„Unser Land zuerst!“ Heisser Herbst oder nationale Einheitsfront?

Von Suitbert Cechura

Deutschland überrascht mit einer neuen Protestkultur: „Wir“ stehen gemeinsam für einander ein, wozu „die da oben“ auch ihren Beitrag leisten sollen. Unisono wird den Bürgern von allen Seiten vorgeführt, wie sehr ihnen die Preissteigerungen in Zukunft das Leben schwer machen. Ganz so, als ob sie das nicht bereits jeden Tag an den Kassen der Supermärkte und Tankstellen oder in den Mitteilungen der Vermieter wie Energieanbieter präsentiert bekommen würden. Medien und Politiker ergehen sich in Warnungen vor einem heissen Herbst, während die verschiedensten Organisationen zu Aktionen und Demonstrationen aufrufen und zum Protest mobilisieren.

Fragt sich nur, gegen wen die Aktionen sich eigentlich richten sollen und wovor da gewarnt wird.

„Unser Land zuerst!“

Mit dieser Parole treten die AfD und die mit ihr verbündeten Organisationen an und machen damit gleich deutlich, wofür sie einstehen: für Deutschland! Also sind sie alles andere als Systemgegner, als welche sie immer wieder dargestellt werden. Sie sehen, ganz systemtreu, das Wohl der Nation durch die Regierung in Gefahr gebracht und werben damit für sich – als politische Alternative. Also ein typisches Oppositionsargument, wobei auch ihre Forderungen weitgehend mit denen anderer Organisationen übereinstimmen:

„Die Bundesregierung muss dafür sorgen, dass Gas in ausreichender Menge zu bezahlbaren Preisen für uns zugänglich ist, egal woher. Das wäre eine interessengeleitete Politik, von der alle profitieren. Deshalb sagen wir, deutsche Interessen statt Wirtschaftskrieg.“ (Timo Chrupalla, AfD) Die Forderung nach bezahlbaren Energiepreisen ist keine Besonderheit der AfD. Sie findet sich in vielen Aufrufen, denn darüber, dass die Versorgung taugliches Geschäftsmittel ist und zu sein hat, herrscht Konsens im Lande. Was „bezahlbar“ bedeutet, darüber lassen sich die meisten, die diese Floskel im Munde führen, nicht gross aus. Aber klar ist: An Zahlung führt kein Weg vorbei, was auch heisst, dass die Kosten für Energie viele Bürger angesichts ihres beschränkten Budgets zu Einschränkungen zwingen.

Mit dem Zusatz „egal woher“ will die AfD wohl zum Ausdruck bringen, dass auch russisches Gas eingekauft werden soll. Eine Mahnung, die die Ampel-Regierung nicht benötigt. Hat sie doch darauf gesetzt, dass Russland trotz Sanktionen weiter sein Gas brav und billig nach Deutschland liefert – so dreist wird der Dienst des Feindes in Anspruch genommen und dann geklagt, dass „kein Verlass“ auf ihn ist.

Das „egal woher“ hat zudem den grünen Wirtschaftsminister und den sozialdemokratischen Kanzler bei ihren Besuchen einschlägiger Diktatoren im Nahen Osten geleitet, als es darum ging, neue Gasquellen für Deutschland zu erschliessen. Da wurden dann auch schnell die eigenen Kraftsprüche dementiert, die immer wieder die unüberbrückbare Front von Demokraten gegen Autokraten beschwörten.

Wenn der AfD-Sprecher von interessengeleiteter Politik spricht, hat er nicht einfach die Interessen der „kleinen Leute“ im Auge, also derjenigen, die Energie für ihren Haushalt benötigen und sich mit der Bezahlung schwer tun. Denn davon, dass alle gleichmässig von bezahlbarer Energie profitieren, kann ja keine Rede sein. Bei den meisten geht es um das Ausmass der Einschränkungen, die nötig werden, bei anderen ist bezahlbare Energie Geschäftsmittel, durch das sie ihren Gewinn steigern. Mit „alle“ meint der AfD-Mann eben Deutschland, also eine Nation, die wirtschaftlich potent und politisch handlungsfähig ist – und mit dem Wirtschaftskrieg sieht er deren Stellung in der Welt gefährdet. Das macht denn auch gleich die Äusserung seines Stellvertreters deutlich:

„Die Schäden der Energiefalschpolitik werden in die Billionen gehen – und vielfach irreversibel sein, weil Firmen abwandern! Deindustrialisierung, Massenarbeitslosigkeit, Verarmung, ja Verelendung sind die Folgen. Die Regierung agiert zutiefst asozial!“ (Peter Boehringer, AfD)

Dass der Staat für billige Energie zu sorgen hat, damit sich Geschäfte in Deutschland lohnen, von denen hierzulande alles abhängig gemacht ist und bei deren Scheitern Arbeitslosigkeit und Verelendung drohen, auch dieser Gedanke ist keine Besonderheit der AfD. Diese Klage findet sich vor allem in Gewerkschaftskreisen.

Die Besonderheit der AfD besteht darin, dass sie die Ursache für die aktuellen Preissteigerungen benennt und kritisiert: den Wirtschaftskrieg gegen Russland, der nach Aussagen der grünen Aussenministerin Russland „ruinieren“ soll. Diese wirtschaftliche Konfrontation als Krieg zu bezeichnen, ist jedoch in Deutschland verpönt. Eine solche Banalität läuft schon unter Dissidententum.

Die deutschen wirtschaftlichen Schädigungen der russischen Wirtschaft werden offiziell unter dem Stichwort „Sanktionen“ geführt – was zwar sachlich gesehen nichts anderes als einen Wirtschaftskrieg meint, aber gleich die Schuldfrage für diese nicht minder robuste Schädigung des Gegners beantworten soll. Wer dann daraus ableitet, dass Deutschland „den Krieg will“, ist auf jeden Fall ein Dissident, der in der politischen Öffentlichkeit nichts verloren hat.

Sanktionen sollen eben als Strafen für ein unrechtmässiges Verhalten Russlands gesehen werden. Der Einmarsch in die Ukraine – ein Vorgang, den die USA hundertfach zu ihrer üblichen Praxis zählen und der von den Leitmedien auch meist ohne grosse Aufregung gerechtfertigt wird – soll sich durch nichts rechtfertigen lassen. Das russische Vorgehen sei in jeder Hinsicht indiskutabel, sein Anführer eine „irrer“ „Kriegsverbrecher“… Mit der Klärung der Schuldfrage soll auch klargestellt sein, dass alle Schäden, die die Bürger hierzulande durch die massiven Preissteigerungen erleiden, nicht durch die Sanktionen, sondern durch die Gegenwehr Russlands verursacht sind. Und wer das in Frage stellt – wie die AfD –, der ist ein Putin-Versteher oder Putin-Freund und stellt sich damit ebenfalls ausserhalb jeder Diskussion.

Die Kritik der AfD richtet sich gegen den Wirtschaftskrieg, weil sie den Nutzen für Deutschland nicht entdecken kann, sondern nur Schäden. Mit der Forderung „Unser Land zuerst“ macht sie eine Anleihe bei der Parole „America first“, die nicht nur Donald Trump praktiziert. Der Wirtschaftskrieg gegen Russland stellt für die AfD eine Unterordnung Deutschlands unter die Nato und damit unter Amerika dar, die zum Schaden des Landes gerät. Deshalb die Betonung deutscher Interessen gegenüber den Bündnispartnern, was an sich nichts Ungewöhnliches ist (und bei jedem EU-Treffen stattfindet), was aber hier eine Aufkündigung der bisherigen Politik bedeuten soll und von daher auf Widerstand stösst.

„Solidarisch durch die Krise“

Hinter diese Parole des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes schart sich eine ganze Gruppe von Organisationen wie attac, Bund, campact, Finanzwende, GEW, Greenpeace, Verdi und Volkssolidarität. Wem die Solidarität gilt, stellt der Aufruf auch gleich klar: „In diesem Herbst treffen uns die Folgen von Putins Angriffskrieg mit voller Wucht: Viele von uns wissen nicht, wie sie Gas- und Stromrechnungen bezahlen sollen. Etliche haben sogar Angst, ihre Wohnung zu verlieren und vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen zu werden – weil alles teurer wird, Löhne und Transferleistungen reichen nicht mehr aus. In dieser Krise stehen wir solidarisch an der Seite der Ukraine. Doch wir brauchen jetzt eine solidarische Politik auch bei uns, die gleichzeitig die Weichen stellt, um die Abhängigkeit von fossilen Energien beenden.“ (https://www.solidarischer-herbst.de)

Wer schuld ist an den ruinösen Preissteigerungen ist damit erst einmal klargestellt – Putin – und damit ist die Regierung als Mitverursacher aus der Schusslinie. An sie richtet sich die Bitte, die Armen im Lande nicht zu vergessen. Wenn dies als Forderung nach solidarischer Politik auftritt, dann ist damit impliziert, dass alle ihr Scherflein zur Krisenbewältigung beizutragen haben: die Schwachen, indem sie sich einschränken – siehe Schäubles letzte Tipps für den Winter: zwei Pullover und Kerzen –, die Starken, die auf Teile ihrer Rendite verzichten – indem etwa, wenn‘s hoch kommt, der „Übergewinn“ besteuert wird und nur der „Normalprofit“ übrig bleibt.

Die Massnahmen, das fällt den Protestierern noch eigens ein, sollen zudem die Abhängigkeit von fossilen Energien beenden – was nichts anderes bedeutet, als dass Deutschland sich endlich unabhängig von ausländischen Energiequellen macht. Eine Zielsetzung übrigens, die die Ampel-Regierung sowieso im Programm hat!

In das gleiche Horn stösst auch die Vertretung der deutschen Arbeitsfront, pardon: der vereinigten deutschen Gewerkschaftsmacht in Gestalt des DGB: „Echt gerecht – solidarisch durch die Krise.“ (DGB-Bundesvorstand) Nicht ohne ebenfalls die Schuldfrage zu klären: „Die Sanktionen gegen den russischen Angriffskrieg in der Ukraine sind gerechtfertigt und notwendig. Wir brauchen eine aktive Politik, um die Folgen des Krieges und der Corona-Pandemie zu bewältigen und gleichzeitig die notwendigen Weichenstellungen für eine gute Zukunft vorzunehmen.“ (DGB)

Es ist schon seltsam, wenn der DGB eine aktive Politik fordert, ganz so, als ob die Regierung passiv geblieben wäre. Sie hat doch an den acht Sanktionspaketen gegen Russland eifrig mitgestrickt, die den Bürgern nun die Preissteigerungen bescheren. Was damit anklingt, ist der national gefärbte Verdacht, dass diese Politik nicht erfolgreich genug dabei sein könnte, Schäden vom Land und damit von seinen Bewohnern abzuwehren. Es ist eben immer der Traum jeder Kriegspartei, dass Schäden nur den Gegner treffen sollen.

In den Chor derer, die Solidarität fordern und damit meinen, dass in der Krise genau so die Reichen zur Kasse gebeten werden sollten, stimmt auch die Partei Die Linke ein: „Die Preise für Lebensmittel, Strom und Gas gehen durch die Decke. Aber viele Konzerne machen mit Krieg und Krise extra Gewinn. Der Club der Superreichen wird grösser: Manche gewinnen immer, wenn die Regeln nicht geändert werden. Wir sagen: Es reicht! Strom, Heizen, Lebensmittel, Bus und Bahn müssen bezahlbar sein. Die Regierung muss dafür sorgen, dass die Entlastung von den Preissteigerungen sozial gerecht ist und Ungleichheit zurückdrängt.“

So radikal sich die Linke auch gibt und eine Änderung der Regeln fordert, an den Grundfesten dieser Gesellschaft, in der alles Mittel des Geschäfts ist, will sie genau so wenig rütteln wie die anderen Bedenkenträger. Und so reiht sie sich denn auch ein in die Bittsteller, die von der Regierung, die den Wirtschaftskrieg betreibt, dafür sorgen soll, dass die Bürger es nicht zu spüren bekommen. Dass Unternehmen Gewinne machen, also aus ihrem Geld mehr Geld erwirtschaften, ist für die Partei kein Thema, ebenso wenig richtet sich die Kritik gegen Deutschlands Kriegsbeteiligung. Kritikabel ist hingegen, dass es Kriegsgewinnler gibt, die aus dem Krieg Extra-Gewinne erzielen. Darin sieht sie einen Verstoss gegen das nationale „Wir“, dem auch die Linke frönt. Dafür soll der Staat sich an den Gewinnen der Superreichen bedienen. Ob die so abgeschöpften Gelder den Bedürftigen zugute kommen, steht dann auf einem ganz anderen Blatt.

Der Staat lässt sich (nicht) bitten

Noch bevor überhaupt nennenswerte Aktionen stattgefunden haben, ist die Regierung längst aktiv: Schliesslich sieht sie auch in den Preissteigerungen eine Bedrohung für die deutsche Wirtschaft, aus deren Erfolg Deutschland seine Macht bezieht, und zudem für das Zurechtkommen seiner Bürger. Hier muss gehandelt werden, selbst ganz unkonventionell, wie auf einmal an den kursierenden Ideen zur Verstaatlichung abzulesen ist. Die Bürger werden schliesslich nicht nur als Arbeitskräfte, sondern auch für staatliche Funktionen wie den Dienst in der Bundeswehr oder an der Kinderaufzucht gebraucht. Also gilt es tätig zu werden, damit sie funktionstüchtig bleiben und irgendwie über die Runden kommen können. Dass dies eine weitere Verarmung grosser Teile der Bevölkerung bedeutet, ist in der Öffentlichkeit auch kein Geheimnis. Denn bei einem gedeckelten Gaspreis soll ja der Anreiz zum Sparen erhalten bleiben, wie es so schön heisst, wenn die Leute gezwungen werden, sich wegen ihres beschränkten Budgets einzuschränken.

Ja, sogar vor der erwähnten Idee einer Abschöpfung von „Übergewinnen“ macht der Staat nicht halt. Sie laufen auch unter dem Titel „Zufallsgewinne“, obgleich sie nicht zufällig zu Stande gekommen sind. Schliesslich hat die Politik den Energiemarkt so gestaltet, dass die einschlägigen Konzerne dann besonders hohe Gewinne machen können, wenn viel Energie gebraucht wird und auch das letzte Kraftwerk ans Netz geht. Und das Geschäft mit Energie kann sich natürlich nicht nach dem jeweiligen Strombedarf richten, der auch mal wieder sinkt, denn nur ein ständig genutztes Kraftwerk wirft satten Gewinn ab. Damit es dennoch immer ausreichend Energie gibt, sichert der Staat den Unternehmen den Gewinn auch bei Stillstand von Kraftwerken zu.

Also ein kurzes, trostloses Fazit: Die meisten Forderungen derer, die zu Aktionen aufrufen, sind bereits erfüllt, bevor die Akteure überhaupt antreten. Und die Adressaten können sich dafür bedanken, dass ihnen ihre eigenen Forderungen als Echo aus dem Volksgemurmel wieder entgegen schallen. Zudem geht es der Mehrheit der Aktiven, die sich auf Plätzen, Strassen oder Unterschriftenlisten einfinden, ganz besonders um den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Der muss gewährleistet sein – die Heimatfront braucht Geschlossenheit, 1914 firmierte das als Bekenntnis zum „Burgfrieden“ –, Zwist und Hader dürfen die Nation nicht spalten. Der Protest läuft also darauf hinaus, dass alles so bleibt, wie es ist, und sich von Hinz und Kunz aushalten lässt: „Ob es im Winter gelingt, unsere Gesellschaft vor dem Auseinanderbrechen zu bewahren und gleichzeitig die klimapolitischen Weichen zu stellen – das hängt entscheidend davon ab, wie viel Solidarität die Ampel einzufordern bereit ist.“ (https://www.solidarischer-herbst.de) Bei so viel Einigkeit in der Sache ist ein heisser Herbst und damit eine Spaltung des gesellschaftlichen Zusammenhalts, die vielfach befürchtet wird, kaum zu erwarten.

 

 

 

 

 

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