Gewerkschaftsfreiheit – Ein Menschrecht in Deutschland

Von Rolf Geffken

Nehmen wir an, in einer Oberprima – falls diese Bezeichnung einer Abiturklasse noch üblich ist – wird die Aufgabe gestellt, die Gewerkschaftsfreiheit in Deutschland der Gewerkschaftsfreiheit in China gegenüberzustellen. Wir wissen natürlich nicht, welche Quellen der Lehrer dem Schüler nennt oder empfiehlt. Vielleicht bleibt der Schüler auf die heute so typische „Google­ Recherche“ angewiesen. Doch was er dort zum Thema Gewerkschaftsfreiheit erfährt, sind vorwiegend Hinweise, wo überall in der Welt Gewerkschaftsfreiheit n i c h t existiert. Und sie existiert danach natürlich auch nicht in China. Und in Deutschland?

Natürlich gibt es eine Gewerkschaftsfreiheit hierzulande. Alles ist ja frei in diesem freiesten Land der Welt. So lautet doch die offizielle Melodie. Wir sitzen in der Sonne. Wir haben auch Gewerkschaftsfreiheit. Was denn sonst?

Nur, das Merkwürdige: Was i s t  Gewerkschaftsfreiheit? Zunächst und vor allem: Die Freiheit zur Gründung einer Gewerkschaft und zu ihrer Betätigung. Was finden wir dazu bei Google? Nichts oder kaum etwas.

Der Abiturient wird also auf Allgemeinplätze und Vorurteile zurückgreifen müssen und es wird dem zuständigen Lehrer vermutlich noch nicht mal auffallen, dass er die Frage nach der Gründung und Betätigungsfreiheit nicht präzise beantworten kann.

Würde er dies tun, so würde er eine Büchse öffnen, die so manches Unangenehme für unsere eigenen Illusionen enthielte: Ja, es gibt eine solche Freiheit, aber um sie zu erreichen, muss man Hürden nehmen, die so hoch sind, dass man sie nicht nehmen kann… Wie bitte? Das kann doch in einem Rechtsstaat nicht sein. Und bestimmt ist es auch nicht so. Oder?Gewerkschaften können nicht – anders als politische Parteien – verboten werden in Deutschland. Und ihre Gründung und Betätigung ist – außer im Grundrecht der Koalitionsfreiheit des Art. 9 Abs. 3 GG – auch nicht „geregelt“. D a s hat die Rechtsprechung im Wege der „Rechtsfortbildung“ übernommen.

Spätestens hier wird sich der Abiturient in den Schulbüchern alleingelassen fühlen, denn mit dieser Rechtsfortbildung betritt er ein Argumentationsterritorium, auf dem sich noch nicht einmal durchschnittliche Juristen auskennen und das zudem voller Glatteis und Rutschgefahren ist. Nichts daran ist nämlich so, dass es ein normaler Sterblicher nachvollziehen könnte.

Ja, die Gewerkschaft kann frei gegründet werden. Niemand lizenziert sie. Doch wenn sie gegründet ist, hängt die Betätigung als Gewerkschaft davon ab, ob gegen sie nicht – vor allem von einer Konkurrenzgewerkschaft – ein Statusverfahren bei Gericht eingeleitet worden ist. In diesem Statusverfahren, das nur eine Instanz kennt, geht es dann darum, ob die Gewerkschaft „tariffähig“ ist. Wird ihre mangelnde Tariffähigkeit festgestellt, bleibt die Organisation weiterhin existent, kann sich aber als Gewerkschaft nicht betätigen, also keine Tarifverträge abschließen, nicht zu einem Streik aufrufen, keine eigenen Kandidaten für den Aufsichtsrat aufstellen und auch nicht bei Betriebsratswahlen antreten.

Sie darf also existieren; aber nur auf dem Papier: Man stelle sich vor:

  • Ein Kaninchenzüchterverein darf existieren, aber eben keine Kaninchen züchten.
  • Eine politische Partei darf sich gründen, aber nicht zu politischen Wahlen
  • Ein Staatsbürger hat den Pass eines Landes, hat aber keine Rechte in diesem

Usw. und so fort.

Wie kann es sein, dass trotz angeblicher Gewerkschaftsfreiheit die deutsche Rechtsprechung einen solchen Unsinn vertritt?  Schon nach kurzer Zeit kommen wir zu einer derart provokanten Frage. Wäre unser Abiturient dahin auch nach so kurzer Zeit gekommen? Ungewiss.

Ja, er könnte sagen, Gewerkschaften sind ungleich. DGB-Gewerkschaften genießen schon angesichts ihrer Größe – aber auch vor allem aus Tradition – einen besonderen Schutz. Sie werden nämlich nie für tarifunfähig erklärt und das sei gut so, weil sie besser als andere wüssten, was für die Arbeitnehmer richtig sei und was nicht. Gut. Und das wäre ungefähr auch die gleiche Argumentation, die der chinesische ACFTU für sich in Anspruch nehme, wenn er die Gewerkschaftsfreiheit in China verteidigt und das Monopol des ACFTU rechtfertigt: Man darf sich organisieren, aber nur in der bestehenden Gewerkschaft, denn die ist angesichts ihrer Größe und angesichts der historischen Erfahrungen  der chinesischen Arbeiterklasse die einzig „richtige“ Organisation der Arbeiter.

So ungefähr würde die Begründung in China lauten. Und wie unterscheide sich diese dann von der Begründung für das Gewerkschaftsmonopol der DGB-Gewerkschaften in Deutschland?

Gewiss: Die deutsche Rechtsprechung anerkennt und schützt kein Gewerkschaftsmonopol. Offiziell. Aber damit macht sie sich unglaubwürdiger als die chinesische Seite, die ihre Praxis offen rechtfertigt, während die deutsche Rechtsprechung sich hinter einem Berg von Rechtsvorwänden versteckt.

Welche sind diese?

Kurz gefasst diese: Um eine Gewerkschaft „sein“ zu können, genügt es nicht, sich so zu bezeichnen oder es nur zu wo 11e n. Vielmehr muss man eine gewissermaßen empirisch  nachweisbare „Mächtigkeit“  haben, damit die Arbeitgeber sich gezwungen sehen, mit ihr Tarifverträge abzuschließen.

Ganz so ernst gemeint ist das aber auch nach der Rechtsprechung nicht. Jedenfalls dann nicht, wenn man wieder an die DGB-Gewerkschaften denkt. Da kämpft eine Mitgliedsgewerkschaft des DGB, die sich als „größte Dienstleistungsgewerkschaft der Welt“ bezeichnet, seit sieben Jahren für einen Tarifvertrag bei dem Unternehmen Amazon, aber das Unternehmen sieht sich zu nichts „gezwungen“. Hat das Konsequenzen für die Tariffähigkeit von Ver.di? Natürlich nicht.

Es sind also vor allem die Neugründungen, die sich mit dem „Mächtigkeitserfordernis“ konfrontiert sehen.

Und da trifft man auf die zweite Merkwürdigkeit: Entgegen dem allgemeinen Trend des Mitgliederschwunds muss die Neugründung einen kontinuierlichen Mitgliederzuwachs verzeichnen.

Und die dritte Merkwürdigkeit: Sie muss einen erheblichen Mitgliederzuwachs haben, wenn sie auch nur annähernd  die Größe ihrer Konkurrenz erreichen oder Tarifverträge durchsetzen will. Und ein oder zwei Tarifverträge reichen mit Sicherheit nicht, um die „Mächtigkeit“ zu belegen.

Das Ergebnis ist: Die neu gegründete Gewerkschaft schafft es nicht, zu­mindest nicht, wenn sie sich nicht auf eine bestimmte Berufsgruppe beschränkt, sondern eine ganze Branche organisieren will, in der ohnehin ein niedriger Organisationsgrad existiert. Schlimmer noch: Ist erst einmal die mangelnde Tariffähigkeit dieser neu gegründeten Gewerkschaft gerichtlich festgestellt, dann fliegt sie nicht nur aus den Mitbestimmungsgremien her­ aus, kann keine Tarifverträge mehr abschließen und sieht sich nun – wie die DGB-Gewerkschaften (!) –mit einem Mitgliederrückgang konfrontiert. Vor allem: Je länger die Verfahren dauern, umso schlimmer.

Ich habe das alles durchexerziert für die neu gegründete Gewerkschaft im Versicherungsgewerbe NAG. Und zwar in den Jahren 2014-2020. Es waren über 50 Akten, die den Namen dieser Gewerkschaft trugen. Es war das erste Statusverfahren in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, das nur in einer Instanz abgehandelt wurde. Auf Antrag der Gewerkschaft Ver.di entschied das LAG Hessen nach nur einstündiger Verhandlung am 09.04.2015. 188 Die NAG ist nicht tariffähig. Sie sei nicht „mächtig“. Ob­ wohl bei einer neu gegründeten Gewerkschaft an sich nur eine Prognose über die künftige Entwicklung der Gewerkschaft anzustellen war,189 nahm das Gericht die von der NAG angedeutete Mitgliederentwicklung als wesentliches Faktum und entschied ohne weitere Prognose.

In zahlreichen Veranstaltungen warb ich für eine offene innergewerkschaftliche Diskussion über das Thema. So am 28.05.2016 am Frankfurter Institut für Sozialforschung und am 03.06.2016 auf einem Workshop, zu dem unsere Kanzlei einlud und an dem auch Vertreter der Initiative „Social Peace“ von BMW München und Beschäftigte  und Betriebsräte von VW Emden, Hannover und Braunschweig teilnahmen. Zuvor hatte ich in dem Buch „Streikrecht-Tarifeinheit-Gewerkschaften“, das 2015 erschien, meine Thesen von der Gewerkschaftsfreiheit vorgestellt. Es folgten Vorstellungen auf Veranstaltungen bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Kassel und auf einer Veranstaltung im DGB-Haus Mainz im März 2016.

Die Revision gegen das Frankfurter Urteil wurde nicht zugelassen. Nach der Entscheidung des BAG über die Nichtzulassungsbeschwerde riefen wir das Bundesverfassungsgericht an.

Unterdessen kam es zu zahlreichen Ver­fahren und Entscheidungen bei den Arbeitsgerichten Hamburg, Köln, Düsseldorf und München. Am Sitz diverser großer Versicherungsunternehmen wurde die Zulassung der NAG für die Wahlen zu deren Aufsichtsräten von Ver.di angefochten. Einige Gerichte entschieden ungeachtet der eingereichten Verfassungsbeschwerde, andere – vor allem in München – setzten die Verfahren bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus. Bei einem in München ansässigen Versicherungskonzern kam die Einschaltung eines Schiedsgerichts durch Ver.di hinzu. Ver.di unterließ nichts, was der NAG selbst in dieser Phase ihres juristischen Existenzkampfes schaden konnte. Bereits im Verfahren vor dem LAG Hessen hatte sich das dortige Gericht empört da­ rüber gezeigt, dass Ver.di sogar die Webadresse der NAG imitiert und Besucher der Website an sich weitergeleitet hatte. Ohne Konsequenzen. Eine andere Gewerkschaft, auf deren Liste Mitglieder für den Aufsichtsrat eines Unternehmens kandidierten, wurde massiv vom damaligen Ver.di-Vorsitzenden Frank Bsirske unter Druck gesetzt. Man zog wunschgemäß die Liste zurück. Doch das Arbeitsgericht München ließ sich davon nicht beeindrucken: Für die Rücknahme der Liste war es zu spät. Es waren verzweifelte Rückzugsgefechte der NAG. Es gab Teilerfolge – trotz des Statusverfahrens.

Aber dann drang Ver.di mit ihrem Feststellungsantrag der „Nichttariffähigkeit der NAG“ durch und die demokratisch errungenen Mandate der NAG wurden kassiert. Vor allem bei einem Hamburger und eine Münchner Versicherungskonzern lag die Zustimmung der Beschäftigten bei Betriebsratswahlen weit über denen von Ver.di. Nicht zuletzt auf Grund des unermüdlichen Einsatzes des NAG-Vorsitzenden Marco Nörenberg. Doch diese demokratischen Entscheidungen spielten für Ver.di keine Rolle. Im Gegenteil: Auf diese Weise konnte man eine lästige Konkurrenz loswerden. Auch die Interessen der Beschäftigten, die die NAG im Falle der geplanten Schließung der Lebensversicherungssparte bei ERGO erfolgreich sogar durch einen Streik verteidigt hatte, spielten keine Rolle. Im Gegenteil: Ver.di wies Beschäftigte und Arbeitgeber darauf hin, dass die Teilnahme an dem Streik rechtswidrig sei und zur Entlassung führen könne…

Nach vier Jahren Verfahrensdauer entschied das Bundesverfassungsgericht endlich, wobei es den Beschluss erst zwei Monate nach Abfassung zustellte… Die Verfassungsbeschwerde wurde gar nicht „angenommen.“190 In dem Beschluss des BVerfG tauchte noch nicht einmal der Begriff (!) ,,Prognose“ auf. Damit sah man im Ergebnis die NAG gar nicht als Neugründung mehr an. Ich stellte dazu auf meiner Website fest:

,,Damit bestätigt das BVerfG entgegen seiner bisherigen Rechtsprechung zu neu gegründeten und im Aufbau befindlichen Gewerkschaften den immer wieder von Kritikern erhobenen Vorwurf, dass es in Deutschland für Gewerkschaftsneugründungen faktisch keine Gewerkschaftsfreiheit gibt. Entweder eine Gewerkschaft hat bereits mit ihrer Gründung so viele Mitglieder, dass sie ohne Weiteres Tarifverträge durchsetzen kann, oder sie hat auch kurze Zeit nach ihrer Gründung nicht ausreichend Mitglieder. Den  ersteren Fall gibt es nicht. Im zweiten Fall gibt es keine Tariffähigkeit. Damit wird das Monopol der DGB-Gewerkschaften abgesichert… Die Entscheidung des BVerfG widerspricht aber nicht nur der bisherigen eigenen Rechtsprechung des Gerichtshofs, sondern auch dem Art. 11 der Europäischen Menschenrechtskonvention, denn mit ihrer Hilfe ein faktisches Verbot der Neugründung und Betätigung von Gewerkschaften geschaffen. Das aber widerspricht Geist und Inhalt der EMRK. Die NAG wird zu Recht jetzt den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof anrufen. Die deutsche und in besondere die gewerkschaftliche Öffentlichkeit aber sind aufgerufen, öffentlich die Frage zu vertiefen, ob in diesem Land Gewerkschaften mit zweierlei Maß gemessen werden und ob das Grundrecht der Koalitionsfreiheit aufgegeben werden soll. Es kann nicht angehen, dass von Deutschland aus die fehlenden Gewerkschaftsfreiheiten in China, Weißrussland oder der Türkei beklagt werden, aber hierzulande sogar das höchste Gericht Gewerkschaftsgründungen massiv erschwert. “ 191

Wir haben 2020 den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg angerufen. Abgesehen von vielen formalen Hürden ist der Ausgang des Verfahrens auch aus inhaltlichen Gründen ungewiss, denn die Entscheidungen des EGMR sind erst recht, wenn die deutsche Rechtsprechung betroffen ist, durchaus ein Politikum. Es könnte die gesamte Mächtigkeitsrechtsprechung des BAG gewissermaßen über den Haufen geworfen werden. Wir wissen nicht, ob es dazu kommt. Hinzu kommt, dass die EMRK nach deutscher Rechtsprechung nicht ü b e r deutschem Verfassungsrecht steht und deshalb auch noch die Hürde der innerstaatlichen Umsetzung eines Urteils aus Straßburg zu nehmen wäre.

Wir wissen nur: Solange diese Rechtsprechung nicht gründlich korrigiert wird, gibt es in Deutschland keine Gewerkschaftsfreiheit. Aber dass unser Abiturient – ebenso wie die große Öffentlichkeit unseres Landes – das nicht g l a u b e n wollen, ist das schlimmere Faktum. Die Verletzung des Menschenrechts der Gewerkschaftsfreiheit ist hierzulande einfach unbekannt.

 

Anmerkungen:

188 LAG Hessen 9 TaBV 225/14

189 Geffken, Die junge Arbeitnehmerkoalition im Statusverfahren, in: RdA 2015, 167 ff.

190 BVerfG vom 13.9.2019, 1BvR 1/16

191 https://www.drgeffken.de/einzelansicht-aktuelle-infos/ no_cache=1tx_ttnews%5Btt_news%5D=521

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Der Beitrag stammt aus dem Buch:

 Einspruch im Namen der Arbeit

und wird mit freundlicher Genehmigung des Autors gespiegelt.

Im THK-Verlag erschien Ende Februar 2021 der Erzählband „Einspruch im Namen der Arbeit“ von Dr. Rolf Geffken. Das Buch enthält 30 Geschichten aus dem Anwaltsleben eines Angehörigen der 1968er Generation, der sich vor allem mit den Sorgen und Nöten arbeitender Menschen befasste. Das Buch ist zugleich ein Buch über die Geschichte der westdeutschen Bundesrepublik seit Anfang der 1970er Jahre und des vereinigten Deutschlands seit 1990. Die Berichte und Erinnerungen kreisen immer um den vielfältigen, widersprüchlichen, oft erfolgreichen aber auch erfolglosen und doch dann lehrreichen Kampf ums Recht. Und immer sind die Geschichten authentisch.

Das Buch hat 380 Seiten, ist bebildert und enthält ein Vorwort von Gregor Gysi sowie ein Namensregister. Es kostet € 19,80 und kann beim Verlag, im Buchhandel aber auch direkt beim Verfasser unter ratundtat@drgeffken.de bestellt werden. Lieferanschrift nicht vergessen !