelöst, was zugleich eine Bezugnahme auf strukturelle Faktoren wie auf aktuelle, gegenwärtige soziale Konflikte erschwert. Wir werden unten sehen, dass dieses Problem auch in der Erinnerungsarbeit dominant ist, die in der IG Metall am Beispiel der Septemberstreiks dominant ist. Aber wie kann das Beispiel dieser Arbeitskämpfe aus einer lokalen und mitunter eher anekdotischen Perspektive herausgelöst werden? Um diese Frage zu beantworten, ist ein kleiner Exkurs in die Forschung zu Arbeitskämpfen notwendig.

Exkurs: Hintergründe der Septemberstreiks

Beverly Silver verwies in ihrer Historiographie der Arbeitsunruhen im 20. Jahrhundert auf die Notwendigkeit, ein systematisiertes Verständnis für die aggregierte Bedeutung lokaler Arbeitskonflikte zu entwickeln, um die Dynamik von historischen Klassenbeziehungen überhaupt zu begreifen: Im Kern geht es ihr dabei nicht zentral um Klassenstrukturen, sondern um die Untersuchung einer stets erneuerten Klassenbildung, dabei verweisend auf eine Interpretation des Marx‘schen (und Polanyi’schen) Werks hin zu einem historischen und relationalen Klassenbegriff. Sie schlägt auf dieser Grundlage einen Begriff des „labor unrest“ vor, der organisierte, dokumentierte kollektive Aktionen von Arbeiter_innen bezeichnet, sei es am Arbeitsplatz, sei es im Rahmen von Arbeiter_innenbewegungen im öffentlichen Raum. Wilde Streiks sind mithin mitten in einem Kräftefeld verortet, das jedoch zugleich ein sehr breites Spektrum zwischen „unsichtbarer“ alltäglicher Devianz im Arbeitshandeln am einen und (öffentlich) „sichtbaren“ bzw. „medialisierten“ Massenaktionen am anderen Pol beschreibt. Genau dieses Spannungsfeld spielt in der sich seit einigen Jahren, nicht zuletzt im Zuge der Rezeption der Geschichte der „proletarischen“ 1968er, entwickelnden historischen Aufarbeitung wilder Streiks eine wichtige Rolle. Wie also sind latente und offene betriebliche Sozialprozesse jeweils spezifisch miteinander verbunden? Und darüber hinaus, wie konnten sich wiederum diese „offenen“ Sozialproteste miteinander vernetzen, wenn sie über kein organisatorisch entwickeltes und institutionell gesichertes Dach verfügten?

Für die Analyse der Streiks im September 1969 sind beide Fragen bedeutend. Diese Arbeitskämpfe brachten eine Vielzahl von Forderungen hervor, besonders aber „egalitäre“ Lohnforderungen, sie fanden innerhalb des mit einer Friedenspflicht belegten Zeitraums insbesondere in der Montanindustrie statt, mit Schwerpunkten im Ruhrgebiet und im Saarland. Rund 200.000 Beschäftigte beteiligten sich, etwa acht Millionen erhielten daraufhin „kampflos“ Verbesserungen bei den Löhnen, die in vielen Fällen weit über das hinausgingen, was bei regulären Tarifverhandlungen erreicht werden konnte. Andere Forderungen – die vor allem im Kohlebergbau vielfältig waren und von der Entlassung autoritärer Vorgesetzter bis hin zu Verbesserungen beim Schutz vor Arbeitsunfällen reichten – blieben jedoch noch außerhalb dessen, was erreicht werden konnte.

Die Septemberstreiks wurden häufig als eine Art „Schock“ für die etablierten Träger der industriellen Beziehungen und des „deutschen“ Modells der Sozialpartnerschaft beschrieben. Tatsächlich täuscht diese Sicht ein wenig darüber hinweg, dass dieses Modell bereits in den Jahren vor 1969 als porös zu bezeichnen ist. Vor 1966 hatte sich im Boom ein System betrieblicher Zusatzleistungen etabliert. Dieses hatte gerade in Bereichen wie der Stahlindustrie oder auf den Werften, in der einige Beschäftigtengruppen über lange Zeit über eine hohe Autonomie im Arbeitsprozess selbst und damit über eine hohe Verhandlungsmacht gegenüber der Betriebshierarchie verfügten, ein erhebliches Ausmaß erreicht: In der Stahlindustrie konnten die Löhne in einigen Facharbeitergruppen real bis zu 60 Prozent über dem formellen Tariflohn liegen. In der Rezession von 1966/67 versuchten die Unternehmen dann diese Leistungen „zurückzudrehen“, etwas, was formal zwar zulässig war, aber im betrieblichen Alltagshandeln durchgesetzt werden musste: Die „wilden“ Konflikte nahmen auf dieser Grundlage noch einmal zu. Spohde und Kollegen haben errechnet, dass – statistisch gesehen – der Anteil der wilden Streiks an den Streikbewegungen insgesamt bis 1969 ständig stieg und in diesem Jahr im Organisationsbereich der IG Metall bei deutlich über 90 Prozent lag. Dass die wilden Streiks Einzelereignisse waren, spontan, vorher nie dagewesen, hinterher nie wiederholt, kann also bereits aus dieser Sicht stark in Zweifel gezogen werden.

Für die Gewerkschaften waren die wilden Streiks von 1969 vielleicht hinsichtlich ihres Ausmaßes und ihrer Vehemenz gleichwohl ein „Schock“, der Umgang mit der Lücke zwischen zentraler Repräsentation von Arbeiter_inneninteressen und lokaler Arbeitspolitik war jedoch keineswegs neu. Ein Element dieser Lücke war vielmehr die Tatsache, dass Tarifpolitik im ökonomischen Boom der 1950er bis 1970er Jahre eine Tendenz zur Zentralisierung beinhaltete, zu bundesweiten Vereinbarungen zwischen den Verbänden wie etwa in der Arbeitszeitpolitik, zur allgemeinen Übernahme von „Pilotabkommen“ wie in der Metallindustrie, oder zu bundesweiten Verträgen wie im öffentlichen Dienst. Mit dem Frankfurter Abkommen der Tarifvertragsparteien in der Metall- und Elektroindustrie erreichte diese Zentralisierungstendenz kurz vor den Septemberstreiks einen weiteren Höhepunkt. Verstärkt wurden solche Tendenzen (die heute ins Gegenteil verkehrt sind, ohne dass die lokalen Arbeitskämpfe an Bedeutung verloren hätten) durch den Umstand, dass die lokale Arbeitspolitik in der Bundesrepublik durch Betriebsräte oder Personalräte geprägt wird, Instanzen, die formal nicht-gewerkschaftlich sind, und die kein Recht haben, zu Arbeitskämpfen aufzurufen (sogenanntes duales System der industriellen Beziehungen). Und zugespitzt wurde dieses Problem schließlich in der Politik der Konzertierten Aktion, die die Vorstellung bespielte, ökonomische Rahmendaten seien im Sinne einer keynesianischen Wirtschaftspolitik staatlich regulier- und steuerbar, was praktisch hieß, dass nicht zuletzt die Arbeitsmarktparteien Lohnpolitik nicht auf der Grundlage von Alltagsinteressen zu machen hatten, sondern auf Grundlage einer „wissenschaftlichen“ Lohnpolitik, die die Margen errechnete, die „objektiv“ für eine Erhöhung der Löhne bei Nichtgefährdung anderer ökonomischer Ziele „zur Verfügung stehen.“

Auch wenn das Ereignis der Septemberstreiks als solches „besonders“ gewesen sein mag – es war gleichwohl Katalysator eines historischen Wendepunkts. Die Streiks markierten den Anfang vom Ende der auch in der SPD zu dieser Zeit durchaus verbreiteten Vorstellung, man könne soziale Konflikte quasi durch eine Verwissenschaftlichung der Politik und ihrer Apparate regulieren. Die Septemberstreiks sind auch ein Beispiel für die konkrete Aneignung einer Parole jener Zeit, die „Mehr Demokratie“ versprach. Sie fanden nicht zufällig inmitten eines Wahlkampfs statt, in dem diese Parole auf die Tagesordnung gesetzt wurde.

Die Septemberstreiks waren insofern ein spezifisches Ereignis, aber sie hatten eine viel weiterreichende Bedeutung. Nicht zuletzt trugen sie zur Re-Aktivierung der Gewerkschaftsbewegung in den ersten Jahren der 1970er-Jahre bei, in Bezug auf ihre innere Diversität, aber auch in Bezug auf die (gerade im Vergleich zur Stagnation der 1960er-Jahre) konsolidierten und steigenden Mitgliederzahlen nahezu aller Einzelgewerkschaften. Die Arbeitskämpfe waren aber darüber hinaus auch Ausgangspunkt von Forderungen nach einer stärker dezentralisierten und demokratisch vermittelten Betriebs- und Gewerkschaftspolitik, Forderungen, die seit Mitte der 1950er-Jahre auch aus dem Gewerkschaftsapparat selbst gekommen waren, man denke nur an die „betriebsnahe Tarifpolitik“ der 1950er-Jahre, an die Aktivierung von Vertrauensleuten, an neue Formen der Bildungsarbeit oder an die sogenannte Ford-Aktion der IG Metall in den 1960er-Jahren.Diese „alten“ Forderungen erhielten erst mit „1969“ jenen Schwung, der ihnen zu einer wachsenden Durchsetzungsfähigkeit auch in den offiziellen Gewerkschaftsgremien verhalf, einschließlich der Forderung nach mehr Demokratie am Arbeitsplatz und nach einer „Humanisierung der Arbeit“.

Was aus diesen Forderungen geworden ist – eine Bilanz würde heute sicherlich ambivalent ausfallen – kann hier nicht im Detail diskutiert werden. Wichtig ist mir aber zu verdeutlichen, dass eine Kontextualisierung der Aktionen in der Westfalenhütte ein gesellschaftliches Panorama skizziert, vor dem erstens die Form der wilden Streiks seit langer Zeit (hier mindestens mit dem Einsetzen des Booms nach etwa 1955) eine wachsende Rolle spielte, zweitens insbesondere der bis dorthin eher seltene öffentliche Charakter dieser Arbeitskämpfe als Katalysator von viel weitergehenden arbeitspolitischen Entwicklungen gelten kann. Es ist zwar etwas pathetisch, aber auch nicht völlig falsch, die Versammlung der Stahlarbeiter vor der Hauptverwaltung von Hoesch am 2. September 1969 als Scharnier und Ausgangspunkt dieser Entwicklungen zu beschreiben. Kehren wir also zurück zum Platz dieser Versammlung, 1969 und auch 45 Jahre danach.

 

Auftritt einiger Arbeiter

Vor allem die damals eher euphorischen, in unterschiedlicher Weise linkspolitisch inspirierten Narrative zu den Septemberstreiks formulieren eine Art Scharniersituation, also die Idee, dass die betrieblichen Konflikte, um die es in den Kämpfen ging, „latent“ bereits vorhanden waren und dass die „offenen“ Arbeitskämpfe wie eine Art Metapher fungierten, die diese Latenz artikulierte. Dieses „Ausbrechen“ wiederum wird als ein historisch-spezifischer Moment geschildert, eine, wenn man so will, entscheidende Situation, in der die Risse im Putz so breit geworden sind, dass die Wand einstürzt. Walter Benjamin hat jenen Moment in seiner sechsten Geschichtsthese auch als „blitzartiges“ Aufgreifen oder Spiegeln von historischen Aufständen in zeitgenössischen Krisen verstanden.

Man kann diesen auf die Faschismuserfahrung gemünzten revolutionstheoretischen Gedanken in Bezug auf andere Ereignisse durchaus aufgreifen, muss ihn zugleich aber korrigieren: Denn auch in jener scheinbar spontanen Rückbesinnung sind Kräfteverhältnisse wirksam, die es eher nahelegen, die Brüchigkeit und herrschaftliche Durchdringung von Identitäten zu betonen. Auch jene „Rekonstruktion der Arbeiterklasse“, die in zeitgenössischen Buchtiteln beschworen oder mit Fragezeichen versehen wurde, reproduzierte betriebliche Hierarchien zwischen verschiedenen Arbeiter_innengruppen (und machte sie nur insofern zugleich auch angreifbar). Eher als dass schlicht „die Klasse für sich“ im Marx’schen Sinne ihren Auftritt hatte, wurde im September 1969 ihre innere Zerklüftung und Ambivalenz freigelegt. Ich komme gleich auf diese Frage zurück, aber will zunächst festhalten: Das demokratische Potenzial einer mit solcher Freilegung verbundenen Erinnerungspolitik bestünde nicht in erster Linie in der Erinnerung an die Einheit, wie Walter Benjamin unter dem Eindruck des Faschismus schrieb, im „Augenblick der Gefahr“, sondern im Gegenteil darin, dass die Bedeutung von Egalität in der Aktion quasi performativ „ausgehandelt“ wurde, wenngleich auch zunächst „nur“ hinsichtlich einer praktischen Kritik an Lohnhöhe, Verteilung und Lohnhierarchien.

Die Besetzung des Platzes vor der Hauptverwaltung der Hoesch AG in der Dortmunder Eberhardtstraße durch die streikende Belegschaft am 2. September des Jahres 1969 hatte zwei wesentliche Momente: Sie war erstens mit größter Akribie vorbereitet, deren Rekonstruktion wir einem auf der Grundlage von Interviews mit Beschäftigten und Aktivist_innen erstellten Werk von Klaus-Peter Suhrkemper aus dem Jahre 1981 verdanken. Und sie steht zweitens für eine unberechenbare und überraschende Weiterentwicklung, Grundlage einer Diffusion „von der Fabrik in die Gesellschaft“, eine Geschichte, die bis heute Gegenstand einer ganzen Reihe historischer Darstellungen und Analysen geworden ist.

Um den ersten Aspekt zu begreifen, muss man die längere sowie die unmittelbare Vorgeschichte des Streiks kennen. Zur längeren Geschichte gehört, dass die Hoesch AG, damals zweitgrößter Stahlproduzent nach Thyssen, ein Vorzeigebetrieb der Sozialpartnerschaft und der bundesdeutschen Unternehmensmitbestimmung war. Wie das in dieser Hinsicht unverdächtige Institut für Marxistische Studien und Forschungen damals feststellte, hatte Hoesch „überall an der Ruhr den Ruf, der soziale Betrieb zu sein.“ Betriebseigener Wohnungsbau, zusätzliche Versicherungsleistungen, sogar ein werkseigenes Krankenhaus, ein Gewerkschafter als Arbeitsdirektor, lange Zeit auch im Vergleich zu anderen Stahl-Betrieben in der Region relativ hohe Löhne – das alles trug dazu bei, dass es insbesondere für qualifizierte, männliche Arbeiter attraktiv war, zu den damals 27.000 Beschäftigten des Unternehmens zu gehören. Die Belegschaft war Ende der 1960er Jahre zu fast 100 Prozent in der IG Metall organisiert, die Mitgliedschaft war praktisch Einstellungsvoraussetzung. Und auch der Anteil von SPD-Mitgliedern war höher als in nahezu jedem anderen bundesdeutschen Industriebetrieb.

Aber der Lack begann in den 1960ern bereits zu blättern: Das Unternehmen hatte im Rahmen von Rationalisierungs- und Umstellungsprozessen in der ersten Hälfte des Jahrzehnts begonnen, stärker individualisierte Löhne einzuführen und die Macht der Arbeitsgruppen in der Definition des Verhältnisses von Lohn und Leistung zu brechen. Nach und nach, und besonders in der ersten allgemeinen Wirtschafts- wie Branchenkrise der Jahre 1966/67, begann in der Stahlindustrie zudem der Deal, dass für physisch sehr schwere und vernutzende Arbeit vergleichsweise sehr hohe Löhne gezahlt wurden, an Bedeutung zu verlieren. Im Vergleich mit den neuen Boomindustrien (Auto, Chemie) fiel die Stahlindustrie mehr und mehr zurück. Und schließlich hatte die kriseninduzierte Übernahme der Dortmund-Hörder-Hütten-Union im Jahre 1966 dazu geführt, dass an den drei Standorten des Werks für die gleiche Arbeit unterschiedliche Löhne gezahlt wurden – in der Tendenz allerdings zahlte man ausgerechnet dort, wo der Streik begann, die höchsten. Wie auch immer man diese Information beurteilt, denn sie bestätigt ja eher die Einschätzung, dass es um allgemeine, egalitäre Forderungen ging, wenn die vergleichsweise gut bezahlten Gruppen „für alle“ streiken: Sie weist zugleich darauf hin, dass es wohl nicht nur um Löhne gegangen sein mag. Und in der Tat, zur „kurzen“ Geschichte des Streiks gehört nicht zuletzt, dass im Spätsommer 1969 auch in der Stahlindustrie die Krise beendet war und durch eine massive Ausdehnung der Produktion abgelöst wurde, die Arbeitsbelastungen also in kurzer Zeit wahrnehmbar zugenommen hatten.

Auslöser des Hoesch-Streiks war insofern nicht allein der Umstand, dass die IG Metall (selbstverschuldet) in einer Situation in der Friedenspflicht war, in der die Inflation die tariflichen Lohnerhöhungen fraß und die Profite in die Höhe schnellten. Gleichzeitig wurden die Arbeitsbedingungen thematisiert: 24-Stunden-Schichten bei glühender Sommerhitze, keine Neueinstellungen nach Ende der Krise, erhöhtes Arbeitstempo, Arbeitsunfälle.

Aber zur „kurzen“ Vorgeschichte des Streiks gehört auch, dass es eine seit mindestens Beginn der 1960er Jahre eingespielte Form gab, Forderungen der Belegschaft unter der Schwelle des öffentlichen Protests wirksam Ausdruck zu verleihen.Bevor es zu dem Streik kam, gab es darüber, wie Suhrkemper zeigt, einen „verschwiegenen“ Konsens bei wesentlichen Trägern des betrieblichen Aktivismus. Neben einem Teil der Vertrauensleute der „Westfalenhütte“ spielten dabei Kollegen, die an Schlüsselpositionen beschäftigt waren, eine entscheidende Rolle. So waren zum Beispiel Betriebshandwerker und Menschen, die während der Arbeit ein Telefon zur Verfügung hatten, von großer Bedeutung. Mit anderen Worten: Ohne eine Verankerung bei Facharbeitern und Handwerkern wäre der Streik kaum in Gang gekommen. Es bildete sich dann eine „Prozession“ durch die Werkshallen, bei der nicht nur die zentrale Forderung (typischerweise eine Festgeldforderung, hier 20 Pfennig mehr pro Stunde) quasi „im Laufen“ formuliert wurde, sondern auch als eher zögerlich bekannte Abteilungen „mitgenommen“ wurden, mit dem Ziel der Hauptverwaltung an Tor 1 des Werks in der Eberhardtstraße. Es war eine logistische Meisterleistung, eine Massendemonstration durch das Werk zu veranstalten, deren Ursprung nicht personalisiert werden konnte, eine Leistung, die in diesem Falle (nicht immer!) nicht zuletzt von Erfahrung und Kontinuität zu profitieren schien – der Verlauf (oder die Performance, wenn man so will) war in den 1960ern in der Hütte, aber auch in vielen anderen bundesdeutschen Unternehmen mit ähnlichen Bedingungen, hunderte Male „getestet“ worden. Sozialer Träger der Aktion waren in diesem Falle zudem vor allem die qualifizierten Arbeiter, überwiegend mit deutschem Pass. Damit komme ich zum zweiten Aspekt der Aktion – zu ihrer „unberechenbaren“, spontanen Seite.

Schauen wir uns zunächst an, wie einer der Chronisten der Septemberstreiks die Situation vor der Hauptverwaltung schilderte:

„Der erste Tag: 2. September 1969 (Dienstag). Neun Uhr morgens. 3.000 Arbeiter der Hoesch-Westfalenhütte verlassen gemeinsam ihre Arbeitsplätze und ziehen vor das Verwaltungsgebäude. Sie verlangen eine Lohnerhöhung von 30 Pfennig pro Stunde, nachdem die Werkleitung die Forderung der Betriebsräte auf 20 Pfennig abgelehnt und nur 15 geboten hat. Die demonstrierenden Arbeiter besetzen Treppen und Flure des Hauptgebäudes. Der Aufsichtsratsvorsitzende, Dr. Willy Ochel, und der Vorstandsvorsitzende, Dr. Friedrich Harders, können das Gebäude nicht mehr durch den Vorderausgang verlassen. Betriebsrat, Arbeitsdirektor und Vorstand verhandeln. Draußen wechseln die Sprechchöre: ‚Ausbeuter‘ und ‚Alle Räder stehen still, wenn der Arbeiter es will.‘ Mittags sprechen Hoesch-Arbeitsdirektor Walter Hölkeskamp und der Betriebsratsvorsitzende Albert Pfeiffer von einer Empore des Hauptgebäudes zu den Streikenden. Sie erläutern noch einmal die Verhandlungsvorschläge. Die Direktion bietet nun 20 Pfennig an; vergeblich, die Arbeiter bleiben hart. Der Betriebsrat zieht sich zur Beratung zurück. Nach langen Diskussionen stellt er sich schließlich hinter die 30-PfennigForderung der Arbeiter und will diesen Beschluß dem Vorstand mitteilen. Dieser hat das Gebäude freilich inzwischen durch einen Hinterausgang verlassen. Eine Entscheidung ist an diesem Nachmittag nicht mehr zu erreichen. Die Arbeiter, verstärkt durch die Mittagsschicht, weichen nicht. Ein Lautsprecherwagen wird zum Diskussionszentrum. Als ein Student antigewerkschaftliche Parolen verbreitet, wird ihm das Mikrophon entzogen. Die Arbeiter sind der Meinung: wir sind die Gewerkschaft. Die Westfalenhütte ist zu fast 100 Prozent in der IG Metall organisiert. Überredungsversuche von Arbeitsdirektor Hölkeskamp, die Arbeiter sollten den Betriebsrat mit der Vertretung der 30-Pfennig-Forderung beauftragen und wieder an die Arbeitsplätze gehen, scheitern. Die Arbeiter sind mißtrauisch. Sie wollen warten, bis sie feste Zusicherungen haben. Und viele warten die ganze Nacht hindurch. Die Nachtschicht hat sich dem Streik angeschlossen. In den Abendstunden dehnt sich der Streik auch auf andere Betriebsteile der HoeschAG aus. Die Betriebsräte der Werke Phönix und Union, die zunächst dem 15Pfennig-Kompromiß zugestimmt hatten, verlangen nun ebenfalls 30 Pfennig. Am späten Abend sind bereits über 15.000 Arbeiter im Ausstand; Hunderte schlafen auf dem Rasen vor dem Verwaltungsgebäude.“

Diese Erzählung gibt (trotz der anderen politischen Provenienz des Verfassers) im Wesentlichen das wieder, was das Institut für Marxistische Studien, welches damals der neu gegründeten DKP nahestand, über den Streik zu berichten wusste. Einige Auslassungen sind bemerkenswert: Erstens, wir erfahren nichts über das Zustandekommen des Streiks, zweitens wird auch ein Versuch der Besetzung des Hauptverwaltungsgebäudes in der Erzählung ausgespart, während die institutionalisierte Mitbestimmung in Gestalt von Betriebsrat und Aufsichtsrat kritisch gesehen wird, der Betriebsrat geht nolens volens auf die Forderungen der Belegschaft ein, der Aufsichtsrat versucht sogar, den Streik vorzeitig zu beenden. Besonders interessant ist schließlich die Formulierung, die Belegschaft habe den „Studenten“ zurückgewiesen, der „antigewerkschaftliche Parolen verbreitet“ habe (die sich wortwörtlich in der IMSF-Erzählung auch findet). Eine Rekonstruktion der Ereignisse, basierend auf einer Vielzahl unterschiedlicher Quellen und insbesondere auf der Basis der von Suhrkemper durchgeführten Interviews, ergibt folgende Korrekturen dieses Bildes: In dieser Variante der Geschichte verkündet zunächst der Arbeitsdirektor „nach wenigen Stunden“ die Annahme der ursprünglich von den Arbeitern formulierten Forderung nach 20 Pfennig mehr Lohn, eine Auskunft, die aber offenbar insofern gelogen ist, als dass die Firmenleitung lediglich bereit ist, einem „Vorschuss“ auf kommende Tariferhöhungen zuzustimmen. Daraufhin erklären die Versammelten vor der Hauptverwaltung quasi wie aus Trotz, dass die Forderung nunmehr auf 30 Pfennig erhöht würde. Ein Werksstudent schlägt danach vor, das Verwaltungsgebäude zu besetzen, und weiter bei Suhrkemper:

„Kurze Zeit später dringen die Streikenden in das Verwaltungsgebäude ein. Einige Mitglieder des geschäftsführenden Ausschusses des Betriebsrats stellen sich ihnen vergeblich in den Weg. Über Megaphon werden anfeuernde Worte gesprochen. Immer wieder bilden sich Sprechchöre, in denen die Arbeiter ihre Forderungen unterstreichen. Dabei nehmen sie ihre Schutzhelme und schlagen damit im Takt der Sprechchöre auf den Boden und an das Treppengeländer.“

Um die Situation unter Kontrolle zu bekommen und die Streikenden zur „Ruhe und Disziplin“ aufzufordern, bestellt der Betriebsrat beim Werkschutz einen Lautsprecherwagen. Als der Wagen kommt, wird er jedoch sofort von den Streikenden zweckentfremdet. Die Streikenden installieren ein „offenes Mikrophon“, das fortan, während des Wartens auf die Antwort der Geschäftsleitung, dem Austausch über alle möglichen Angelegenheiten des betrieblichen Alltags dient. Dabei werden „Agitatoren“ der Studentenbewegung ausgebuht. Besonders negativ fällt auf, dass die Geschäftsleitung sich „verdrückt“ hatte. Zwei Erzählungen über die wenigen Stunden, in denen der Septemberstreik bei Hoesch begann, die bei näherem Hinsehen unterschiedlicher nicht sein könnten: Die Geschäftsleitung, die bei Schmidt im Grunde die Beschäftigten austrickst, ist bei Suhrkemper (und Birke) wie auf der Flucht (die Demonstrationen, die danach in der Stadt durch die Arbeiter organisiert werden, versuchen, diesen Schritt quasi durch die Erweiterung des Terrains einzuholen, ebenso wie ein in der zeitgenössischen Presse notorisch als kriminell verhandelter „Besuch“ von Streikenden vor der Villa des Direktors Harder). Aus dem ausgebuhten und vom Mikrophon entfernten „einen Studenten“ der ersten Erzählung werden in der zweiten etliche Studierende (und nicht nur Werksstudenten), die eine entscheidende Rolle spielen. Eine Besetzung der Hauptverwaltung, die in der zweiten Geschichte von nicht ganz unwichtiger Bedeutung ist, findet in der ersten Geschichte überhaupt nicht statt. Beide Geschichten sind sicherlich dadurch geprägt, dass sie auf unterschiedlicher Quellenbasis geschrieben sind (wobei die jüngere der beiden Erzählungen sicher eine größere Grundlage für sich beanspruchen kann). Dies mag die Perspektive etwas beeinträchtigt haben, aber klarerweise prägt die beiden Erzählungen auch eine je unterschiedliche Haltung zu den Ereignissen, in der zweiten Geschichte ist beispielsweise die Nähe zu gewerkschaftsoppositionellen und an Selbstverwaltung orientierten Positionen deutlich erkennbar. Wie war es nun wirklich? 2015 lässt ein von Ute Bönnen und Gerald Endres für das ZDF produzierter Dokumentarfilm einige der Beteiligten (noch einmal) zu Wort kommen. Peter Keuthen, damals Betriebsschlosser in der Westfalenhütte und auch einer der wichtigsten Zeitzeugen der oben erwähnten Museumsveranstaltung, erzählt dort:

Keuthen: „Und dann sprach sich das nach und nach rum. Und die Kranführer gingen vom Kran, so dass der Betrieb nicht weitergehen konnte. […] Und schließlich versammelten sich so 5.000 Leute, die gesamte Frühschicht, da vorne.“ Sprecher: „Die Geschäftsleitung bot 15-20 Pfennig an, die aber auf die nächste Tarifrunde angerechnet werden sollten.“ Keuthen: „Och, pff. Wir schreiben da jetzt mal 30 Pfennig drauf. So spontan, sag ich mal, da war nicht irgendwie ‘ne große Strategie hinter. Wir machen jetzt einfach mal 30 Pfennig. […]“. […] Keuthen: „Und dann fuhr plötzlich die Werksfeuerwehr mit ‘nem Lautsprecherwagen vor. Und die Jungs natürlich, so, super, Luft aus‘m Reifen, konnte die nicht weiterfahren, hatten wir plötzlich ‘n Megaphon. Und am Anfang ging das ganz basisdemokratisch zu: Konnte jeder was sagen.“

Werner Ness, damals Schmelzschweißer, ergänzt:

Sprecher: „[…] Der Betriebsratsvorsitzende spricht. Die Arbeiter wollen wissen, was jetzt passiert. Und zufällig ist auch ein revolteerfahrener Student im Betrieb.“ Ness: „Da war auch ein junger Mann dabei. Student, Werksstudent, vielleicht auch gerade von der Uni gekommen, der in der Lage war, das Mikro an sich zu nehmen und fast ein Einpeitscher zu sein.“ Wieder Keuthen: „Das war ein 68er aus Berlin. Und der hat dann das Mikrophon übernommen. Weil, ich sag mal, ist ja auch gar nicht einfach, die Truppe über ein, zwei Tage bei der Stange zu halten. Der konnte das.“ Sprecher: „Die Truppe richtet sich vor der Hauptverwaltung ein, bis die Forderungen erfüllt sind. Ganz nebenbei wird den Lehrlingen klargemacht, dass Lehrjahre auch im Streik keine Herrenjahre sind.“ Keuthen: „Es war Sommer, es war warm, die Stahlarbeiter haben meist immer Durst. Und da war so eine Selterswasserbude gleich um die Ecke. Der Junge hat das Geschäft seines Lebens gemacht, aber nicht mit Selterswasser.“

Und Lothar Stankus, damals Auszubildender, ergänzt:

„Plötzlich ging die Tür zur Lehrwerkstatt auf und da kamen Kerle wie Bären rein. Und dann: Kommt mit! Kommt mit! Kommt mit! Wir wußten eigentlich nicht so, worum es geht. [Und dann, vor dem Haupttor]: Da haben die [Älteren] uns am Kragen gepackt und gesagt: Du räumst das jetzt hier auf. Und wenn ich hinterher noch ‘ne Flasche finde, dann setzt’s was. Das Pfandgeld kannst‘e behalten. So war das.“

Wie es „wirklich war“, erfährt man natürlich auch durch Zeitzeugenberichte nicht. Jedoch bestätigen die jüngsten Interviews, die mit Zeitzeugen der Westfalenhütte gemacht worden sind, die Einschätzung, dass die generationelle Zusammensetzung der Streikenden ebenso wie ihr männlich konnotierter Habitus eine wichtige strukturierende Rolle für die spontan entstehenden Dynamiken im Streik gespielt haben. Dabei bestätigt insbesondere Keuthen die Einschätzung, dass Studierende eher als willkommene Stimmungsmacher im Streik angenommen wurden – allerdings nicht im Rahmen jener (fast) Woodstock-Atmosphäre, die bei Suhrkemper gezeichnet wird und die ich in meiner eigenen Aufarbeitung der Quellen 2007 übernommen habe. Vielmehr ist jener „Student“ vor allem willkommen, weil er die „Truppe zusammenhalten kann“, also die Versammlung strukturieren. Trotzkisten würde so etwas vielleicht als „spontaneous leadership“ bezeichnen, wie auch immer bezeichnet, drückt es jedoch aus, dass die „Basisdemokratie“ der Situation am Lautsprecherwagen tatsächlich im Grunde „unorganisiert“ war und eine Lücke schaffte, in die der Betriebsrat (erfolglos) und andere Akteure (teils wohl erfolgreich) „hineinspringen“ konnten, jedenfalls dann, wenn sie der Wut der Anwesenden über die als schlecht wahrgenommenen Arbeits- und Entlohnungsbedingungen in plastischer Weise Ausdruck verliehen. Es war also keinesfalls das „große Bündnis“ zwischen Arbeitenden und linken Studierenden, aber auch nicht einfach der Ausdruck eines enormen sozialen und politischen Abstands – eher eine offene Situation, in der sich Kooperationsmöglichkeiten abzeichneten, die sich ergeben würden, wenn die bis dahin strikt auf dem Betriebsgelände verbleibende Geschichte der wilden Streiks „die Fabrik verlassen“ und in unterschiedliche städtische Teil-Öffentlichkeiten gelangen würde. Eine Variante also jener Geschichte der „vergangenen Zukunft“ – die Verallgemeinerung von Forderungen von Industriearbeiter_innen in der lokalen Gesellschaft.

Wohlgemerkt jedoch bedeutete diese Offenheit in der Kommunikation vor Tor 1 keineswegs bereits, dass gleichberechtigte, egalitäre Sprechpositionen quasi wie vom Himmel gefallen wären. Insbesondere kam nicht plötzlich ein egalitäres Selbstverständnis in der Belegschaft auf. Eine Ursache mag sein, dass die betriebliche Produktionsmacht bestimmter Gruppen, deren hierarchische Struktur Ausgangspunkt des Streiks war, vor dem Tor trotz der egalitären Sprechsituation des „offenen Mikrophons“ nicht einfach aufgehoben war – so ist das Vermögen zu sprechen nicht einfach durch das Vorhandensein der Möglichkeit gegeben, sondern vielmehr vorgeprägt. Besonders deutlich wird das an der zweiten Dimension des generationellen Konflikts, der sich vor Tor 1 Ausdruck verschaffte: Die Arbeiter, die darauf achten, dass alles sauber bleibt und die Lehrlinge unter Drohungen anhalten, die leeren Flaschen wegzuräumen. Die Lehrlingsbewegung hat diese Herrschaftskonstellation später erfolgreich auf- und angegriffen, mit eigenen Forderungen, und nicht zuletzt der Forderung, nicht für jene berüchtigten Hausmeister- und Kehrdienste eingesetzt zu werden.  Aber über diese Hierarchisierung hinaus, die vor allem das Verhältnis der Väter-Arbeiter zu den Söhnen betrifft, existiert auch das Problem, dass andere, weitere sicher beteiligte Gruppen in der Erinnerungskultur des Hoesch-Streiks überhaupt nicht sichtbar sind. Oder anders gefragt: Warum tauchen in der gesamten Literatur über die Streiks bei Hoesch migrantische Beschäftigte nicht auf, in keinem Interview, auf kaum einem Bild? Eine Ausstellung im Hoesch-Museum griff die Frage nach der Migrationsgeschichte des Werks auf. Rainer Lichte, ein Industriesoziologe mit eigener praktischer Erfahrung als Stahlarbeiter, schilderte im Blog zum Programm dieser Ausstellung das Problem wie folgt:

„Schnell wuchs die Gruppe der Türken, bei Hoesch war sie bereits ab 1971 die größte nationale Gruppierung. Aber alle Ausländer zusammen machten hier höchstens 10% der Belegschaft aus. Erinnern sich deshalb so wenige Zeitzeugen daran, ob es je Schwierigkeiten mit diesen Beschäftigten gab? […] Aber warum waren die Arbeitsmigranten betriebspolitisch anfangs eher eine unbedeutende Randgruppe? Dazu muss man sich die Arbeitswelt in der Stahlindustrie von vor 50 Jahren einmal vor Augen führen: Die Konjunktur brummte, Arbeitskräfte waren knapp, es wurde noch schwer körperlich unter großen Belastungen aus der Arbeitsumwelt malocht. Zwei Drittel der Arbeiter waren An- und Ungelernte, die i.d.R. erst nach langen Jahren Arbeitsplätze mit besseren Bedingungen ergatterten. Vor allem diesen Arbeitern kamen die ‚Gastarbeiter‘ gerade recht. Sie wurden auf die schlechten Arbeitsplätze gesetzt. Es waren junge, kräftige, motivierte Arbeiter. Die machten anfangs den Deutschen die bessere Arbeit nicht streitig. Und sie hatten nur Zeitverträge: wenn es zur Krise kommen sollte, waren sie die Entlassungskandidaten. Über 90 Prozent arbeiteten als Un- oder Angelernte vor allem an den Hochöfen, in den Stahl- und Walzwerken, gleichgültig, ob sie in der Türkei einen qualifizierten Beruf erlernt hatten oder nicht.“

Kurze Zeit nach den Septemberstreiks artikulierten sich die Forderungen der dort „Unsichtbaren“, wie in den Streiks von überwiegend migrantischen Frauen gegen „Leichtlohngruppen“ oder im berühmten Ford-Streik vom August 1973.

 

Erinnerungs-Akteur Metallgewerkschaft

Wie wird die Geschichte der Septemberstreiks in den Erinnerungstexten erzählt, die die IG Metall in den letzten Jahrzehnten veröffentlicht hat? Dies kann hier nicht sehr ausführlich dargestellt werden. Ein Blick in einige zentrale Jubiläumswerke, namentlich zum 90., 100. und 125. Geburtstag des DMV/der IG Metall, ergibt eine die bisherigen Ausführungen ergänzende, aber zugleich an diese anschließende Tendenz. So sind von Gewerkschaften selbst produzierte Narrative über ihre eigene Geschichte sehr lange Zeit von zwei Setzungen durchtränkt gewesen: Vom Gedanken der (und dem Stolz auf die) Einheit und von der Idee der „Errungenschaften“ oder des Fortschritts. Diese quasi zum Inventar der klassischen Moderne gehörenden Setzungen finden sich auch in den Jubiläumsbüchern der IG Metall. Streikbewegungen liegen allerdings oft quer zu solchen Kontinuitäts-Erzählungen, während die Einheit der Arbeiter_innenklasse, wie wir eben ja gesehen haben, auch nicht stets gegeben war. Die spezifische Rolle, die der September 1969 und auch insbesondere die Hoesch-Aktionen in der Geschichtsschreibung der IG Metall spiel(t)en, ist Ausdruck dieser Widersprüche und Spannungen. Dabei gibt es mehrere Varianten derselben Erzählung, die jedoch gemeinsam haben, dass sie „Einheit“ als gegeben und nicht als herzustellen setzen und die Konflikte in und zwischen Belegschaften und Gewerkschaften aussparen.

Die erste dieser Varianten ist, dass der Streik quasi in die Lücke zwischen Einheit und Fortschritt auf der einen und ihrer Bebilderung auf der anderen Seite fällt. Streiks sind in dieser impliziten Lesart zum einen sichtbare Manifestationen der Konflikte und des Kampfes, derer es bedarf, um Einheit und Fortschritt zu erreichen, sie haben aber zum anderen jenseits dessen keine eigene Geschichte und – abgesehen davon – auch keinen eigenen sich entwickelnden Inhalt. Oder, anders gesagt: Als Meilensteine dürfen sie gelten, aber sie bleiben merkwürdig versteinert. Beispiele für diese Variante finden sich in Bezug auf den September 1969 nicht nur in der älteren Literatur, sondern auch in recht avancierten (ansonsten hochinteressanten) neueren Werken. So schildert etwa van der Meulen die Phase der Durchsetzung eines gewissen Einflusses der gewerkschaftlichen Apparate auf die staatliche Politik um 1968 – bebildert durch ein Foto von einer Dortmunder Demonstration während der Septemberstreiks, zu dem selbst keine weiteren Informationen enthalten sind. In anderen Jubiläumsbänden wird auf einen Auftritt einiger Arbeiter im September 1969 ganz verzichtet, und die Spuren dieses Arbeitskampfes sind wesentlich lediglich in der sehr starken Lohnerhöhung markiert, die zwischen Tarifrunden 1968/69 (erwähnt), Septemberstreiks (unerwähnt) und Tarifrunden 1970/71 (erwähnt) registriert wird. Die zweite Variante schildert die Septemberstreiks durchaus als Einschnitt, sie wurde in mehreren Erinnerungsbüchern der IG Metall textgleich und routinisiert veröffentlicht, so etwa zum 90. und 100. Jubiläum:

„Nach Abschluß des Frankfurter Abkommens Anfang August 1969 kam es in der Eisen- und Stahlindustrie Nordrhein-Westfalens und auch in anderen Tarifgebieten zu Arbeitsniederlegungen und zu erheblichen Unruhen.“

Vor diesem kurzen Sprachstück wird geschildert, wie sich die Metallgewerkschaft an den Verhandlungen zur Konzertierten Aktion beteiligt hatte und somit „ihren Beitrag zur wirtschaftlichen Gesundung [nach der Krise von 1966]“ angeboten habe. Danach wird geschildert, wie „man“ vor der Unruhe gewarnt habe und dass diese selbst ein Hinweis auf eine allgemeine gesellschaftliche Aufbruchssituation gewesen sei, die sich auch in den neuen Jugendbewegungen und den Protesten gegen Notstandsgesetze und an den Universitäten gezeigt habe. Die Erzählung ist auch in ihrer Chronologie bemerkenswert, denn sie leistet einerseits eine weitgehende Verhüllung der Motive und Absichten und insbesondere der Kontroll- und Hierarchiekonflikte „hinter“ den Septemberstreiks, ja, sie geht nicht einmal auf die zentrale Forderung der „linearen“ Lohnerhöhungen ein. Andererseits dreht sie die gewöhnliche Lesart der Aufbrüche von 1968 quasi um, indem sie den September 1969 als Eingangstor nutzt, um textlich sodann zum Mai 1968 voranzuschreiten. Aber auch in dieser Variante bleibt den Streiks die Rolle, die die erwähnte Streiktonne vor dem Hoesch-Museum hatte: Die Arbeitskämpfe haben keine eigene Geschichte, sie gehen im allgemeinen Narrativ gesellschaftlicher Fort-Entwicklung unter.

Beide Varianten können auf den geschichtspolitischen Streit in den Gewerkschaften bezogen werden, der seit dem Ereignis von 1968 selbst und vor allem in den 1970er und 1980er Jahre ausgetragen wurde und der dieses Ereignis gewissermaßen unter sich begraben hat. So brachte der Historiker der Metallgewerkschaft K. T. Schmitz in einem den anhaltenden Streit bilanzierenden Beitrag die Kritik an der Kritik der Gewerkschaftsführung als KP-nahe Position auf den Punkt und warnte, Peter von Oertzen zitierend, vor einer parteipolitischen Instrumentalisierung der Gewerkschaftsgeschichte. Die Gegenseite, die in der Tat aus einem breiten Spektrum linker (auch gewerkschaftsnaher) Autor_innen bestand, die auch eine Kritik der historischen Gewerkschaftspolitik wagte, maß zugleich jedoch nicht selten einer „führungslosen“ Arbeiter_innenbewegung wenig eigenes Gewicht bei, eine Perspektive, die sich nicht alleine in den zitierten zeitgenössischen, sondern auch in neueren Texten aus der „linken“ Feder spiegelt: „Das gesellschaftliche Klima“, kann man etwa in einem eher „links“ inspirierten Frankfurter Jubiläumstext zu 125 Jahren IG Metall lesen, „änderte sich in diesen Jahren. Im September 1969 korrigierten die Stahlarbeiter mit spontanen Streiks ein überholtes Tarifergebnis. Der Bezirksleiter Hans Pleitgen delegierte damals einen neuen Bezirkssekretär ins Saarland, um die Dinge wieder ins Lot zu bringen.“ Mehr ist auch in dieser Variante nicht passiert.

Michael Schneider hat die – vor allem nach 1980 stattfindenden – Innovationen der gewerkschaftlichen Erinnerungskultur in seinem Beitrag im Rahmen der Debatte der Kommission „Erinnerungskulturen der sozialen Demokratie“ ausführlich geschildert. Migrationsgeschichte, Oral History, Geschichtswerkstätten – vielfältige Innovationen haben sich in den vergangenen Jahrzehnten auch in der gewerkschaftlichen Geschichtsschreibung und somit auch in der Geschichtsschreibung der Gewerkschaften gespiegelt. Dem ist hier kaum etwas Neues hinzuzufügen. Die 125-Jahre-Publikationen und medialen Veröffentlichungen der IG Metall haben diese Innovationen zumindest insofern aufgenommen, als dass sie auch eine Individualisierung und Personalisierung von Geschichtsschreibung enthalten, davon ausgehend, dass die große Geschichte von vielen einzelnen Beschäftigten gemacht wird. Nicht von der vielleicht größten Einzelgewerkschaft der Welt organisierte Arbeitskämpfe werden aber auch im letzten erinnerungspolitischen Zyklus der Metallgewerkschaft entweder kurz und kursorisch oder überhaupt nicht behandelt.

 

Ausblick

Ein wichtiges Moment einer Würdigung der Streikgeschichte ist, im Versuch sie als „eigene Geschichte“ zu verstehen und zu schreiben, in der Tat ihre Aktualisierung. Eine demokratisierte Erinnerungskultur zu wilden Streiks steht heute insbesondere vor der Herausforderung, den Bruch zwischen generationellen Erfahrungen zu überbrücken, ein Vorhaben, das sich gerade im Falle der Septemberstreiks als ausgesprochen schwierig erweist. Schon Mitte der 1970er Jahre begannen die nächsten Stahlkrisen, und jedes Jahr danach verschwanden tausende Arbeitsplätze und nach und nach ein Standort nach dem anderen. In der Folge ist der Wiedererkennungswert des Bildes von Union oder Westfalenhütte aktuell sehr gering, die lokalen Nutzungs- und Vergesellschaftungsformen unterscheiden sich sehr stark von denen der 1960er und frühen 1970er Jahre: Was haben die Probleme von Arbeitenden in einem Logistikzentrum mit denen der Hoesch-Beschäftigten von vor 50 Jahren zu tun? Auf den ersten Blick: Nichts! Doch andererseits zeigt eine (wie hier) knappe Analyse des Streikverlaufs, dass zumindest Analogien möglich sind. So waren migrantische Arbeiter bei Hoesch Arbeits- und Lebensbedingungen ausgesetzt, die in ähnlicher Weise als prekär bezeichnet werden können, wie sie es heute für einen großen Teil insbesondere der neu eingestellten, jüngeren und in Niedriglohnsektoren beschäftigten Menschen sind. Und in ähnlicher Weise „übersieht“ heute manche betrieblicher Interessenvertreter_in die Existenz solcher Verhältnisse, insbesondere im Fall von Leiharbeit, ähnlich wie die Streikforschung die Ausländer (und die Lehrlinge) im Hoesch-Streik „übersehen“ hat bzw. erst für einen späteren Zeitpunkt als wichtigen Faktor ausmacht.

Auch aus diesem Grund ist die Forderung Bergers und Seifferts nach dem Begreifen von sozialer Relationalität an historischen Erinnerungsorten nicht nur allgemein in der kritischen Rekonstruktion von Zeit-Räumen wichtig, sondern im Besonderen auch dann, wenn der Frage nach den Demokratisierungspotenzialen wilder Streiks nachgegangen wird. Festzustellen ist etwa, dass wilde Streiks solche Potenziale nicht „an sich“ tragen: Quasi als Unterkategorie kollektiver Aktionen und sozialer Bewegungen teilen auch die Streiks als Aktionsform zunächst ein Moment des politisch Unbestimmten.

Oder anders gesagt: Es können sich in ihnen sowohl emanzipatorische als auch anti-emanzipatorische Inhalte und Forderungen entwickeln (und, was es noch schwieriger macht, mitunter in derselben Aktion, zur gleichen Zeit, und in einem mehr oder weniger ausgesprochenen Konflikt). Klarerweise stellten Arbeitskämpfe betriebliche und gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse in Frage. Sie sind auch insofern „für sich“ nur relational zu begreifen, als sich wandelnder Konflikt zwischen Kapital und Arbeit. Gleichzeitig jedoch markieren sie betriebliche Hierarchien jedoch auch im viel umfassenderen Sinne – zwischen den Geschlechtern, zwischen Alt und Jung, Arbeitenden unterschiedlicher Staatsangehörigkeit und in unterschiedlichen Beschäftigungsverhältnissen.  Kaum zu übersehen ist schließlich die erneuernde, voranschreitende Dimension solcher Aktionen: Wilde Streiks konnten Probleme anmelden, deutlich bevor die Gewerkschaftsbewegung als solche diese als eigenständig und bedeutend anerkannte: Der Bruch mit der zentralisierten Tarifpolitik, die Bandpausen in der Autoindustrie, die Abschaffung der Leichtlohngruppen für Frauen – all das sind Beispiele. In diesem Sinne waren wilde Streiks sicherlich eine Herausforderung für Unternehmer und Management, aber sie forderten ebenso etablierte gewerkschaftliche Politik häufig heraus, ein Umstand, der sich, wie gezeigt wurde, auch in den Leerstellen und Brüchen äußert, die sich in gewerkschaftlichen Erinnerungsbänden wie jenen der IG Metall in Bezug auf die Streikgeschichte zeigen.

Vielleicht müsste die Geschichte dieser besonderen Form sozialer Kämpfe auf einer neuen Grundlage begriffen werden. Ein Modell könnte der Film „Le Reprise“ von Hervé Le Roux sein, der auf der Grundlage einer durch Absolventen der Pariser Filmhochschule eingefangenen Szene aus einem Streik im französischen Mai 1968 das soziale Tableau rekonstruiert hat, das sich dort bot: Die verschiedenen sozialen Rollen, die gespielt wurden, die Streikenden und das Streikende, die Gewerkschafter, Studenten usw. Auch in dieser hervorragenden filmischen Arbeit geht es um die „Wiederaufnahme“ eines Erzählfadens, und nicht zuletzt um die Biografien der damals Aktiven „nach dem Streik“ und bis heute, um ihre „Klassenreise“, die die Aktion selbst aus ihrer Einmaligkeit heraushebt und in einen im Grunde weiteren historischen Kontext stellt als lediglich in jenen, der sich aus der bekannten äußeren Geschichte der Arbeitsbeziehungen ergibt: Eine „Geschichte der Gegenwart“ zu schreiben, auf der Grundlage einer Suche nach den verschwundenen Biografien, und zwar nicht allein derjenigen, die sich während der Aktionen weit hörbar artikulierten, sondern auch derjenigen, die bereits während der Kämpfe selbst eher schwiegen oder auch später verstummten.

 

Zum Autor: Dr. Peter Birke ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Soziologie mit den Schwerpunkten Arbeit, Unternehmen und Wirtschaft der Georg-August-Universität Göttingen. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören (Historische) Arbeitssoziologie, Arbeit und Migration, Stadtsoziologie und urbane soziale Bewegungen.

Zu dieser Publikation Auf Initiative der Hans-Böckler-Stiftung untersucht die Kommission „Erinnerungskulturen der sozialen Demokratie“ von 2018 bis 2020, wie Gewerkschaften und andere Akteur_innen sozialer Demokratie ihre Geschichte erinnerten und erinnern. Darüber hinaus wird erforscht, inwiefern die Organisationen, Institutionen und Errungenschaften der sozialen Demokratie in den Erinnerungskulturen Deutschlands berücksichtigt wurden und werden. Die Reihe Arbeitspapiere aus der Kommission „Erinnerungskulturen der sozialen Demokratie“ veröffentlicht Zwischenergebnisse aus der Arbeit der Kommission.

 

 

Anmerkungen und Literaturangaben sind unter der Hans Böckler Stiftung

https://www.boeckler.de/pdf/p_ek_ap_05_2019.pdf einzusehen.

Bild: unsere-zeit.de