Forderungen an die künftige Bundesregierung – Energiearmut beenden

Von Florian Schilz – Tacheles Onlineredaktion

Die Energiepreise steigen schon seit Jahren kontinuierlich an[1] und damit auch das Risiko von Energiearmut. Bereits 2008 waren 21,5 % der Haushalte in Deutschland von Energiearmut betroffen. Unter den Haushalten, die Grundsicherungsleistungen (nach dem SGB II und SGB XII) bezogen waren es 91,3%, unter den Wohngeldbeziehenden fast 73%[2]. Die durchschnittlichen Kosten für Haushaltsstrom sind seitdem um 47,2 % gestiegen, während die Regelbedarfe der Grundsicherung, aus denen Leistungsbeziehende diese Kosten zahlen müssen, im selben Zeitraum um lediglich 27,1 % angehoben wurden. Dass die Höhe der Regelbedarfe im Allgemeinen, und der darin enthaltene Anteil für Haushaltsenergie im Speziellen vollkommen unzureichend sind, wurde bereits in zahllosen Studien belegt und von Betroffenen- und Wohlfahrtsverbänden immer wieder kritisiert[3].

Folgen dieser Bedarfsunterdeckung sind Verschuldung und insbesondere Stromsperren (289.012 im Jahr 2019[4]). Knapp die Hälfte der Stromsperren entfallen auf Haushalte, die Leistungen der Grundsicherung beziehen[5] und bedeuten für die Betroffenen, das elektrische Geräte nicht nutzbar sind, sie wortwörtlich im Dunkeln sitzen, da sie abends kein Licht haben, kein warmes Essen zubereiten können, keine Lebensmittel kühlen, z.T. kein warmes Wasser haben und teilweise auch nicht mehr heizen können.

Diese Zahlen belegen, dass die Leistungen der Grundsicherung (nach SGB II, SGB XII und AsylbLG) offensichtlich nicht ausreichen, um das materielle Existenzminimum in Bezug auf anfallende Energiekosten zu decken. Der Anteil des Regelbedarfs, welcher zur Deckung der Stromkosten vorgesehen ist, ist deutlich zu niedrig bemessen. Gleichzeitig erfolgt die Neuberechnung der Regelbedarfe auf Grundlage der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) nur alle 5 Jahre – dazwischen erfolgt eine jährliche Fortschreibung gem. § 28 a SGB XII -, so dass eine kurzfristige Reaktion und Anpassung der Regelbedarfe, z.B. bei sprunghaft ansteigender Energiepreise, nicht möglich ist. Auch dass Leistungsbeziehende häufig höhere Energiebedarfe haben, z.B. aufgrund alter, ineffizienter elektronischer Geräte, schlecht isoliertem Wohnraum und Energiebelieferung durch den (teureren) Grundversorger (ein Wechsel zu einem anderen Energielieferanten ist z.B. wegen einem negativen Schufa-Eintrag oft nicht möglich)[6], findet keine Berücksichtigung bei der Bemessung der Leistungshöhe.

Angesichts immer weiter steigender Kosten für Heizung und Strom und damit einhergehend wachsender Energiearmut, fordern wir die zukünftige Bundesregierung auf, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen.

Folgende Änderungen sind dabei aus unserer Sicht notwendig:

  • 1. Angemessenheitsgrenzen anhand des Verbrauchs statt der Kosten bemessen

Wie bereits beschrieben, haben Grundsicherungsleistungsbeziehende oft nicht die Möglichkeit, ihren Energielieferanten frei zu wählen und sind daher auf die teureren Grundversorger angewiesen. In einigen Jobcentern ist es daher bereits Praxis, die Grenzen Angemessenheit bei den Heizkosten nicht auf Grundlage einer preislichen Obergrenze, sondern anhand des Verbrauchs (in kWh) zu bemessen. Die Kosten der verbrauchten Heizenergie sind dann immer in Höhe der aktuellen tatsächlichen Energiepreise zu erstatten. Auf diese Weise wird auch die Entwicklung der Energiepreise unmittelbar bei den zu gewährenden Leistungen für Unterkunft und Heizung abgebildet. Diese Praxis ist als verbindliche Regelung für alle Leistungsträger der Grundsicherung (SGB II, SGB XII, AsylbLG) gesetzlich zu verankern.

  • 2.  Herausnahme der Bedarfe für Haushaltsenergie aus dem Regelbedarf und Berücksichtigung als Kosten der Unterkunft

Stromkosten entstehen im Zusammenhang mit Wohnen, ohne Strom ist eine Wohnung nicht bewohnbar. Sie sind daher auch als Kosten der Unterkunft zu berücksichtigen und analog zu den Heizkosten (vgl. § 22 Abs. 1 SGB II bzw. § 35 Abs. 1 SGB XII) in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen anzuerkennen, soweit sie angemessen sind.

  • 3. Berücksichtigung von Heizungs- und Stromkosten beim Wohngeld

Stromkosten entstehen im Zusammenhang mit Wohnen, ohne Strom ist eine Wohnung nicht bewohnbar. Sie sind daher auch als Kosten der Unterkunft zu berücksichtigen und analog zu den Heizkosten (vgl. § 22 Abs. 1 SGB II bzw. § 35 Abs. 1 SGB XII) in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen anzuerkennen, soweit sie angemessen sind.

  • 4.  Förderung von Energieeffizienz

Energieeffizientes Wohnen sollte auch für Geringverdienende und Beziehende von Grundsicherungsleistungen möglich sein. Die Anerkennung höherer Unterkunftskosten (bei niedrigeren Heizkosten) nach dem Beispiel des „Bielefelder Klimabonus“[7]wäre dafür ein interessanter Ansatz.

Auch sind öffentliche Förderprogramme zur Anschaffung energieeffizienter Elektrogeräte und Beratungsangebote zum Energiesparen für einkommensarme Haushalte, wie bspw. des „Stromspar-Check“[8] auf- bzw. auszubauen.

  • 5. Energiesperren stoppen     

Energiesperren verursachen Situationen, in denen ein menschenwürdiges Leben und Wohnen nicht mehr möglich ist. Die Praxis der Energiesperren muss daher unverzüglich gestoppt und die Grundversorgung mit Strom und Heizung grundsätzlich gewährleistet werden. Der Übernahmeanspruch von Energieschulden ist im SGB II und SGB XII als Rechtsanspruch auszugestalten.

Will die zukünftige Regierung aus SPD, Grünen und FDP den Worten ihres Sondierungspapiers Taten folgen lassen und ein System sozialer Sicherung schaffen, das „die Bürgerinnen und Bürger in den Stationen ihres Lebens unterstützt, Teilhabe ermöglicht, vor Armut schützt und Lebensrisiken absichert“[9], müssen umgehend die gesetzlichen Grundlagen geschaffen werden, um Energiearmut in diesem Land abzuschaffen.

 

 

Literatur- und Quellenverzeichnis:

Aigeltinger, G.; Heindl, P.; Liessem, V.; Römer, D.; Schwengers, C.; Vogt, C. (2015):  Zum Stromkonsum von Haushalten in Grundsicherung: Eine empirische Analyse für Deutschland. Abrufbar unter: https://ftp.zew.de/pub/zew-docs/dp/dp15075.pdf [12.11.2021]

Bleckmann, L.; Luschei, F.; Schreiner, N.; Strünck, C. (2016): Energiearmut als neues soziales Risiko? Eine empirische Analyse als Basis für existenzsichernde Sozialpolitik. Abschlussbericht über das von der Hans-Böckler-Stiftung geförderte Projekt Nr. 2013-654-4. Universität Siegen. Siegen. Abrufbar unter: https://www.boeckler.de/pdf_fof/97606.pdf [12.11.2021]

Bundesnetzagentur 2020: Monitoringbericht 2020. Monitoringbericht gemäß § 63 Abs. 3 i. V. m. § 35 EnWG und § 48 Abs. 3 i. V. m. § 53 Abs. 3 GWB. Stand: 1. März 2021. Abrufbar unter:           https://www.bundesnetzagentur.de/SharedDocs/Mediathek/Berichte/2020/Monitoringbericht_Energie2020.pdf?__blob=publicationFile&v=8 [12.11.2021]

Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft e.V. (2021):  BDEW-Strompreisanalyse. Juni 2021. Haushalte und Industrie. Abrufbar unter: https://www.bdew.de/media/documents/BDEW-Strompreisanalyse_no_halbjaehrlich_Ba_online_10062021.pdf [12.11.2021]

Bundesverband Neue Energiewirtschaft (2020): Stellungnahme. Energiearmut. Position zu Stromsperren und zugehörigen sozialen Fragen. Abrufbar unter: https://www.bundestag.de/resource/blob/676950/1a9832351ce7317239b355b5d46be766/sv-busch-data.pdf [12.11.2021]

Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband – Gesamtverband e.V. (2021): Die Regelsätze müssen steigen! Ergebnisse einer Meinungsumfrage im Auftrag des Paritätischen Gesamtverbandes. Abrufbar unter: https://www.der-paritaetische.de/fileadmin/user_upload/Fachinfos/doc/umfrage-hartz4_2021.pdf [12.11.2021]

Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. (2019): Problemanzeige des Deutschen Ver-
eins zur Bemessung des Bedarfs an Haushaltsenergie und des Mehrbedarfs bei dezentraler Warmwasserbereitung in Haushalten der Grundsicherung und Sozialhilfe – Lösungsperspektiven. Abrufbar unter: https://www.deutscher-verein.de/de/uploads/empfehlungen-stellungnahmen/2019/dv-07-18_bemessung-mehrbedarf-warmwasser-grundsicherung_loesungsperspektiven.pdf [12.11.2021]

Heindl,P.; Löschel, A. (2016): Analyse der Unterbrechungen der Stromversorgung nach §19 Abs. 2 StromGVV. Gutachten im Auftrag des Bundesministeriumsfür Wirtschaft und Energie. Mannheim. Abrufbar unter: https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Downloads/A/analyse-der-unterbrechungen-der-stromversorgung-nach-19-abs-2-stromGVV.pdf?__blob=publicationFile&v=4 [12.11.2021]

Lenze, A. (2021): Verfassungsrechtliches Kurzgutachten zur Fortschreibung der Regelbedarfsstufen nach § 28a SGB XII zum 1.1.2022. Abrufbar unter: https://www.der-paritaetische.de/fileadmin/user_upload/Schwerpunkte/Armut_abschaffen/doc/Kurzgutachten_Lenze_09.2021.pdf [12.11.2021]

Tews, K. (2013): Energiearmut definieren, identifizieren und bekämpfen – Eine Herausforderung der sozialverträglichen Gestaltung der Energiewende Vorschlag für eine Problemdefinition und Diskussion des Maßnahmenportfolios. FFU-Report 04-2013. Abrufbar unter: https://www.researchgate.net/publication/263238146_Energiearmut_definieren_identifizieren_und_bekampfen_-_Eine_Herausforderung_der_sozialvertraglichen_Gestaltung_der_Energiewende_Vorschlag_fur_eine_Problemdefinition_und_Diskussion_des_Massnahmenportfo [12.11.2021]

 

Anmerkungen:

[1] Vgl. Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft e.V. (2021)

[2] Vgl.: Bleckmann, L. et al (2016)

[3] Vgl. z.B.: Aigeltinger, Get al (2015); Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. (2019); Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband – Gesamtverband e.V. (2021), Lenze, A. (2021)

[4] Bundesnetzagentur (2020), S. 27

[5] Heindl,P.; Löschel, A. (2016), S. 30

[6] Vgl.: Bleckmann, L. et al (2016), S.10f

[7] Vgl. Tews, K. (2013), S. 44f

[8] Vgl. https://www.stromspar-check.de

[9] Ergebnis der Sondierungen zwischen SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP; abrufbar unter:
https://cms.gruene.de/uploads/documents/Ergebnis-der-Sondierungen.pdf

 

 

 

 

Quelle und weitere Infos: https://tacheles-sozialhilfe.de/

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