The Great Reset: Der große Neuanfang des Kapitalismus

Von Hermann Lueer

Die im Januar 2021 auf dem Weltwirtschaftsforum offizielle gestartete »Initiative des sogenannten „Great Reset“ stützt sich auf die Vision und das enorme Fachwissen der in den Gemeinschaften des Forums engagierten Führungspersönlichkeiten und hat eine Reihe von Dimensionen, um einen neuen Gesellschaftsvertrag zu schaffen, der die Würde jedes Menschen achtet.« (1)

Klaus Schwab, der Gründer und geschäftsführende Vorsitzende des Weltwirtschaftsforums, charakterisiert die Initiative folgendermaßen:

»COVID-19 hat unseren Übergang in das Zeitalter der Vierten Industriellen Revolution beschleunigt. Wir müssen sicherstellen, dass die neuen Technologien in der digitalen, biologischen und physischen Welt weiterhin den Menschen in den Mittelpunkt stellen und der Gesellschaft als Ganzes dienen, indem sie allen einen fairen Zugang ermöglichen … Diese globale Pandemie hat auch wieder gezeigt, wie sehr wir miteinander vernetzt sind. Wir müssen ein funktionierendes System intelligenter globaler Zusammenarbeit wiederherstellen, das strukturiert ist, um die Herausforderungen der nächsten 50 Jahre zu bewältigen. Der „Great Reset“ wird von uns verlangen, alle Stakeholder der globalen Gesellschaft in eine Gemeinschaft mit gemeinsamen Interessen, Zielen und Handlungen zu integrieren … Wir brauchen ein Umdenken, den Übergang vom kurzfristigen zum langfristigen Denken, den Übergang vom Aktionärskapitalismus zur Verantwortung der Stakeholder. Ökologische, soziale und Good Governance müssen ein angemessener Teil der Rechenschaftspflicht von Unternehmen und Regierungen darstellen.« (2)

Gegen die schöne Vorstellung dieser Initiative lässt sich Folgendes einwenden:

1. Der Kapitalismus treibt den technischen Fortschritt voran, indem er zugleich die Quellen allen Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.

Dass der Mensch keine Ware sein soll, unterschreibt noch jeder. Auch das Gesundheitswesen wollen viele nicht den privatwirtschaftlichen Kalkulationen überlassen. In diesem Zusammenhang ist durchaus bekannt, dass das Streben nach Profit im Gegensatz zur Versorgung steht.

Während im praktischen Leben Konsens darin besteht, dass es unsinnig ist, ein Ziel anzustreben, indem man einen dem Ziel entgegengesetzten Zweck verfolgt, ist aber genau dieser Widerspruch die Leitlinie der marktwirtschaftlichen Gesellschaftsordnung. Anstelle von Kooperation soll in der Marktwirtschaft die Konkurrenz wie mit einer unsichtbaren Hand bewirken, dass der Zweck der privaten Bereicherung allen im Sinne einer optimalen Versorgung zugutekommt.

Die Unsinnigkeit dieser Vorstellung, über das Streben nach Profit ließe sich der Wohlstand für die Gemeinschaft verwirklichen, wird augenfällig, wenn man einen Blick auf das soziale Elend wirft, dass die Geschichte der marktwirtschaftlichen Gesellschaftsordnung begleitet. Unterernährung, kein Zugang zu sauberem Wasser, bittere Armut und elende Arbeitsbedingungen sind trotz der Wunder der Technik des 21. Jahrhunderts für Milliarden von Menschen zur Normalität der globalisierten Marktwirtschaft geworden.

Jahr für Jahr fliehen Millionen in Richtung der in der marktwirtschaftlichen Konkurrenz erfolgreichen Länder, in denen Kinderarmut und Altersarmut auch keine Fremdworte sind. Parallel zur gesellschaftlichen Spaltung in arm und reich nimmt ebenso die Zerstörung der Umwelt immer bedrohliche Ausmaße an.

Karl Marx hat über die wissenschaftliche Analyse von Ware, Geld und Kapital die Grundlagen und Gesetzmäßigkeiten des kapitalistischen Produktionsverhältnisses offengelegt. Er hat gezeigt, dass die Entwicklung der kapitalistischen Produktion eine fortwährende Steigerung des in einem Unternehmen angelegten Kapitals zur Notwendigkeit macht, und dass die Konkurrenz jedem individuellen Kapitalisten die immanenten Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise als äußere Zwangsgesetze auf herrscht. Die Konkurrenz zwingt ihn, sein Kapital rücksichtslos gegen den Arbeiter und die Natur auszudehnen, um es zu erhalten.

Demgegenüber verweisen die Anhänger der Marktwirtschaft gerne auf den technischen Fortschritt, der beginnend mit der industriellen Revolution innerhalb von 150 Jahren unermesslichen Reichtum ermöglicht hat. Entgegen weit verbreiteter Ansicht ist dieser jedoch keineswegs die besondere Leistung der kapitalistischen Konkurrenz.

Der technische Fortschritt ist ein Resultat des menschlichen Verstandes und der gesellschaftlichen Arbeitsteilung. Wo der Gewinn der Maßstab der Produktion ist, kommt technischer Fortschritt nur dort zustande, wo er sich in lohnende Geschäfte umsetzen lässt.

Bezogen auf diesen Maßstab sind die Arbeiter und die Natur lediglich Kostenfaktoren in der Investitionsrechnung, ebenso wie die Produkte nur in Hinblick auf die Zahlungsfähigkeit der Bevölkerung entwickelt werden. Rücksichtnahme auf die Arbeits- und Umweltbedingungen, auf die Gesundheit und Versorgung der Bevölkerung ist in der am Maßstab der Gewinnerzielung ausgerichteten Kalkulation ein Hindernis für den technischen Fortschritt. Das kapitalistische Produktionsverhältnis ist lediglich die Form, in der technischer Fortschritt in der Konkurrenz um die Marktanteile rücksichtslos gegen den Arbeiter und die Natur vorangetrieben wird.

»Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.« (3)

2. Der bürgerliche Staat begrenzt und reguliert die Schädigungen an Mensch und Umwelt, um das kapitalistische Produktionsverhältnis, das die Schädigungen verursacht, zu erhalten.

Dass es in der zweihundertjährigen Geschichte des Kapitalismus nicht dazu gekommen ist, die Quellen alles Reichtums zu zerstören, ist das Verdienst des bürgerlichen Staates. Der bürgerliche Staat ist nicht parteilich für den individuellen Erfolg einzelner Kapitalisten, sondern interessiert am Erfolg seiner Wirtschaftsordnung. Er ist die von den Bürgern getrennte selbstständige Instanz, die mit keinem besonderen Interesse identisch ist und nur deswegen von allen anerkannte Gewalt, weil er das sogenannte Gemeinwohl als übergeordnetes staatliches Interesse gegen die Privatsubjekte durchsetzt.

Indem er im Unterschied zum absolutistischen Staat allen seinen Untertanen die Grundrechte von Freiheit und Gleichheit sowie das Recht auf Eigentum garantiert, verpflichtet er alle Bürger auf die Austragung der ökonomischen Konkurrenz, deren grundsätzliches Resultat von vornherein feststeht: die gleiche Behandlung der mit unterschiedlichen Mitteln ausgestatteten Marktteilnehmer führt notwendig dazu, dass die Ungleichheit fortbesteht und wächst, zum Vorteil der Produktionsmittelbesitzer und zum bleibenden Nachteil der Mehrheit der mittellosen Bevölkerung.

Der Nutzen der durch das staatliche Gewaltmonopol geschützten Freiheit des Eigentums liegt in der Konkurrenz um das Eigentum an Produktionsmitteln damit ganz bei den Erfolgreichen. Die Scheidung von Lohnarbeit und Kapital vollzieht in diesem gewaltsamen Ausschlussverhältnis allein die freie Konkurrenz auf dem Markt.

Indem der bürgerliche Staat seine Gewalt zum Schutz von Person und Eigentum einsetzt, stellt er zugleich sicher, dass die Konkurrenz zwischen den gegensätzlichen Interessen in der Gesellschaft ohne Gewalt ausgetragen wird, das heißt, dass von keiner Seite Übergriffe auf die Person und das ihr gehörige Eigentum stattfinden.

So bekommt der Verkäufer ein Recht auf sein Geld und der Käufer auf die ordnungsgemäße Ware, der Arbeitgeber auf Arbeitsleistung und -produkt und der Arbeitnehmer auf seinen Lohn und den gesetzlichen Arbeitsschutz.

Im Sinne der kapitalistischen Wirtschaftsordnung übernimmt der bürgerliche Staat damit die Aufgabe, den Eigentümern der Produktionsmittel die allgemeinen Voraussetzungen ihrer Konkurrenz bereitzustellen (Gesetzgebung, Rechtsprechung inklusive der polizeilichen bzw. militärischen Durchsetzung sowie allgemeine Infrastrukturleistungen einschließlich der Wissenschaft) und sorgt als Sozialstaat zugleich auch für die Erhaltung der Klasse, die über keine eigenen Produktionsmittel verfügt, damit sie als Mittel des Eigentums tauglich bleibt (Gesundheits- und Bildungswesen sowie Zwangsversicherungen gegen die vollständige Mittellosigkeit durch Arbeitslosigkeit, Krankheit und Alter).

Gegenüber den kapitalistischen Interessen, die die Arbeitskräfte und die Natur in ihrer Konkurrenz rücksichtslos ausbeuten, setzt der bürgerliche Staat so »den Standpunkt durch, dass bei deren Benutzung sowohl auf Nachhaltigkeit der Ressource Arbeitskraft zu achten ist, wie die Interessen zu wahren sind, die den Fortbestand der gesamten Gesellschaft betreffen. Das „Recht der Allgemeinheit“ beinhaltet also die „Vernunft“, die zum Fortbestand dieser kapitalistischen Gesellschaft nötig ist und die die kapitalistischen Unternehmer in ihrer Konkurrenz um Gewinn nicht aufbringen (können).« (4)

3. Aufgrund der infolge der kapitalistischen Wirtschaftskrisen zunehmenden Finanznot leistet sich der bürgerliche Staat den Widerspruch, die für die Aufrechterhaltung des Kapitalismus erforderlichen Staatsfunktionen in einem immer größeren Umfang zu privatisieren.

Die kapitalistische Wirtschaftskrise ist eine eigenartige Krise! Alle materiellen Reichtümer und Produktionsmittel sind in ihr unverändert vorhanden und dennoch wächst die Verarmung der Bevölkerung bis hin zur Massenverelendung.

Der Grund ist keine Naturkatastrophe. Der physische Reichtum der Gesellschaft wurde in der kapitalistischen Krise nicht vernichtet. Es wurde nicht zu wenig produziert, sondern im Verhältnis zur Zahlungsfähigkeit der Bevölkerung zu viel. Die Wirtschaft leidet nicht an einem Mangel an Produktionspotenzial, sondern an Überkapazitäten. Überkapazitäten – zu viel Reichtum – ist das Phänomen kapitalistischer Wirtschaftskrisen, in der die Einkommensverhältnisse in Widerspruch zur Entwicklung der Produktivkräfte geraten.

In der kapitalistischen Eigentumsordnung, in der nicht die Bedürfnisse der Individuen und nicht die Existenz der Produktionsmittel entscheidend sind, sondern die individuelle Zahlungsfähigkeit und die Aussicht auf ein lohnendes Geschäft für die Produktionsmittelbesitzer, bewirkt zusätzliche Zahlungsfähigkeit die Anwendung der ohne diese Zahlungsfähigkeit brachliegenden privatisierten Produktionsmittel.

Mehr zur Verfügung stehendes Geld und damit mehr Zahlungsfähigkeit bedeutet in der Marktwirtschaft mehr Wachstumspotenzial, weniger Geld reduziert das Wachstumspotenzial.

Das im Kreditvertrag zum Ausdruck kommende Zahlungsversprechen ist in der Marktwirtschaft das entscheidende Wundermittel, um die die gesellschaftlichen Produktivkräfte begrenzenden Einkommensverhältnisse zeitweilig zu überwinden, d. h. um über die Grenzen der real erwirtschafteten Einkommen hinaus das für den Kapitalismus notwendige Wachstum zu finanzieren.

Privatisierte Produktionsmittel, die ohne Zahlungsfähigkeit brachliegen, werden über eine aus dem Vertrauen in die Kreditwürdigkeit geschöpfte Zahlungsfähigkeit in Bewegung gesetzt. Mit einer im Prinzip endlosen Kette von Zahlungsversprechen lassen sich so Wirtschaftsaktivitäten und Vermögenswerte erzeugen, für die es ohne die kreditierte Zahlungsfähigkeit keinen marktwirtschaftlichen Grund gegeben hätte.

Dieser gesellschaftliche Irrsinn – die Produktion wird nicht über die Bedürfnisse und arbeitsteiligen Fähigkeiten der Gesellschaftsmitglieder und die von ihnen entwickelten Produktivkräfte bestimmt, sondern über die für das lohnende Privatgeschäft vorhandenen Zahlungsfähigkeit – bleibt nicht ohne Folgen. Nicht nur in der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich, sondern ebenso in Hinblick auf die kapitalistische Wirtschaftskrise, in der plötzlich zu viel Reichtum im Verhältnis zur vorhandenen Zahlungsfähigkeit den Ruin der Gesellschaft bedeutet.

Der Widerspruch, dass die »Arbeitnehmer« erst Geld verdienen müssen, bevor sie kaufen können, und die »Arbeitgeber« nur dann Arbeitskräfte kaufen, wenn für sie Aussicht auf erfolgreichen Verkauf besteht, lässt sich zwar zeitweilig im Sinne des Aufschwungs mithilfe von Zahlungsversprechen auflösen. Letztlich steht und fällt der über die Kreditgeldschöpfung beflügelte Aufschwung jedoch mit dem Vertrauen in das zukünftige Geschäft.

Die Spekulation auf zukünftig erfolgreiche Geschäfte muss sich, wenn auch zeitversetzt, immer wieder als real erweisen, sonst wachsen in der Tat nur die Schulden, und der Reichtum, den sie versprechen und verbuchen, wird zunehmend illusionär. Kommt es zu einem sich verallgemeinernden Vertrauensverlust in den zukünftigen Geschäftserfolg, will plötzlich jeder Geld statt Kredit sehen, und da im Kapitalismus die Gleichung gilt: ohne Geld keine Zahlungsfähigkeit, ohne Zahlungsfähigkeit kein Geschäft, ohne Geschäftsaussichten keine Produktion, werden selbst vorhandene Produktionskapazitäten stillgelegt und die Verarmung der Bevölkerung wächst neben Überkapazitäten.

Faule Kredite mit staatlichen Garantien stützen und neue Kredite fördern, ist das widersprüchliche und zugleich alternativlose wirtschaftspolitische Programm, mit dem im Rahmen der kapitalistischen Eigentumsordnung die Krise überwunden werden kann, »indem zugleich allseitigere und gewaltigere Krisen vorbereitet und die Mittel, den Krisen vorzubeugen, vermindert werden.« (5)

In Zuge der Krisen der letzten Jahrzehnte stieg so die weltweite Verschuldung im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung stetig an und führte im Anschluss an die globale Finanzkrise von 2009 dazu, dass selbst Länder wie Italien und Spanien an den Rand des Staatsbankrotts gerieten.

Um den in diesem Zusammenhang drohenden Zusammenbruch des globalen Finanzsystems zu verhindern, testet die Geldpolitik in einigen Staaten bereits bis zu dem Punkt des bisher Undenkbaren die äußersten Grenzen ihrer makroökonomischen Politik, indem sie über ihre Zentralbanken mit selbst geschöpften Geld im großen Stil als Anleihekäufer auftritt, um mit den darüber durchgesetzten Niedrigzinsen die für das kapitalistische Wirtschaftsleben existenzielle Liquidität aufrechtzuerhalten.

Bereits seit Ende der Siebzigerjahre gelingt es infolge dieser Entwicklung selbst in den meisten erfolgreichen kapitalistischen Nationen nicht mehr, die regulierenden Staatsfunktionen aus den Überschüssen ihrer Wirtschaft zu finanzieren.

Parallel zum kontinuierlichen Schuldenaufbau ist die umfassende Privatisierung klassischer Staatsfunktionen daher zum erforderlichen Mittel der Haushaltssanierung geworden. Angefangen bei der Privatisierung grundlegender Infrastrukturleistungen über das Bildungs- und Gesundheitswesen bis zur Wissenschaft, die inzwischen ihre Mittel zu großen Teilen über private Auftraggeber akquirieren muss, wächst so auch bezogen auf das „Gemeinwohl“, das als übergeordnetes staatliches Interesse gegen die Privatsubjekte durchgesetzt werden muss, der Einfluss privatwirtschaftlicher Interessen. (6)

Im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie ist die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ein aktuelles Beispiel für die Interessenkonflikte, die aus der Kombination von staatlicher Finanznot auf der einen Seite und der Finanzmacht multinationaler Konzerne auf der anderen Seite erwachsen.

Die 1948 zunächst auf der Grundlage der Pflichtbeiträge der Mitgliedstaaten gegründete WHO finanziert ihre Projekte inzwischen zu wesentlichen Teilen über Spenden privater Stiftungen, die wiederum an den Konzernen der Pharmaindustrie beteiligt sind, die über die zum großen Teil zweckgebundenen Spenden im Rahmen von öffentlich-privaten Partnerschaften von diesen Projekten profitieren.

4. Das Corona-Virus trifft angefangen bei der Nahrungsmittelindustrie über die Pharmaindustrie, das Gesundheitswesen und die Altenpflege bis hin zur Wissenschaft auf eine an marktwirtschaftlichen Kriterien ausgerichtete Gesellschaft.

Von der Massentierhaltung über schädliche Inhaltsstoffe in Nahrungsmitteln bis zu ungesunden Arbeitsbedingungen und Umwelteinflüssen fördert die am Gewinn orientierte Marktwirtschaft diverse Krankheiten, die wiederum die Grundlage für das Geschäft des privatisierten Gesundheitswesens bilden.

Wer beispielsweise nach einem naturwissenschaftlichen Studium in der Produktentwicklung der Pharmaindustrie ins Berufsleben einsteigt, dem wird spätestens hier sofort beigebracht, dass nicht die Funktionalität der verschiedenen Produkte, sondern ihr Wert der entscheidende Maßstab für die Produktentwicklung ist. Er muss also lernen, dass Gebrauchsgegenstände als Waren einen Doppelcharakter bekommen. Sie sind nützliche Gegenstände und Werte.

Während arbeitsteilig organisierte Arbeit zunächst nichts anderes als verschiedene Quantitäten und Qualitäten von Gebrauchsgegenständen erzeugt, kommt über das Eigentumsverhältnis parallel zum konkreten Gebrauchsgegenstand der Tauschwert in die Welt und damit der in der Marktwirtschaft an den Gebrauchsgegenstand herangetragene Maßstab seiner Verkaufbarkeit.

Für die in keinem unmittelbar kooperativen gesellschaftlichen Zusammenhang stehenden Eigentümer von Produktionsmitteln interessieren die produzierten Gebrauchsgegenstände nur als Träger des Tauschwerts. In der Warenproduktion wird folglich die konkrete Beschaffenheit des Gebrauchsgegenstandes degradiert zum bloßen Mittel für den Verkauf.

Für die Forscher und Entwickler in den produzierenden Betrieben sind die Folgen dieser gegenüber ihrem naturwissenschaftlichen Studium geänderten Zwecksetzung alles andere als unerheblich. Ihre Aufgabe besteht in einer warenproduzierenden Gesellschaft darin, verschiedene Sorten verkaufbarer Waren zu entwickeln: billige und teure, qualitative hochwertige und minderwertige, gesunde und ungesunde.

Wäre der Zweck die gesellschaftliche Bedürfnisbefriedigung anstelle der privaten Bereicherung, würde niemand auf so einen Unsinn kommen. Als Mittel für den Verkauf wird dagegen zweckmäßig kalkuliert. Die Qualität der Waren lässt sich auf vielfältige Weise verkaufsgerecht modifizieren.

Für das privatisierte Gesundheitswesen ist es in der Marktwirtschaft zweckmäßig, sich auf die Symptombehandlung zu konzentrieren, statt einen Beitrag zur Überwindung der Krankheitsursachen zu liefern. Die Konkurrenz um den Geschäftserfolg gibt vor, wo sich Forschungs- und Entwicklungsaufwand lohnt und wo nicht.

Der Zweck der Produktion ist also alles andere als unerheblich für das Resultat und keineswegs lediglich ein geschickter Umweg zum gleichen Ziel.

  • Wenn in einer warenproduzierenden Gesellschaft Anti-Aging-Salben anders als Medikamente gegen Tropenkrankheiten auf eine zahlungsfähige Nachfrage stoßen, ist es marktwirtschaftlich unsinnig, wertlose Tabletten gegen irgendwelche Durchfallerkrankungen zu entwickeln.
  • Wenn sich Lebensmittel mit diversen chemischen Geschmacks- und Farbstoffen erfolgreich vermarkten lassen, ist es marktwirtschaftlich unsinnig, vitaminhaltigere und damit gesündere, aber gemessen am Maßstab der Verkaufbarkeit eventuell wertlose Lebensmittel zu produzieren.
  • Wenn in Afrika die Produktion von Schnittblumen für den Export lukrativ ist, ist es marktwirtschaftlich unsinnig, wertloses Getreide für die zahlungsunfähige lokale Bevölkerung anzupflanzen.
  • Wenn sich die Lebensdauer der Produkte bezogen auf die von der Konkurrenz gebotene Garantiezeit begrenzen lässt, ist es marktwirtschaftlich unsinnig, wertlosen Aufwand in eine bessere Produktqualität zu investieren.
  • Wenn sich gentechnisch verändertes Saatgut patentieren lässt, ist es marktwirtschaftlich unsinnig, den Bauern selbst vermehrbares Saatgut zu überlassen.

Was gemessen am Maßstab der Versorgung der Menschen völlig unsinnig ist, kann gemessen am Maßstab der Wertproduktion durchaus vernünftig sein. In einer warenproduzierenden Gesellschaft wird in diesem Sinne vorhandenes Wissen um die erforderlichen Produktionsverfahren patentrechtlich gegen seine Verbreitung und Anwendung durch andere geschützt. Selbst in einer Pandemie können daher Impfstoffe oder Medikamente nicht einfach allen Menschen zur Verfügung gestellt werden.

In einer Gesellschaftsform, in der nicht miteinander auf der Grundlage gemeinsamer Produktionsmittel, sondern gegeneinander als konkurrierende Privateigentümer produziert wird, wäre die kostenlose Weitergabe von Ergebnissen der privaten Forschungsarbeiten in der Tat der sichere Ruin des einzelnen Produzenten.

Geistiges Eigentum – andere vom vorhandenen Wissen gewaltsam auszuschließen – gilt in einer am Maßstab der Wertproduktion ausgerichteten warenproduzierenden Gesellschaft daher auch nicht als asozial, sondern schlicht als notwendig. Marktwirtschaft funktioniert nicht ohne Copyright.

Die marktwirtschaftliche Konkurrenz funktioniert auch nicht ohne Werbung und umfangreiche Verkaufsorganisationen. Dass es in der schillernden Marketing- und Werbebranche nicht um die Bereitstellung nützlicher Informationen geht, ist kein Geheimnis. Sonst würde nicht an mehr als jedem zweiten Briefkasten »Bitte keine Werbung einwerfen« kleben und die Werbeblöcke im Fernsehen und Radio würde bekanntlich auch niemand vermissen.

Der in den Milliardenbeträgen zum Ausdruck kommende gesellschaftliche Aufwand, der in die Marketing- und Werbeaktivitäten investiert wird, dient vielmehr der Beeinflussung der Kaufentscheidung sowie der Erzeugung von Bedürfnissen, die es ohne den Werbeaufwand vielleicht gar nicht gäbe.

Von regelmäßigen Facelifts bei Automodellen, Modekampagnen der Bekleidungsindustrie, verführerischen Präsentationen cooler alkoholischer Getränke für Jugendliche und Livestyle-Werbung für Zigaretten lassen sich die konkurrierenden Hersteller mit tatkräftiger Unterstützung der Werbebranche einiges einfallen und überziehen so die gesamte warenproduzierende Gesellschaft bis in den letzten Winkel mit Plakaten und Videospots, um das eigene Geschäft gegenüber den Konkurrenten zu fördern.

Das permanente Trommelfeuer der im Dienst der Produktionsmittelbesitzer arbeitenden Marketing- und Werbefachleute bildet die Grundlage, auf der dann Heerscharen von Verkäufern und Verkäuferinnen ihre parteiliche Kundenberatung starten.

Angefangen bei den Forschungs- und Entwicklungsabteilungen über Produktmanagement und Marketing bis zu den Vertriebsorganisationen beschäftigt sich so in der Marktwirtschaft ein Großteil der Menschen mehr mit Fragen des Verkaufs als mit Fragen der Versorgung der Gesellschaftsmitglieder.

Dass beispielsweise in der Pharmaindustrie der Forschungsaufwand nur einen Bruchteil der im Vergleich hierzu in Werbung und Vertrieb getätigten Investitionen ausmacht, ist daher auch keine Ausnahme, sondern die Regel in der Konkurrenz um die Marktanteile und bedarf zugleich der aufwendigen staatlichen Überwachung, um die zerstörerischen Folgen dieser Geschäftspraktiken im für die Wirtschaftsordnung vertretbarem Rahmen zu halten.

Pfizer, das zweitgrößte Pharmaunternehmen der Welt, akzeptierte beispielsweise 2009 eine Strafe von 2,3 Milliarden US-Dollar wegen wiederholter betrügerischer Werbepraktiken, da es nach Angaben der US-Justiz unter anderem Ärzte gedrängt hatte, Schmerzmittel für Behandlungen zu verschreiben, für die sie nicht zugelassen waren.

5. »The great reset of capitalism« ist das Ideal des globalisierten Kapitals im Rahmen der United Nations im Sinne des ideellen Gesamtkapitalisten die Schädigungen an Mensch und Umwelt auf neuer Grundlage zu regulieren, um das kapitalistische Produktionsverhältnis, das diese Schädigungen verursacht, zu erhalten.

Im Kapitalismus ist die Bedürfnisbefriedigung der Gesellschaftsmitglieder Mittel zum Zweck der Vermehrung des eingesetzten Kapitals der Produktionsmittelbesitzer. Bezogen auf den Reichtum der kapitalistischen Gesellschaft ausgedrückt bedeutet dies: Der Tauschwert der Produkte ist der Zweck, für den ihre Nützlichkeit das Mittel ist. Über diesen doppelten Charakter der Waren gerät die Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte im Kapitalismus in fortwährenden Konflikt mit ihrem Zweck, der Vermehrung des vorhandenen Kapitals. Steigt nämlich die gesellschaftlich durchgesetzte Produktivität, so sinkt zugleich die auf die gesellschaftlich erforderliche Arbeitszeit bezogene Wertgröße der nun produktiver hergestellten Produkte.

»Derselbe Wechsel der Produktivkraft, der die Fruchtbarkeit der Arbeit und daher die Masse der von ihr gelieferten Gebrauchswerte vermehrt, vermindert die Wertgröße dieser vermehrten Gesamtmasse, wenn er die Summe der zu ihrer Produktion notwendigen Arbeitszeit abkürzt.« (7)

Je größer die gesellschaftliche Produktivität, desto kleiner die zur Herstellung einer Ware notwendige Arbeitszeit, desto geringer der Wert der Ware, auf den es in der kapitalistischen Produktion allein ankommt. Verringern sich aber infolge des in Konkurrenz gegeneinander vorangetriebenen Produktivitätsfortschritts die gesellschaftlich notwendigen Herstellungskosten, reduzieren die Unternehmen zugleich ihren Umsatz und den auf diesen bezogenen Gewinn.

Was in einer auf die Bedürfnisse der Gesellschaftsmitglieder bezogenen Produktion den Reichtum der Gesellschaft steigern würde – ein Produkt kann mit der Hälfte der Arbeitszeit produziert werden –, reduziert den gesellschaftlichen Reichtum bezogen auf den Maßstab kapitalistischer Produktion. Dieser spezifisch kapitalistische Widerspruch – die Maßnahmen zur Steigerung des Kapitalwachstums verringern dieses zugleich – lässt sich nur über einen ständig erweiterten Produktausstoß kompensieren.

Kapitalistische Unternehmen müssen daher wachsen und dieser Wachstumszwang führt dazu, dass die Unternehmen den Widerspruch kapitalistischer Produktion beständig vorantreiben.

Über die Zyklen von Boom und Krise ist das Kapital in der Konkurrenz um Kostenführerschaft und Marktanteile gezwungen, im Rahmen der Produktivitätssteigerung mit der Entlassung von Arbeitskräften und der Intensivierung der Arbeit die Lohnstückkosten zu senken, während gleichzeitig der Zweck der Geldvermehrung auf die Ausnutzung der Zahlungsfähigkeit der Gesellschaftsmitglieder angewiesen ist.

Die Entwicklung der Produktivkräfte, die auf der Grundlage gemeinschaftlicher Produktionsmittel ein Segen ist, gestaltet sich daher im Rahmen kapitalistischer Eigentumsverhältnisse zum Fluch: Weniger notwendige Arbeit bedeutet bezogen auf den Zweck der Kapitalvermehrung nicht gleicher Lebensstandard mit mehr Freizeit, sondern weniger Zahlungsfähigkeit für die, denen gekündigt wurde und darüber im Zuge der kapitalistischen Krise Überkapazitäten neben der zunehmenden Verarmung der Bevölkerung. Oder wie Karl Marx es in den Grundrissen seiner Kapitalismuskritik ausdrückte:

»Das Kapital ist selbst der prozessierende Widerspruch dadurch, dass es die Arbeitszeit auf ein Minimum zu reduzieren strebt, während es andererseits die Arbeitszeit als einziges Maß und Quelle des Reichtums setzt.« (8)

Angesichts dieses sich entwickelnden Widerspruchs kapitalistischer Produktion träumen die Anhänger der Marktwirtschaft vom „Great Reset“.

»Die Ankündigung des „Grossen Neustartes“ wurde von S.K.H. The Prince of Wales und Professor Schwab während eines virtuellen Treffens (des World Economic Forums) gemacht, gefolgt von Erklärungen des UN-Generalsekretärs António Guterres und der geschäftsführenden Direktorin des IWF Kristalina Georgieva. Ihre Aussagen wurden von Stimmen aus allen Stakeholdergruppen der Weltgesellschaft unterstützt … „Der Grosse Neustart“ ist eine Verpflichtung, gemeinsam und dringend die Grundlagen unseres Wirtschafts- und Sozialsystems für eine gerechtere, nachhaltigere und widerstandsfähigere Zukunft zu schaffen. … Er erfordert einen neuen Gesellschaftsvertrag, in dessen Mittelpunkt Menschenwürde und soziale Gerechtigkeit stehen. … „Um unsere Zukunft zu sichern und Wohlstand zu schaffen, müssen wir unser Wirtschaftsmodell weiterentwickeln und die Menschen und den Planeten in den Mittelpunkt der globalen Wertschöpfung stellen.“ sagte S.K.H. der Prinz von Wales. … „Ein ‚Great Reset‘ ist notwendig, um einen neuen Gesellschaftsvertrag aufzubauen, der die Würde jedes Menschen ehrt“, fügte Schwab hinzu.« (9)

Die deutsche Bundeskanzlerin fand angesichts dieser kapitalistischen Herausforderung in ihrer Rede auf dem World Economic Forum beruhigende Worte:

»Sie haben das Motto „The Great Reset“ gewählt; das ist das diesjährige Thema. Ich frage einmal: Brauchen wir wirklich einen „Great Reset“ oder ist es nicht eher so, dass wir einen Neuanfang weniger hinsichtlich der Zielsetzungen und mehr hinsichtlich der Entschlossenheit unseres Handelns brauchen? … mein Fazit … Es gibt ein Sprichwort des deutschen Schriftstellers Erich Kästner, das lautet: „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es. „« (10)

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Quellen und Anmerkungen:

(1) World Economic Forum: The Great Reset. Auf https://www.weforum.org/great-reset (abgerufen am 12.11.2021).

(2) World Economic Forum (News Release): The Great Reset: Ein einzigartiger Zwillingsgipfel zu Beginn des Jahres 2021. Auf https://www3.weforum.org/docs/WEF_The_Great_Reset_AM21_German.pdf (abgerufen am 12.11.2021).

(3) Karl Marx: Das Kapital; Bd. 1, S. 529f

(4) Renate Dillman, Adrian Schiffer-Nasserie: Der soziale Staat. Über nützliche Armut und ihre Verwaltung (VSA 2018, S. 177).

(5) Karl Marx, Friedrich Engels: Manifest der kommunistischen Partei (MEW 4, S. 468).

(6) Vgl. hierzu: Hermann Lueer, Zur Ökonomie der Corona-Pandemie. Auf http://www.kapitalismuskritik.eu/content/texte/ (abgerufen am 12.11.2021).

(7) Karl Marx: Das Kapital, Bd.1 (Dietz Verlag Berlin 1971, S. 61).

(8) Karl Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (MEW 42, S. 601).

(9) World Economic Forum (News Release): The Great Reset: Ein einzigartiger Zwillingsgipfel zu Beginn des Jahres 2021. Auf https://www3.weforum.org/docs/WEF_The_Great_Reset_AM21_German.pdf (abgerufen am 12.11.2021).

(10) Presse- und Informationsamt der Bundesregierung: Rede von Bundeskanzlerin Merkel anlässlich des Davos-Dialogs des World Economic Forum am 26. Januar 2021 (Videokonferenz). Auf https://www.bundeskanzlerin.de/bkin-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-anlaesslich-des-davos-dialogs-des-world-economic-forum-am-26-januar-2021-videokonferenz–1844594 (abgerufen am 12.11.2021).

 

 

 

Der Beitrag erschien am 12.11.2021 auf https://neue-debatte.com/ und unterliegt der Creative Commons Lizenz (CCO).
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