Gesetz gegen den Manchesterkapitalismus

FlickrVon Peter Kern

Ein Lieferkettengesetz ist überfällig. Es muss unbedingt die Vereinigungsfreiheit als ein unabdingbares Bürgerrecht gelten. Erst wenn das Gesetz diese Freiheit garantiert, wird nicht laxes nationales Recht irgendwo auf der Welt das deutsche Recht brechen.

Leder zu gerben und zu verarbeiten, ist mit viel Chemie verbunden. Wer gerbt, riskiert seine Gesundheit. Um dieser Gefahr zu begegnen, war einmal die Gewerkschaft Leder gefragt. Längst sind die Lederverarbeitung und die Schuhindustrie im großen Stil in Billiglohnländer abgewandert. Eine Gewerkschaft Leder hätte dort viel zu tun. In großen Bottichen bearbeiten Minderjährige mit nackten Füßen und ohne Handschuhe die für Schuhe, Jacken und Taschen nötigen Tierhäute. Sich der Chemielauge auszusetzen, ist Teil ihres Arbeitslebens. Das ganze Leben dieser Kinder endet früh. „Von denen lebt keins länger als bis 30 oder 35. Allein schon die Dämpfe.“

Arbeitsbedinungen, die an das 19. Jahrhundert erinnern

Der Satz stammt von Gerd Müller, dem Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, der mit Hubertus Heil, dem Arbeitsminister, ein sogenanntes Lieferkettengesetz auf den Weg bringen will. Den Weg versperrt ein allerdings ein weiteres Kabinettsmitglied: Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier. Er kann dem Gesetz wenig, eigentlich gar nichts abgewinnen. Dass gar kein Lieferkettengesetz kommt, ist aber unwahrscheinlich; denn zu groß ist der Druck, der von den Umweltverbänden, Menschenrechtsorganisationen, DGB- Gewerkschaften und den Betriebsräten der Großkonzerne ausgeht. Auch haben die Vereinigten Staaten, Großbritannien, Frankreich, Australien ein solches Gesetz; die Welt ist dort nicht untergegangen.

Das geplante Lieferkettengesetz nennt Ingo Kramer, Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände weltfremd. Es sei „die Axt am bisherigen Erfolgsmodell der deutschen Wirtschaft“, kommentiert der Vorsitzende des Sachverständigenrats der deutschen Wirtschaft. Die Herren bilden mit Herrn Altmaier die Avantgarde der Gesetzeskritiker. Dahinter versammelt sind die Branchenverbände, der Deutsche Anwaltverein, die IHK und die FDP. Die Präsidentin der deutschen Textil- und Modeindustrie nennt das geplante Gesetz absurd. An den für ihren Industriezweig profitablen Verhältnissen möchte sie nichts geändert sehen.

Die sehen nämlich so aus: Eine Näherin in Bangladesch schuftet bis zu 80 Wochenstunden bei einem monatlichen Mindestlohn von 95 Dollar. Ihrer Kollegin in Indien geht es nicht besser. „Morgens um Acht hat die junge Inderin noch Kraft. Mittags bekommt sie eine Schale Reis, Wasser. ‚Abends ist mein Kopf auf den Werktisch gesunken. Dann kam der Aufseher und hat sich über mich gebeugt, mich an den Haaren hochgezogen.‘ Bis sechs Uhr am nächsten Morgen musste sie durcharbeiten. Dann zwei Stunden Schlaf. Um acht Uhr ging es weiter. ‚So war es immer, bekamen wir Aufträge aus Europa.'“ (FAZ, 15.06.2019). Die Lage in der südindischen Garnindustrie steht der von Friedrich Engels 1845 beschriebenen Lage der Arbeiterklasse in England kaum nach.

Das von dem Arbeits- und dem Entwicklungsministerium initiierte Gesetz will die Unternehmen verpflichten, ihre Lieferkette im Hinblick auf Menschenrechtsverstöße zu analysieren. Im Falle solcher Verstöße sollen sie für Abhilfe sorgen. Geschädigte Beschäftigten stünde der zivilrechtliche Klageweg offen. Sieht so ein Katalog aus, der ein ordentliches Unternehmen überfordert? Die von den Kritikern des Gesetzentwurfs vorgebrachten Argumente sind leicht zu widerlegen.

Produktqualitäten werden genau geprüft, Arbeitsbedingungen lieber nicht

Kein deutsches Unternehmen muss befürchten, für Verstöße gegen Menschenrechtsnormen, begangen im zweiten oder dritten Glied seiner Lieferkette, zu haften. Das Gesetz sieht dies wohl gar nicht vor. Kritik wäre hier angebracht, aber nicht, weil die Haftung droht, sondern weil sie fehlt. Haften soll ein Unternehmen mutmaßlich nur für den Geschäftsvorgang, der ihn mit seinem direkten Lieferanten verbindet. Schon hier rufen die Unternehmensverbänden Zeter und Mordio. Ein Konzern müsste sich dann die Fabrik seines ersten Zulieferers, des contract manufacturer, genauer anschauen. Gibt es dort beispielsweise Notausgänge? Dass solche Fluchtwege fehlten, hat über Hundert für KiK und C&A nähenden Textilarbeiterinnen den Tod gebracht. So in Dhaka, Bangladesch, vor acht Jahren.

Haftungspflichten blockt die Arbeitgeber-Lobby mit dem Argument ab, keiner der Ihren könne seine komplexe Zulieferstruktur überblicken. Dabei wird kein Vorfabrikat im Ausland verarbeitet, das nicht den geforderten ISO- und sonstigen Normen entspricht; die qualitätsbewusste deutsche Industrie duldet keinen Pfusch. Inhumanen, den Menschenrechtsnormen widersprechenden Pfusch bei den Arbeitsverhältnissen duldet sie durchaus. Barcodes, RFID’s, QR-Codes und entsprechende Datenbanken machen den Weg jedes Bauteils transparent. Aber die Arbeitsbedingungen der Produzierenden sperrten sich gegen Transparenz? Absurd, um obige Präsidentin zu zitieren. Die Stiftung Warentest hat schon vor zehn Jahren in ihre

Testergebnisse neben technischen auch menschenrechtliche Maßstäbe einfließen lassen.
Verwässerung des geplanten Gesetzes droht auch bezüglich der für es maßgebenden Betriebsgröße. Ab 500 Beschäftigten soll es gelten, so steht es im Gesetzentwurf – erst ab 5.000 ist die Ansage aus Altmaiers Ministerium. Das gleiche Ministerium feiert regelmäßig den deutschen Mittelstand und seine Betriebe als das Rückgrat der deutschen Industrie. Ein Lieferkettengesetz möchte man aber bitteschön ohne Rückgrat haben. Setzt sich der Wirtschaftsminister durch, fallen ganze 250 Unternehmen unter das Gesetz – von über drei Millionen in Deutschland.

Der Gesetzentwurf orientiert sich an den sogenannten Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation, einer Unterorganisation der Vereinten Nationen. Diese Normen geben das Mindestmaß vor, was sich gehört: Keine Kinder für sich arbeiten lassen, niemand seiner Herkunft, seiner Religion, seines Geschlechts wegen diskriminieren und den Beschäftigten die Vereinigungsfreiheit zugestehen. In den 2000er-Jahren haben sich alle nennenswerten deutschen Konzerne einen Code of Conduct genannten Verhaltenskodex feierlich zugelegt, der die genannten Grundsätze umfasste – bis auf einen: Die Vereinigungsfreiheit war wenig gelitten; wer will sich schon Gewerkschaften ins eigene Haus holen? Die schöne Erklärung hat man pressewirksam verkündet und auf die Firmenwebsite gestellt. Was die Firmen damals versprachen, ist in etwa das, was ihnen die Herren Heil und Müller heute abverlangen. Nur wollen die Minister aus der Selbstverpflichtung ein mit Klagerecht bewehrtes Gesetz machen. Und sie wollen den Beschäftigten das Koalitionsrecht zugestehen. Beides ruft den Widerstand der Unternehmer hervor.

152 Millionen Kinder sind weltweit zur Arbeit gezwungen

Die Vereinigungsfreiheit gibt abhängig Beschäftigten das Recht, zusammenzustehen und sich wechselseitig zu verpflichten, ihre Arbeitskraft nicht unter einem verabredeten Preis zu verkaufen. Hugo Sinzheimer, der den Gewerkschaften verbundene große Verfassungsrechtler, hat dieses Freiheitsrecht begründet, die deutsche Novemberrevolution hat es durchgesetzt, und von Weimar aus ist es losgezogen und ziemlich weit in der Welt herumgekommen. Aber eben nicht weit genug. Wo es verweigert wird, kann eine Gesellschaft auf den Titel eines bürgerlichen Rechtsstaats keinen Anspruch erheben. Große Teile Asiens, Afrikas und China stehen unter dem Niveau eines Rechtsstaates. Dieses Bürgerrecht dort populär zu machen, wäre höchst verdienstvoll. Deshalb muss die Vereinigungsfreiheit als ein unabdingbares Bürgerrecht gelten, und für ein Lieferkettengesetz als unverhandelbar. Garantiert das Lieferkettengesetz diese Freiheit, wird nationales, also etwa chinesisches Recht das deutsche immer noch brechen; die Unternehmen wären dafür nicht haftbar zu machen, sind sie doch keine Subjekte des Völkerrechts. Aber überall wo das Koalitionsrecht verweigert wird, hätte die verhinderten Gewerkschaftsaktivisten eine Berufungsinstanz.

152 Millionen Kinder sind weltweit zur Arbeit gezwungen, so die Statistik der Internationalen Arbeitsorganisation. Kinderarbeit ist eine im globalen Süden grassierende Seuche. Bis ins späte 19. Jahrhundert war es auch eine Seuche in den Industrienationen. Die Arbeiterschaft war gezwungen, ihre Kinder für zehn, zwölf Stundentage in die Fabriksäle oder in die Bergwerksminen zu schicken. Der Heißhunger nach der ganz jungen Arbeitskraft fand erst ein Ende, als es den Gewerkschaften gelang, so viel Lohn zu erstreiten, dass die Familien ohne das von den Kindern herbeigebrachte Zubrot überleben konnten. Wenn das Lieferkettengesetz zur Existenz freier Gewerkschaften in den Ländern des gegenwärtigen Manchesterkapitalismus seinen Beitrag leistet, erfüllt es seine Funktion.

 

 

 

 

Quelle: https://gegenblende.dgb.de/

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