Eine Wette auf die Zukunft. Karin Zennig im Gespräch mit Massimo Perinelli über die bewegende Geschichte der Migration

Bild: scharf links.deDie Medien sind voll davon: Am 30. Oktober vor 60 Jahren wurde das deutsch-türkische Anwerbeabkommen abgeschlossen. Türk:innen waren nicht die ersten der sogenannten »Gastarbeiter:innen«, aber seit dem Ford-Streik 1973, den explizit türkenfeindlichen Kampagnen und Angriffen der 1980er Jahre und dem Anschlag von Solingen 1993 stehen sie exemplarisch für positive Bezugnahmen wie für extreme Ablehnungen und damit für die Entwicklung der Migration in Deutschland. Aber wie kommt es, dass dieses Ereignis, nachdem es jahrzehntelang in der Geschichtsschreibung gar keine Rolle gespielt hat, plötzlich so präsent ist? Das, so Massimo Perinelli im folgenden Ge­spräch, liegt vor allem an einem Prozess von Selbstermächtigung und ­Selbst­organisation, zu dem auch das Schreiben der eigenen Geschichte gehört. Es gibt aber noch viel anderes, Wichtiges zu sagen. Bitteschön:

2021 reden alle über das Jubiläum des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens für sogenannte Gastarbeiter:innen in die BRD. Gleichzeitig gab es ja bereits 1955 und bis Mitte der 1960er weitere Abkommen. Wie kommt eigentlich dieser Jahrestag zustande und ist der an­gemessen?

Die Geschichte der Migration als prägend für dieses Land zu verstehen und Mi­gran­t:innen darin als zentrale Akteure zu begreifen ist historisch relativ neu und hat in erster Linie mit den sehr starken migrantischen Bürgerrechts- und Anerkennungskämpfen zu tun. Noch vor 20 Jahren hat die politische und gesellschaftliche Schickeria von Köln das 40-jährige Jubiläum gefeiert, gesponsert ausgerechnet von den Ford-Werken, während die vielen anwesenden Mi­gran­t:innen auf diesem Fest in der Kölner Philharmonie Sekt und Häppchen reichen durften. Das wäre heute nicht mehr möglich.

Dass das Anwerbeabkommen mit der Türkei von 1961 zum Anlass des Gedenkens genom­men wird und nicht z.B. das erste Abkommen mit Italien sechs Jahre zuvor, zeigt, dass der bundesdeutsche Blick auf ›die Ausländer‹ eine rassistische Verkürzung auf Menschen aus der Türkei ist. Dabei wäre es besser, den Blick zu weiten, nicht nur auf die anderen Abkommen der BRD mit Spanien, Griechenland, Jugoslawien, Südkorea, Marokko oder Tunesien, son­dern auch auf die Vertragsarbeiterabkommen der DDR mit Ungarn, Polen, Mosambik und schließlich 1980 mit Vietnam. Alle diese Gruppen machten je eigene Erfahrungen mit Aus­beutung und Diskriminierung, brachten aber auch spezifische Praktiken der Resilienz und des Widerstands mit, denen zu gedenken wertvoll wäre. Etwa die Erfahrungen der italienischen Gastarbeiter:innen mit Mietstreiks und Hausbesetzungen oder die gut organisierten Schatten-Ökonomien der vietnamesischen Vertragsarbeiter:innen, die dem SED-Regime echtes Kopf­zer­brechen verursachten. Auch wurden aus Südkorea vor allem Frauen angeworben, die u.a. im Gesundheitswesen eingesetzt wurden. Und aus Spanien oder der Türkei waren viele allein reisende Frauen unter den ersten Ankommenden, die nicht nur eine geschlechterspezifische Ausbeutung erfuhren, sondern als Frauen auch eigene Formen des Widerstands entwickelten. Die Art des reduzierten Gedenkens blendet diese Geschichten aus.

Die Fokussierung auf den Komplex Gastarbeit verschleiert ohnehin, dass die Anwerbung von fehlender Arbeitskraft logistisch und bürokratisch nahtlos an das System der Fremd- und Zwangsarbeit aus der Zeit des Nationalsozialismus anschloss. Auch damals brauchte Deutsch­land billige Arbeitskräfte. Sie kamen in den 1930er Jahren mit denselben Zügen auf denselben abgeriegelten Bahnhofsgleisen in München und Köln an und wurden auf dieselbe Weise auf LKWs verfrachtet und in die jeweiligen Werksbaracken gepfercht wie die Gastarbeiter:innen nur wenige Jahre später. Heute zitiert man augenzwinkernd den Spruch, »man rief Arbeiter, aber es kamen Menschen« – eine humanistische Erkenntnis der 1960er Jahre – und übersieht darin die deutsche Tradition, den Arbeiter:innen aus anderen Ländern keine Menschenwürde zuerkannt zu haben, dass sie vielmehr gedemütigt, entmenschlicht und vernutzt wurden.

Über 2 Millionen Gastarbeiter:innen wurden über das Abkommen angeworben. Was hatte das zur Folge, wie haben sie die Arbeitsbeziehungen in der BRD verändert?

Die Ära Gastarbeit fällt in die Zeit des deutschen Wirtschaftswunders, d.h. in den massiv geförderten Wiederaufbau der hiesigen Wirtschaft durch die Westanbindung der BRD. Als mit der Weltwirtschaftskrise Anfang bis Mitte der 1970er Jahre das Wunder vorbei war, wurden auch die Verträge gekündigt und diese Ära beendet. Die Anwerbeabkommen hatten dabei von vornherein nicht so sehr dem Ziel gegolten, Arbeitskräfte ins Land zu bekommen, sondern die ohnehin stattfindende Migration zu lenken und zu regulieren. Tatsächlich fürchteten viele der Länder, in denen die BRD Außenstellen ihrer Arbeitsämter eröffnet hatte, in denen auch die Gesundheitsuntersuchungen stattfanden sowie die Arbeitsverträge mit den verschiedenen Firmen abgeschlossen wurden, die unkontrollierte Abwanderung der Arbeits­kräfte. Sowohl Deutschland als auch die Herkunftsländer wollten die Kontrolle über ihre Bevölkerungen und deren Mobilität nicht verlieren. Es ist wichtig zu betonen, dass durch die Anwerbeabkommen Migration nicht ausgelöst wurde, sondern dass die bilateralen Abkom­men der Regulation und Begrenzung der Autonomie der Menschen galten, d.h. der Ver­hinderung, das eigene Leben selber in die Hände zu nehmen.

Außerdem war vor allem in den autoritären Regimen und Diktaturen auch die politische Souveränität durch die Abwanderung gefährdet, etwa im frankistischen Spanien oder in der Militärdiktatur Griechenlands, aus denen sich viele Dissident:innen und Linke davonmachten. Spanien z.B. war hin- und hergerissen zwischen dem Bedarf an Devisen einerseits und andererseits der Furcht vor der Fluchtmöglichkeit für Regimegeg­ner:innen durch das Mittel des Anwerbevertrags. Auch die Selbstbestimmung vieler ausreisender lediger Spanierinnen widerstrebte der antifeministischen Biopolitik der faschistischen Regierung extrem. In Deutsch­land wiederum rang der liberale Wirtschaftsflügel der Regierung mit dem Sicher­heitsflügel der Innenministerien um den Konflikt zwischen Arbeitskräftebedarf, dem rassistischen Ressentiment der Bevölkerung und der Angst vor dem Verlust der inneren Ordnung. Letztere wurde ja in der Tat von den Migran­t:innen ordentlich durchein­ander­gewirbelt, indem sie in das bleierne postnazistische Deutschland demokratische Impulse brachten.

Was hatte die veränderte Klassenzusammen­setzung zur Folge? Welche Perspektiven für Kämpfe und Solidarität sind daraus entstanden?

Migrantische Arbeit stand für den Typus des ungelernten Massenarbeiters und der Massen­arbeiterin in der Industrie und im Bergbau, und während den heimischen Arbei­ter:innen derweil ein Klassenaufstieg gelang, wurde ihre Arbeitskraft extrem ausgebeutet und sie wurden in eigens geschaffenen sogenannten Leichtlohngruppen miserabel bezahlt. Als sich im Zuge der Liberalisierung des Landes in den 1960er und 1970er Jahren dann die Hochschulen öffneten, konnten nun die Kinder der deutschen Arbeiterklasse massenhaft an die Unis gehen und darüber ihre Klasse verlassen, während die Oberschulen für die Kinder der Gast­arbeiter:innen verschlossen blieben: Sie landeten in der Regel erstmal auf der Hauptschule. Die mate­rielle Grundlage für die sozialdemokratische Öffnung und Durchlässigkeit der Ge­sell­schaft war die Ausbeutung der migrantischen Arbeit. Dies wird in der Geschichts­erzählung zur Liberalisierung dieses Landes gerne vergessen. Ebenso wird vergessen, wie sich der demokratische Aufbruch Ende der 1960er Jahre, die sog. Studentenrevolte, die migrantischen Lebenswelten für die Entfaltung ihres ausschwärmenden Begehrens zu Nutze machte. Die Struktur rassistischer Unterschichtung hatte sich bereits Mitte der 1960er Jahre in Italien gezeigt, wo der neue Typus des ungelernten Massenarbeiters und der -arbeiterin aus dem Süden des Landes in den Industrien Norditaliens den Aufstand probte. Schon damals waren die militanten Betriebskämpfe weit mehr als bloße Lohnkämpfe. Es waren vor allem Kämpfe gegen das Fabriksystem, d.h. gegen die Arbeit an sich. Und diese Erfahrungen sowie das Wissen um die eigene Funktion für den Aufbau der europäischen Schwerindustrie nach dem Zweiten Weltkrieg brachten die Gast­arbeiter:innen mit in den europäischen ­Norden. Dabei führten sie nicht nur neue Kampfformen in die Betriebe ein und überzogen zwischen 1968 und 1973 die westdeutschen Industrien mit einer Welle wilder Streiks und militanter Arbeitskämpfe, sondern sie verbanden die Betriebskämpfe mit ihrer generellen Situation der gesellschaft­lichen Exklusion und verknüpften Lohnkämpfe mit sozialen Forderungen, die ihr ganzes Leben thematisierten und die eine »viel weiterreichende Rebellion gegen die eigene Lage der Unterordnung und Diskriminierung, gegen die eigene Emigrantensituation« dar­stellte, wie es die italienische, auch in Deutschland aktive, Gruppe Lotta Continua 1974 ausdrückte. So wurde während der Streiks nicht nur mehr Lohn gefordert, sondern auch mehr Urlaub, ein Haushaltstag, bessere Unterkünfte und ein Ende der rassistischen Diskrimi­nierung. Diese Kämpfe weiteten sich aus auf Mietstreiks; die ersten besetzten Häuser in Frankfurt wurden 1972 von migrantischen Gastarbeiterfamilien besetzt. Durch informelle und solidarische Strukturen wurden Geschäfte und Restaurants gegründet und die maroden Innen­städte auf eigene Kosten instandgesetzt. Es waren genau diese Orte, in denen die bundes­deutsche linke Gegenkultur ihre Ermöglichungsorte finden konnten: Wohngemeinschaften, selbstverwaltete Kinderbetreuung, Kollektivbetriebe, Hausbesetzungen, Stadtteilzentren, zwanglose und von den »dicken braunen Saucen« befreite Gastronomie und antibürgerliche Aneignung des öffentlichen Raums waren allesamt Praktiken, die von den Migrant:innen gelernt und übernommen wurden und in deren Milieus die Kinder der Nazieltern ihre neuen Beziehungsweisen ausleben konnten. In der linken Geschichtsschreibung fehlt das Wissen um diese Verbindung allerdings bis heute.

Im Jahr 1973 beteiligten sich mindestens 275.000 migrantische Arbeiter:innen und Ange­stellte in rund 335 Betrieben spontan und unabhängig von den Gewerkschaften an wilden Streiks, u.a. in Osnabrück beim Karosseriewerk Karmann, bei John Deere in Mannheim, beim Vergaserhersteller Pierburg in Neuss, AEG in Neumünster, bei den Deutschen Telefonwerken in Rendsburg, den Hella-Werken in Lippstadt und bei Ford in Köln. Muss die bundesdeutsche Arbeitskampfgeschichte ­eigentlich neu geschrieben werden?

Diese Geschichte ist bereits geschrieben worden, aber sie wird marginalisiert, weil die deutschen Gewerkschaften – trotz der vielen Aufbrüche und Interventionen der letzten 20 Jahre – weiterhin im Konnex des national-sozialen Wohlfahrtsstaates verhaftet sind. Migra­tion bleibt in dieser Logik immer ein Problem, deren ausgebeutete Subjekte zwar trade-unionistisch organisiert, in ihrer klassenkämpferischen Qualität aber ignoriert bzw. gefürchtet werden. Es bleibt die Bewirtschaftung des tariflich abgesicherten Normalarbeitsverhältnisses in den Koordinaten nationaler Umverteilungslogik. Migration, also die Herausforderung des Grenzregimes und damit der Verknüpfung von Staatsbürgerschaft und Bürgerrechten, sehen die Gewerkschaften bis heute kaum als Chance für einen transnationalen Klassenkampf, son­dern vielmehr als Problem ihrer Organisierung im Rahmen des historischen Klassen­kompromisses des 20. Jahrhunderts. Der Betriebsfrieden bedeutete einen heimischen Pakt auf Kosten der Gastarbeiter:innen. Die Bedingung für die Wohlstandsverteilung war indes die Ausbeutung der migrantischen Arbeitskraft und eben dafür musste der allgemeine Frieden erhalten bleiben. Deswegen passten die wilden Streiks in den frühen 1970er Jahren nicht in die Strategie moderater Umverteilung des Reichtums bei gleichzeitiger Wahrung der Interes­sen des Kapitals.

Der Kampf gegen das Fabriksystem konnte den Gewerkschaften naturgemäß nur ein Dorn im Auge sein und sie bekämpften diese Art von Streiks entschieden. Entsprechend solidari­sierten sich die deutschen Beschäftigten selten, denn, wie Bahar Targün, der charismatische Anführer des Ford-Streiks von August 1973 es ausdrückte, die Deutschen hatten bereits die »eine Mark mehr«, die die streikenden Migrant:innen forderten. Nur wenige Gruppen in der hiesigen Linken begriffen den fortgeschrittenen und avantgardistischen Charakter der Kämpfe um das ganze Leben und ließen sich wirklich auf die neuen Formen der Revolte ein. Die gewaltsame Beendigung des Ford-Streiks, bei dem die deutschen Arbeiter zusammen mit der Polizei den Streik buchstäblichen zerschlugen, während die Gewerkschaften sich ent­solidari­sierten, die Presse mit Schlagzeilen wie »Türkenterror« hetzte und der Staat die Streikenden verfolgte und abschob, zeigte den massiven gesellschaftlichen Rassismus, dem die migran­tischen Arbeiter:innen gegenüberstanden.

All das hatte seine Auswirkungen auf das Erinnern oder besser das Vergessen-Machen jener Erfahrungen, und doch haben sie, auf manchmal verschlungenen Pfaden, ihr unauf­haltsames Echo in der Geschichte, wofür nicht zuletzt die nachfolgenden Generationen mit ihren Fragen an die Älteren Rechnung tragen. Und es ist sicherlich einen Gedanken wert, ob nicht die Art des Erzählens, der Bezugnahme und sozialen Weitergabe der Erfahrungen der damaligen Kämpfe einen inhärent politisch queeren Kern hat, der im Gegensatz zum hetero­normativen und gewaltförmigen Repressions- und Ausgrenzungsapparat stand. Vielleicht konnten die damaligen sozialen Streiks auch deshalb ein dezidiert anderes Register spielen und gegebene Beziehungsweisen praktisch in Frage stellen. So ist besonders spannend und noch immer viel zu wenig besprochen, dass die erfolgreichen Streiks jener Jahre, wie etwa der Streik in den Hella-Werken in Lippstadt oder bei Pierburg in Neuss, vor allem von migran­tischen Frauen durchgeführt wurden, die es noch einmal anders verstanden, den Kampf aus der Fabrik herauszutragen und eine breite lokale Solidarisierung zu erzeugen, die auch die rassistische Spaltung innerhalb der Betriebe überwinden und damit ihre Forderungen realisieren konnte.

Jenes Momentum zeigt sich auch darin, dass sich am Ende die Gewerkschaften durch die Phase der wilden Streiks, die das Ende der fordistischen Ära markierten, dennoch transfor­miert haben, weil die Kinder der Ersten Generation der kampfeslustigen Gast­arbeiter:innen die Gewerkschaften neu untersetzten und veränderten. Das gebrochene Verhältnis zu Migra­tion besteht in den Gewerkschaften jedoch bis heute.

Das erinnert stark an die Geschichte der osteuropäischen Arbeiter:innen auf Baustellen in der Fleischindustrie. Hat sich gar nix geändert?

Stimmt, die Situation der Pendel-Migran­t:innen in den großen Fleischindustrien, der Saison­arbeiter:innen in der Landwirtschaft, der illegalisierten Arbeiter auf den Baustellen, der vielen ausgebeuteten Migrant:innen bei Amazon oder Zalando oder der prekarisierten Selbstunter­nehmer:innen des Plattformkapitalismus, etwa bei den Lieferdiensten wie Lieferando oder Gorillas, ist gleichbleibend elendig. Betriebliche Organisierung ist schwierig, dennoch sind wilde Streiks etwa in der Fleischindustrie, bei den Sicherheitsfirmen an den Flughäfen oder den Fahrradkurier:innen an der Tagesordnung und oftmals überraschend erfolgreich – aber bisher gab es kaum öffentliche Aufmerksamkeit dafür. Das hat sicherlich auch mit der neuen Zusammensetzung der migrantischen Arbeitnehmer:innen zu tun; osteuropäische Pendler:in­nen, rumänische Saisoniers, die vielen sogenannten Euromover aus dem europäischen Süden oder die vielen und in sich sehr heterogenen ehemals Geflüchteten sind diverser, als es die damaligen Gastarbeite­r:innen waren, sicherlich auch politisch. Wie hier eine verbindende Klassenpolitik aussehen kann, wird eine entscheidende Frage der Zukunft sein.

Um auf Deine Bemerkung zurückzukommen: Wie hat sich das Verhältnis von Gewerkschaften und Gastarbeiter:innen entwickelt und verändert?

Sicherlich hat sich sehr viel verändert in den Gewerkschaften, was natürlich auch in ihrer sich zunehmend verändernden Zusammensetzung liegt. Und sicherlich würde niemand mehr aus diesen Strukturen migrantische Beschäftigte öffentlich als Lohndrücker bezeichnen, wie es der DGB noch 1955 an­lässlich des ersten Anwerbeabkommens mit Italien formulierte. Der Dachverband begründete damals seine Ablehnung kaum, schien doch das Offensichtliche auf der Hand zu liegen, nämlich, dass »keine Gewerkschaft eines Landes sich mit Hereinströmen von Arbeitskräften aus dem Ausland einverstanden erklären könne, solange im eigenen Land noch eine nicht unbeträchtliche Zahl von Arbeitnehmern arbeitslos oder in Kurzarbeit ist.« Andererseits war der Organisationsgrad und die Kampfbereitschaft der oft linken Gastarbei­ter:innen in den 1970er Jahren hoch und ihre betrieblichen Strukturen genossen Vertrauen unter den Beschäftigten. Aber die sogenannten Gastarbeite­r:innen organisierten sich oft an den gewerkschaftlichen Strukturen vorbei, was deren institutionelle Logik der alleinigen Vertretung der Arbeitnehmer:innen herausforderte und schwächte. So setzten, wie auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen, auch die Gewerkschaften zunehmend auf die Integra­tion der ausländischen Arbeiter:innen, was einerseits der Stärke der migrantischen Organisie­rung geschuldet war, andererseits aber auch einen Versuch darstellte, die Kämpfe der Migration einzuhegen und zu regulieren.

In den 1980er Jahren öffneten sich die Gewerkschaften dann immer weiter gegenüber migrantischen Strukturen, deren Teilhabe stark anstieg. Die gewerkschaftliche Kampagne »Mach’ meinen Kumpel nicht an!« von 1986 wurde ein wichtiger Slogan gegen Rassismus. Nach dem Mauerfall im Angesicht der rassistischen Konjunktur der deutschen Vereinigung verstärkte sich die migrationspolitische und antirassistische Ausrichtung innerhalb der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit noch weiter. Die frühe Forderung nach einem Einwande­rungs­gesetz durch die IG Metall 1991 war ihrer Zeit ­voraus.

Auf die neoliberale Aufweichung des Normalarbeitsverhältnisses und die Aufkündigung des historischen Pakts der Sozialdemokratie mit den Gewerkschaften im Zuge der Agenda 2010 unter Rot-Grün hatten die Gewerkschaften in den 2000er Jahren wenige Antworten. Jedoch intervenierten zunehmend prekär Beschäftigte aus den deregulierten Arbeitszweigen, die mehr und mehr zur Arbeitsrealität vieler Menschen wurden. Illegalisierte forderten gewerk­schaftliche Vertretung und stürmten Gewerkschaftsversammlungen. Sie standen für ein Umdenken in der Klassenanalyse, wie es schon in den wilden Streiks der 1970er Jahre in der Eroberung des ganzen Lebens und der Infragestellung der Arbeit an sich angelegt war. Illegalisierte und migrantische Gruppen gingen damals kraftvoll und mit neuen politischen und theoretischen Werkzeugen am Mayday auf die Straße und brachten notwendigen Schwung in die drögen und vor allem sehr deutschen 1. Mai-Bratwurstfeste der Gewerk­schaften.

Es ist also einerseits viel passiert, andererseits sehe ich die Gewerkschaften immer noch dem vergangenen fordistischen Klassenkompromiss des 20. Jahrhunderts hinterherrennen. Gleichzeitig gibt es zunehmend viele Kolleg:innen in diesen Strukturen, die dem Neolibera­lismus auf der Höhe der Zeit entgegentreten wollen und die Rolle der Gewerkschaften darin neu zu definieren suchen. Das schließt auch eine veränderte Haltung gegenüber Migration ein bzw. setzt diese ­voraus.

Noch einmal zurück. 1985 schafft Günther Wallraff mit seinem Buch »Ganz unten« breiten­wirksam rezipierte Transparenz über die miserablen Arbeits- und Lebensbedingungen der Gastarbeiter:innen. Worauf führst Du den Erfolg zurück?

Haha, stimmt, »Ganz unten« war neben »Baader-Meinhof Komplex« und »Kinder vom Bahnhof Zoo« Pflichtlektüre in den ­liberalen Haushalten der 1980er für die Begegnung mit den gesellschaftlichen Rändern. Mit dem Wallraff-Buch fuhren die ­Bildungsbürger hautnah – d.h. in dunkel angeschmierter Haut, mit schwarzgefärbten ­Haaren und gedunkelten Kontaktlinsen camoufliert – unter Tage und erlebten den empörenden Grusel von etwas, für das es in den 1980er Jahren noch keinen Begriff gab, was aber heute jedes Kita-Kind selbst­ver­ständlich als Rassismus bezeichnen könnte. Das Problem an diesem Enthüllungsskandal war, dass er die breite und starke migrantische Bürgerrechtsbewegung der 1980er Jahre unsichtbar machte. Bereits nach dem Anwerbestopp der Regierung Willy Brandt 1973 unter Innenminister Helmut Schmidt wurden die nun einstigen Gastarbeiter:innen massiv gedrängt, das Land zu verlassen. Als sich Anfang der 1980er Jahre die Stahlkrise voll ­entfaltete und die großen Zechen ihre Tore schlossen und die alten industriellen Zentren an Rhein und Saar sich allmählich in Armutsgebiete verwandelten, plante die Regierung Kohl die Halbierung der türkeistäm­migen Bevölkerung in Deutschland. Sie schufen 1983 das sog. »Hau ab-Gesetz«, das aus einer Mischung aus Anreizen und Repressalien bestand. Flankiert wurde diese Initiative von einer Welle rassistischer Gewalt, die Anfang der 1980er Jahre unter der Parole »Türken raus« eine Reihe von Brandanschlägen und tödliche Angriffe auf migrantisches Leben mit sich brachte. Der Spiegel machte 1983 den Zusammenhang zwischen Regierungs­handeln und rechten Anschlägen deutlich, in dem er schrieb, dass »Innenminister Friedrich Zimmermann mit seinen rigorosen Plänen und Bemerkungen zur Ausländerpolitik den Rechts­radikalen täglich Futter liefere.« Wallraffs Buch und ebenso die »Mach’ meinen Kumpel nicht an!«-Kampagne der Gewerkschaften kann auch als eine Antwort auf diese Gewalt gesehen werden.

Eine noch deutlichere und bessere Antwort waren allerdings die Organisationsformen und Widerstandspraktiken der Migrant:innen selbst. Sie mussten sich gewissermaßen entscheiden, ob sie in der zugespitzten rassistischen Konjunktur ihre Koffer packen oder hier für ihre Rechte kämpfen sollten. Sie entschieden sich für letzteres, setzten die maroden Häuser der verfallenen Innenstädte auf eigene Kosten instand, in denen sie eigentlich nur temporär wohnen sollten, bevor sie in ihre Heimaten zurückkehrten und diese Stadtteile der stadt­baulichen Planung einer Abrisssanierung weichen sollten. Das Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg ist ein Beispiel für diese Art der Planung. Aber die ehemaligen Gastarbeiter:innen bewahrten die Altbauten und gründeten – nachdem sie zu zigtausenden aus den Industrien entlassen wurden – eigene Geschäfte und Familienbetriebe, wie in der Keupstraße in Köln-Mülheim. Politisch wurde in den 1980er Jahren auch das Thema Asyl bestimmend, vor allem vor dem Hintergrund der Militärdiktatur in der Türkei und dem Mullah-Regime im Iran. Die massenhaften Demonstrationen nach dem Freitod von Kemal Altun, der sich 1983 mit einem Sprung aus dem sechsten Stock des Berliner Verwaltungsgerichts seiner Auslieferung in die Folterzentren in der Türkei entzog, stehen sinnbildlich dafür. Zudem stand der Protest gegen das sog. Ausländergesetz ganz oben auf der Tagesordnung. Auch die Forderung nach politischer Partizipation, etwa dem kommunalen Wahlrecht, wurde lautstark erhoben. Massen­demonstrationen, die die umfassende Diskriminierung skandalisierten, waren all­gegen­wärtig. Man kann sagen, dass die größte linke Bewegung in den 1980er Jahren migran­tisch war. Es bedurfte also eigentlich keines Wallraff, um zu erfahren, wie die Lage der – wie es damals noch hieß – Ausländer aussah.

Ende der 1990iger Jahre hast du mit anderen den politischen Zusammenhang Kanak Attak mit dem Ziel »keine Integration« gegründet, während vorher Kämpfe mehr Ressourcen für Integration durchzusetzen versucht haben. Ist das nicht kontrainuititv? Warum und mit welchem Ziel habt ihr eure Politik gemacht?

Dazu ist notwendig, das Moment der deutschen Vereinigung zu verstehen. Der Mauerfall kappte viele Kontinuitätslinien der migrantischen Bürgerrechtsbewegung. Themen wie Wahlrecht und andere Dinge verschwanden im Strudel der beispiellosen Gewalt der frühen 1990er Jahre, in denen täglich Brandanschläge, Zusammenrottungen rassistischer Mobs und Angriffe gegen alles, was als nicht-deutsch galt, stattfanden. Diese Jahre waren die Jahre der Selbstverteidigung, aber auch der endgültigen Entscheidung, sich nicht vertreiben zu lassen und damit wirklich zu Einwanderer:innen zu werden. Waren die vielen migrantischen Vereine und Gruppen vor der Wende noch stark exilpolitisch geprägt, also mit einem hohen Augen­merk auf die Verhältnisse in ihren Herkunftsländern und in diesem Sinne diasporisch, wurde nach der Wende der Fokus primär auf die hiesigen Verhältnissen gelenkt. Die Kinder­generation der Gastarbeiter:innen, die nun junge Erwachsene waren, organisierten sich gegen Rassismus. Oft noch politisch geschult in der ML-Rhetorik ihrer Eltern vollzogen sie eine Veränderung in ihrem Verständnis von Zugehörigkeit. Sie verstanden sich nicht mehr als »Fremde im eigenen Land«, aber auch nicht mehr als Exilant:innen eines anderen Landes, sondern zunehmend als etwas bis dato völlig Neues: als Migrant:innen von hier. Diese neuen hybriden Subjektivierungen brachten auch einen ungeheuren Schub neuer Diskussionen und Theoriebildungen mit sich. Man lehnte als Migrant:innen die Konzepte von Integration ab und versuchte als – wie wir heute sagen würden – postmigrantische Akteure den Takt vorzugeben. Im Rap, in neuer Literatur, in neuen Filmen oder in neuen Theaterformaten entstand eine gänzlich andere Vorstellung davon, was Zugehörigkeit bedeuten könne. Politisch wurde die Autonomie der Migration zur bestimmenden transformatorischen Kraft erklärt und theoretisch löste das postmoderne Konzept der Multitude alte Vorstellungen von Zentrum und Peripherie ab. Dem Kitsch nationaler Befreiungsbewegungen setzten damals die Zapatistas trans­nationale Solidarität entgegen und luden alle ein, mit ihnen politisch zu diskutieren. Das alles hatte tiefgreifende Implikationen und einen ungeheuren Effekt auf die hiesige Gesellschaft, die dem Kanakischen nacheiferte bzw. sich davon affizieren ließ.

Damit einher ging nun ein Verständnis, dass Deutschland ein Einwanderungsland und somit unwiderruflich migrantisch geprägt sei. CDU und NPD organisierten Unterschriften­listen gegen die doppelte Staatsbürgerschaft und überall liefen die Rassist:innen von der sog. gesellschaftlichen Mitte bis hin zum Thüringischer Heimatschutz und dem NSU Sturm gegen diese neue Realität, und tun dies bis heute – trotz aller Gewalt jedoch vergeblich.

Dieses neue Selbstverständnis und -bewusstsein, für das Gruppen wie u.a. Kanak Attak standen, bedeutete das Gegenteil zum herrschenden Integrationsdispositiv. Integration wurde beginnend ab den 1970ern, dominant aber seit den 2000er Jahren, als ­Antwort auf die kollektiven Kämpfe der Migration um soziale und politische Rechte in Stellung gebracht. Integration war sozusagen eine Gegenstrategie der Mehrheitsgesellschaft, die zwar die gemeinsamen Forderungen der Migrant:innen nach gleichen Rechten theoretisch anerkannte, sie aber faktisch in eine individualisierende Gegenforderung übersetzte. Im Integrations­dispositiv konnten nun allerlei beliebige Bedingungen – Deutschkenntnisse, bestimmtes kulturelles Verhalten, allgemeines Wohlverhalten – gestellt und mit einem Versprechen auf Partizipation verknüpft werden. Integration war und ist also eine Strategie zur Selbstent­waffnung der migrantischen Bürgerrechtsbewegung und ihre Überführung in ein System des individuellen Scheiterns oder auch Erfolgs. Ein sehr effizienter Trick zur Rückgewinnung der Kontrolle über migrantisches Leben, der sich tief in migrantische Alltagspraktiken ein­geschrieben und zur vereinzelnden Selbstoptimierung auf Kosten kollektiver Organisierung geführt hat. Mit dem Zugang zu Ressourcen hat Integration nichts zu tun.

In der Vergangenheit war die Jährung der Anwerbeabkommen kaum eine Medienmeldung wert. Erst 1999 wird überhaupt das erste Mal der Begriff Zuwanderungsland benutzt. In den letzten Tagen und Wochen haben dementgegen eine ganze Reihe von Berichten und auch öffentliche Festakte dazu stattgefunden (Tipp aus der Redaktion: die Veranstaltung des DGB vom 1. November 2021 auf https://youtu.be/heewMSbKXRs anschauen!), auf denen hoch­rangige Politiker:innen Dankesreden gehalten haben. Hat sich das Verhältnis der Deutschen zu ihrer Einwanderungsgeschichte verändert?

Ende der 1990er Jahre fehlte eine Geschichtsschreibung über Einwanderung und migran­tisches Leben in Deutschland völlig. Kanak Attak und viele andere der Zweiten Generation Gastarbeiter:innen hatten deswegen Ende der 1990er Jahre viel Recherche betrieben, sind in Archive rein, haben Nachrichten zusammengetragen, vor allem aber aus unzähligen Gesprächen mit der 1. Generation eine Erzählung begonnen. Als wir im Jahr 2000 an der Berliner Volksbühne die Geschichte der Anwerbung, der Arbeits- und Lebensbedingungen, des Rassismus, vor allem aber der unzähligen massenhaften Widerstandspraktiken erzählten, war diese Geschichte, also die Geschichte unserer eigenen Eltern, den anwesenden jüngeren Kanaks völlig unbekannt. Mit den Selbstverteidigungskämpfen der 1990er ging also eine Geschichtsschreibung einher, die bisher fehlte. Die Ausstellung »Projekt Migration« von 2005 oder die Etablierung des DoMiD in Köln zu einem großen lebendigen Archiv und damit verbunden die ersten wissenschaftlichen Arbeiten von Migrant:innen selber – über Gastarbeit, die Phase der wilden Streiks etc. – waren allesamt historiographische Interventionen. Als 2012 die Aufarbeitung zum NSU-Komplex gemeinsam mit den Betroffenen begann, ging das gleichsam mit einer historischen Erzählung zusammen. Betroffene und Überlebende der frühen 1990er Jahre machten den Angehörigen der Opfer angesichts der eigenen jahrzehnte­langen Geschichte des Widerstands Mut, zu sprechen. Es war klar, wir können den Nazi-Terror nur verstehen, wenn wir verstehen, was dieser rückgängig machen möchte, nämlich die Migrantisierung dieses Landes; daher die Zerstörung der Keupstraße, daher die Angriffe auf die Kleinunternehmer:innen. Sich gegenseitig die Geschichte der Einwanderung zu erzählen, die eine Geschichte der Kämpfe, der Resilienz und der gesellschaftlichen Transformation war, hatte erst die Kraft gegeben, sich der Gewalt des strukturellen Rassismus im NSU-Komplex machtvoll entgegenzustellen. In dieser Organisierung, die heute in Hanau und Halle auf einem neuen Niveau realisiert wird, steht die Erinnerung ganz weit vorne. #saytheirnames ist eine Aufforderung, in die Vergangenheit zu schauen, um eine andere Zukunft zu erringen. Die Perspektive der von Rassismus betroffenen Gruppen wurde in den letzten Jahren zentral gestellt und ihr Gedenken – etwa an den vielen realisierten oder noch geforderten Mahnmalen – organisiert. Gleiches ist auch mit der Erinnerung aus migrantischer und jüdischer Per­spektive auf den Mauerfall entstanden oder mit den starken erinnerungspolitischen Inter­ventionen zu der Geschichte der Migration in der ehemaligen DDR. Vor diesem Hintergrund erklärt sich der heutige Blick auf die Zeit der Anwerbung, in der diesmal die Perspektive derjenigen, die vor 60 Jahren in dieses Land kamen, in den Vordergrund gerückt wird. Das Verhältnis der Deutschen hat sich stark verändert, weil sich verändert hat, wer Deutsche:r ist. In der postmigrantischen Gesellschaft gibt es eben keine Deutschen und Nichtdeutschen mehr, sondern alle sind durch und durch transna­tional eingebunden und kulturell migran­tisiert. Alle, die hier sind, sind von hier, das haben leider noch nicht alle Leute verstanden. Und die Gesellschaft wird ja auch weiterhin rassistisch geordnet und ausbeuterisch hierarchi­siert. Es gibt also keine echte postmigrantische Gesellschaft im Kapitalismus. Die Gesell­schaft der Vielen, für die wir kämpfen, kann daher nur eine solidarische, eine kommunistische sein – sie ist eine Wette auf die Zukunft, die um die Möglichkeit ihres Scheiterns weiß.

Folgt man den aktuellen öffentlichen Debatten, fühlt sich die dritte Generation der Einwan­der:innen gesellschaftlich ausgeschlossener als ihre Eltern- und Großelterngeneration. Wie kommt dieser Eindruck zu Stande? Wo stehen wir heute?

Das Integrationsdispositiv zwingt uns in neoliberaler Weise in eine Vereinzelung, nicht zuletzt, weil auch die Linien der Segregation heutzutage feinverästelt und differenziert ver­laufen. Darüber wurde verlernt, Gesellschaft als Ganzes überhaupt noch denken zu können. Diskriminierung und Rassismus werden damit nicht nur entkontextualisiert und enthis­torisiert, sondern vielfach primär als persönliche Demütigung – als narzisstische Kränkung – erfahren. Folglich geht es bei den widerständigen Politiken immer seltener um den Umsturz der Verhältnisse, sondern um Anerkennungsforderungen. Bei migrantischen Gruppen steht die Forderung weit vorne, Räume hätten weniger weiß zu sein, also nach mehr Repräsentation. Das führt zu Diversity-Politiken, wie sie gegenwärtig die Grünen anbieten, während ihre Migrationspolitik marktliberal und reaktionär ist. Am strukturellen Rassismus ändern Gesten der Diversität wenig, im Gegenteil verschleiern sie ihn eher, weil es nicht mehr darum geht, was in diesen Räumen gesprochen wird, sondern wer dort redet – und wie dort geredet wird. Hinter den codierten Sprachpolitiken der Sensibilität verbirgt sich der in der transgenerationalen Erfahrung des Rassismus begründete Wunsch nach eigenen abgegrenzten Räumen, sowie danach, ein Werkzeug zu besitzen, diese nach außen zu verteidigen. Aber es verbirgt sich darin auch die Zuschreibung der Mehrheitsgesellschaft und die Angst, dieser zu widersprechen und die Verhältnisse selbst radikal infrage zu stellen. Es zeigt sich darin die Macht neoliberaler Vereinzelung und auch, dass die jüngere Generation zunehmend den Faden zu den vergangenen Kämpfen und damit zum kritischen Denken verloren hat, an den sich die Möglichkeit knüpft, sich mit den vergangenen Kämpfen im Rücken eine andere Zukunft vorzustellen und für diese einzutreten. Der Grund dafür ist nicht zuletzt das historische Scheitern der älteren Linken und die Schwierigkeit, dieses zu überwinden.

Die heute so stark hervortretenden Iden­titätspolitiken und die Versuche einer Rück­versicherung in die vermeintlich eigenen Communities können dann auch als Ausdruck dieses Kontaktverlusts und der Suche nach Verbindung verstanden werden, die allerdings droht, genau den radikalen Punkt der damaligen Kämpfe, ja, des Postmigrantischen überhaupt, zu verpassen: Die Erfahrung der wilden Streiks war ja, dass Solidarität niemals mit Gleichen, sondern nur mit radikal Verschiedenen geht. Die Streikenden verkörperten – indem sie das Risiko eingingen, diejenigen zum Aufbruch herauszufordern und sich ihnen in den Weg zu stellen, die ihnen die Solidarität zunächst verweigerten – eine Neugierde auf den und die Andere. Von der Unterbrechung der Routine ließen sich damals viele anstecken. Der Mut der Gastarbeiter:innen trieb auch den deutschen »Muff« ins Offene und Unbekannte, ins Unsichere und Ungesicherte und in die Suche nach neuen Lebensweisen, wenigstens ein kleines Stück. Was wir indes heute vergegenwärtigen ist die Krise neoliberaler Subjekte – eine Tragödie.

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* Massimo Perinelli ist Historiker und Referent für Migration bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Er ist langjähriges Mitglied von Kanak Attak, Mitbegründer der Initiative »Keupstraße ist überall« und hat das Tribunal »NSU-Komplex auflösen« von 2017 und 2019 mitinitiiert.

 

 

 

 

 

Interview von Karin Zennig in erschien in: express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit – 11/2021
express im Netz und Bezug unter: www.express-afp.info  
Email: express-afp@online.de

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