Ein Gespräch mit Javier Tolcachier über die unternehmerische Einflussnahme der Multistakeholder

In folgendem Interview mit Javier Tolchachier* geht es um ein Thema, von dem die meisten wahrscheinlich noch nie gehört haben, das sie aber sicherlich in irgendeiner Weise erleben, weil es mit unserem Leben zu tun hat. Und es ist ein Thema, das wir gerade deshalb ansprechen wollen, weil es in der öffentlichen Debatte nicht vorkommt. Es scheint ein Thema für Spezialist:innen zu sein, es scheint ein sehr kompliziertes Thema zu sein, und es ist nicht so kompliziert in Bezug auf das Verständnis, es ist sehr kompliziert in Bezug auf die Konsequenzen.

Hallo Javier, willkommen bei Continentes y Contenidos.

Hallo Nelsy, hallo Freunde. Guten Morgen und guten Tag an alle Zuhörer:innen, wo immer ihr seid.

Es ist schön, dich bei uns zu haben. Und beinahe Javier, wird dieses Interview wie eine kleine Unterrichtsstunde sein, okay, denn wir sind daran interessiert, dass unser Publikum das Thema versteht. Dass wir alle das Thema verstehen, wie es funktioniert und welche Folgen es hat. Im Englischen heißt es Multistakeholders, was genau bedeutet das? Wie lautet die Definition? Javier, lassen Sie uns damit anfangen.

Nun, Multistakeholder ist ein Beteiligungssystem, zumindest eine theoretische Beteiligung, die ab dem Jahr 2000 entstanden ist. Im Spanischen bedeutet es Multisektoralismus oder Multistakeholder-System, d. h. es ist das, was man sich ursprünglich als Möglichkeit vorstellte, die Beteiligung an Fragen der globalen Governance zu erweitern. Das, was normalerweise in die Zuständigkeit der Staaten fällt, sollte auf andere Akteur:innen ausgeweitet werden. Ursprünglich haben die Organisationen der Zivilgesellschaft und die Bewegungen diese Möglichkeit begeistert angenommen, weil sie auf diese Weise in gewisser Weise mitarbeiten, Einfluss nehmen und einen Beitrag zu diesen Themen leisten konnten, die normalerweise ausschließlich in die Zuständigkeit der Staaten im UN-System fielen. Allerdings ist aus diesem Multi-Stakeholder ein Multi-Take-Holding geworden. Das ist ein neues Wort, nämlich „take all“, denn anstatt dass Basisorganisationen einen wirklichen Einfluss haben, haben Unternehmen und Konzerne begonnen, sich das System anzueignen, und mit ihrer Kaufkraft, mit ihrer wirtschaftlichen Macht, mit ihren Stiftungen, mit ihren Nichtregierungsorganisationen, sagen wir, mit ihrer finanziellen Unterstützung, haben sie diese Möglichkeit verzerrt und sind zu dominanten Faktoren in der globalen Governance geworden. Das mag wie eine Verschwörung klingen, aber so ist es, und es ist gut dokumentiert. Ich weiß nicht, ob die Erklärung klar war.

Ja, Javier, im Englischen ist es nicht nur ein Wort, sondern drei: Multi-Stakeholder. Wir haben kein einziges Wort, um dieses Modell, sagen wir diesen Trend, zu definieren, und in der Tat war es, wie du sagst, ursprünglich sehr interessant, weil es in der Tat eine Möglichkeit war, auf eine artikulierte Art und Weise zu arbeiten, um die Steuerung des Planeten von den Vereinten Nationen aus zu beeinflussen. Aber so hast du es nicht erklärt. Sagen wir, der Trend gewinnt immer irgendwie, es ist wie das kapitalistische Modell, denn am Ende ist die Frage der vielen Interessengruppen funktional für das Wirtschaftsmodell und den Kapitalismus. Zumindest interpretiere ich das so, dass es letztendlich funktional ist. Ist es so, ist es nicht so, warum?

Es ist so, und das ist wie im Casino, die Banken gewinnen immer. Es sei denn, die Menschen beschließen, dass dies nicht geschehen soll, und das ist in der Tat so, denn das Weltwirtschaftsforum in Davos hat dieses Thema der verschiedenen Interessengruppen aufgegriffen und den Begriff des Multi-Stakeholder-Kapitalismus geprägt. Damit fördert es die kapitalistische Umstellung, indem es den nachhaltigen Entwicklungszielen der 2030-Agenda ein freundliches Mäntelchen umhängt, ein Propagandamäntelchen, das heißt, wenn man es von weitem betrachtet, wollen diese Leute, diese Geschäftsleute, diese undemokratischen, de facto wirtschaftlichen Mächte, die von niemandem gewählt wurden, die Verantwortung für die globale Governance übernehmen, für alles, was mit der Klimakrise, der Bildung, den Gesundheitslücken zu tun hat…. Mit anderen Worten, alles, was sie selbst geschaffen haben, denn es handelt sich um eine Kontinuität des neoliberalen Modells der 1980er und 1990er Jahre, das neu formatiert wurde, mit einigen neuen Worten und unter Einbeziehung von Themen, die damals mit der sozialen Verantwortung der Unternehmen verbunden waren, was normalerweise viel näher an der sozialen Verantwortungslosigkeit liegt.

Es handelt sich also um eine Fortsetzung des Prinzips, dass Unternehmen, Konzerne laut Weltwirtschaftsforum theoretisch dazu qualifiziert sind, die Verantwortung für die Gesellschaft zu übernehmen, weil sie angeblich effizient sind; was in Wirklichkeit, das muss man wiederholen, absolut ineffizient ist, weil es so viel Hunger gibt, weil es so viele arme Menschen gibt. Kurz gesagt, wegen des ganzen Chaos, das sie selbst verursacht haben. Zu diesen so genannten Interessenvertreter:innen sollten wir also noch einen weiteren hinzufügen, nämlich die Interessenvertreter, die an ihrem eigenen Profit interessiert sind.

Wie können diese an den Gewinnen ihrer Unternehmen interessierten Akteur:innen, die auch ihren Aktionär:innen gegenüber für diese Gewinne rechenschaftspflichtig sind, wie können diese Art von Organisationen mit dem Schutz des Gemeinwohls betraut werden? Das ist völlig unlogisch, undemokratisch, niemand kennt sie, niemand hat sie gewählt.

Darüber hinaus hat dies den Effekt, dass die ohnehin schon schwachen Staaten weiter geschwächt werden, weil dieses Narrativ von „privat ist immer besser als öffentlich“, „private Akteur:innen sind besser als öffentliche Akteur:innen“, etc. und es ist auch so, als würde man dem Staat die grundlegende Verpflichtung abnehmen, alle Möglichkeiten für alle seine Bürger:innen zu garantieren. Es gibt eine Schwächung der Staaten, insbesondere in diesem multilateralen Raum. Ich weiß nicht, wie du darüber denkst?

Ja, es ist in der Tat, wie ich bereits sagte, eine Verlängerung des neoliberalen Modells unter dem Dach einer angeblichen öffentlich-privaten Partnerschaft, die in Wirklichkeit aus sehr unterschiedlichen Teilen besteht. Mit anderen Worten, es ist klar, dass es in einer Gesellschaft eine gewisse Parität zwischen den Komponenten geben muss, damit nicht einige über die anderen entscheiden. Stellt euch vor, Google, Amazon oder Facebook kommen in ein afrikanisches Land, dessen Staatshaushalt vielleicht ein Zehntel oder ein Hundertstel dessen beträgt, was diese Unternehmen ausmachen, und dann bieten sie ihnen zum Beispiel im Bildungsbereich eine Reihe von Bildungspaketen an und geben ihnen obendrein noch einen Rabatt oder stellen sie für eine bestimmte Zeit kostenlos zur Verfügung, damit die Staaten danach die Premium-Version kaufen. Außerdem wollen sie, dass die Staaten ihr eigenes geschlossenes, d.h. für andere unzugängliches Technologiemodell installieren. Und zusätzlich zu diesem technologischen Modell verkaufen sie andere Produkte, weil der betreffende Staat dieser technologischen Logik verfallen ist, und fügen dann noch hinzu, dass sich der Staat in vielen Fällen mit Sicherheit verschulden wird, weil er durch das Problem der Infrastruktur- und Konnektivitätslücke unter Druck gesetzt wird.

Das bedeutet, dass der Staat die Verantwortung für das Unternehmen übernehmen muss, und zwar durch universelle Konnektivität, was natürlich eine positive Seite hat, um mit der gesamten Bevölkerung Geschäfte machen zu können. Der Staat bleibt also verschuldet, die Unternehmen machen ihre Geschäfte, und es wird ein wirtschaftsfreundliches Technologiemodell mit einer Marktlogik installiert, die im Nachhinein nichts von dem begünstigt, was sie verspricht.

Ein Beispiel dafür ist die Bildung. Es gibt ein Dokument mit dem Titel „Die Zukunft der Bildung“, das, sagen wir, derzeit von der UNESCO gefördert wird, deren Aufgabe es ist, über die Bildung der Zukunft nachzudenken. Für diese Leute hat natürlich vieles davon nichts mit der Behebung der großen Bildungsprobleme unserer Gesellschaften zu tun, die mit der Pädagogik, dem Menschenbild, den Ungleichheiten in der Gesellschaft selbst zu tun haben, sondern einfach mit dem Anschluss an das Netz. Im Übrigen wurde auf diesem Weltwirtschaftsforum vor einigen Tagen ein Lernmodell der virtuellen Realität gefördert, d. h. mit diesem Metaverse, das von mehreren Unternehmen, nicht nur von Meta, gefördert wird. An diesen virtuellen Lernorten sollen Kinder eintreten und von ihnen eingerichtete Bildungskioske sehen, an denen ihnen erklärt wird, wie sie ihr Leben gestalten können, wie sie, sagen wir, eine Wurst mehr oder eine Sardellenkonserve mehr auf dem Markt und in dem von ihnen gewünschten Arbeitsmodell werden können.

Mit anderen Worten, es ist alles eine Lüge, es ist alles Propaganda, um den Kapitalismus zu retten, neue Geschäftsnischen zu finden und wieder einmal die Mehrheit der Bevölkerung zu unterjochen.

Wie sind die Aussichten in diesem Szenario, Javier? Denn so wie es beschrieben wird und es ratifiziert, sagt man „hier gibt es nichts zu tun, entspannen wir uns und lassen wir geschehen, was geschehen muss“, aber wir wissen, dass es nicht so ist, also was sind die Aussichten?

Nun, sagen wir einfach, um nicht in eine solche Situation zu geraten. Um nicht in eine technokratische Logik zu geraten, d.h. in eine Logik von Rezepten, die aus fertigen Rezepten bestehen, müssen wir zunächst die Öffentlichkeit und uns selbst enttäuschen, indem wir sagen, dass es keine fertigen Rezepte gibt, gerade wegen der großen Dynamik in diesem Sektor.

Im Technologie- und Unternehmenssektor gibt es viele Tricks, um Steuern zu umgehen, Gesetze zu unterlaufen, Regierungen zu stürzen, kurz gesagt. In diesem Szenario ist das einzig sinnvolle Rezept die Partizipation. Damit Demokratie existieren kann, damit Technologien demokratisiert werden können, damit die Macht der Konzerne in Angelegenheiten, die uns alle betreffen, nicht vorankommt, müssen wir alle in diesen Angelegenheiten handeln. Beteiligt euch politisch, sozial, kulturell, so wie es jeder von euch es für richtig hält, sogar spirituell, um diesem Trend entgegenzuwirken, der die Menschenwürde herabsetzt. Der das enorme Potenzial der Völker missachtet. Und natürlich müssen wir, zum Beispiel im Bereich der Technologie, diese Konzerntechnologien ablegen, auch wenn sie bequem erscheinen, wir müssen freie Werkzeuge verwenden, die genauso gut sind, wie die anderen, mit dem Unterschied, dass niemand dich ausspioniert, niemand dich beobachtet, wir müssen diese Fragen ein wenig mehr untersuchen, verstehen, wie sie sich auf dein eigenes Leben auswirken. Denn das ist das Wesentliche, wenn man versteht, dass es einen persönlich betrifft. Wie zum Beispiel die Tendenz großer Unternehmen, junge Leute in Entwicklungsländern einzustellen, die viel billiger sind als Programmierer:innen in nördlichen Ländern. Nun, das wirkt sich auf den Arbeitsmarkt aus, auf all die Menschen, die jetzt auf Motorrädern oder Fahrrädern oder sogar zu Fuß herumfahren und Tüten mit Lebensmitteln verteilen. Das ist ein Modell, das sie sich ausgedacht haben. Deshalb müssen wir die Dinge selbst in die Hand nehmen, uns digital weiterbilden, verstehen, wie dieses schändliche Modell funktioniert und uns zusammenschließen. Wir müssen uns organisieren und die Bewegungen und Organisationen unterstützen, die sich für eine, sagen wir mal, souveräne und faire technologische Entwicklung einsetzen.

Eine kleine Nebenbemerkung. Wir fördern derzeit eine Initiative namens Internet Ciudadana (Bürger:innen Internet), die mit dem Foro de Comunicación para la Integración de Nuestra América (Kommunikationsforum für die Integration unseres Amerikas) verbunden ist und die gerade versucht, in Kontakt mit anderen ähnlichen Initiativen im globalen Süden Strategien zu untersuchen, um diese Hegemonie oder vermeintliche Hegemonie der Konzerne im globalen Raum zu stoppen, um Strategien zu entwickeln, die von der Gemeinschaft, vom sozialen Bereich aus ihren Teil dazu beitragen, Druck auf die Staaten, auf die Regierungen auszuüben, um Gesetze zu schaffen, welche die Straflosigkeit der Konzerne nicht zulassen.

 

*Javier Tolcachier ist Forscher am Zentrum für Humanistische Studien in Córdoba, Argentinien und Korrespondent der internationalen Nachrichtenagentur Pressenza. javiertolcachier@disroot.org Twitter: @jtolcachier

 

 

 

 

 

 

Der Beitrag erschien am 20.06.2022 auf https://www.pressenza.com/

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